Franz Hinkelammert

Wolfgang Jantzen hat einen längeren Text vorgelegt, von dem er sagt, dass er statt einer Rezension in üblicher Kürze eine ausführliche Auseinandersetzung schreiben will zum Buch:

Ulrich Duchrow: „Mit Luther, Marx und  Papst den Kapitalismus überwinden. Hamburg: VSA-Verlag 2017

Da ich mit Ulrich Duchrow vor der Veröffentlichung seinen Text gelesen und diskutiert habe, scheint es mir angemessen, in dieser Auseinandersetzung Stellung zu nehmen. Der Grund ist, dass ich mit  den Argumenten von Jantzen schlechterdings nicht übereinstimmen kann.

Ich will keine umfassende Antwort versuchen, sondern nur einige mir wesentlich erscheinende Punkte herausstellen.

I. Die Bedeutung, die Marx Luther gibt. Ich möchte dies an Hand einer Anzahl von Marxzitaten diskutieren, die ich aus dem Aufsatz von Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung[1]. Ich will mit folgendem Text beginnen:

„Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion.  Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...

Selbst historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch praktische Bedeutung. Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der n, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.“ S.385

Marx geht hier davon aus, von der „Aufhebung“ der Religion zu sprechen. Das Wort nimmt Marx von Hegel. Es bedeutet nicht Abschaffung, sondern die Religion soll auf einer neuen Ebene aufgehoben werden.. Er tut dies durch eine Forderung, die völlig zentral ist für das gesamte Marxsche Denken. Er sagt:

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Da auch Jantzen diesem Satz Bedeutung gibt, möchte ich ihn analysieren. Die erste Hälfte des Satzes spricht vom Menschen als dem höchsten Wesen für den Menschen. Dies sagt ganz so auch Feuerbach und wäre als solches nichts Neues. Erst die zweite Hälfte des Satzes gibt dem gesamten Satz eine spezifische Bedeutung, die weit über Feuerbach hinausgeht: ‚also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.’“

Marx erklärt also diesen kategorischen Imperativ als gleichwertig mit der Behauptung, dass „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist. Dies bedeutet eben, dass die letzten die ersten sein müssen damit der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dies ist das, was man heute in der Befreiungstheologie die Option für die Armen nennt. Marx bezeichnet sie sogar als „kategorischen Imperativ“, was eine Kantkritik beinhaltet. Dieser kategorische Imperativ ist kein Imperativ zur Ableitung von Gesetzen, wie er es bei Kant ist, sondern spricht die Unterwerfung aller Gesetze  unter die Notwendigkeit aus, das Leben aller Menschen in Gerechtigkeit zu sichern.

Von diesem Ausgangspunkt aus sieht er dann die Grenzen dieser lutherischen theoretischen Emanzipation, obwohl der darauf besteht, dass es sich um eine Emanzipation handelt:

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat“  S.386

Das was Luther getan hat, ist auch für Marx eine Emanzipation, und zwar Emanzipation von der äußeren Religiosität. Aber er geht nicht darüber hinaus. Nach Marx wird die Religiösität verinnerlicht und weder überwunden noch emanzipiert. Er sagt daher von Luther: „Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Daraus kann er dann schliessen:

„Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinen eigenen innern Pfaffen, seiner pfäffischen Natur”. S.386

Trotz allem, besteht also Marx darauf, dass der Protestantismus, wenn auch nicht die wahre Lösung, sondern die wahre Stellung der Aufgabe geleistet hat. Marx sagt dann auch, was nach seiner Meinung fehlt: der Kampf mit dem „inneren Pfaffen“ des Menschen. Er spricht daher von dieser Verwandlung des Pfaffen in den inneren  Aber ohne die Revolution des Mönches wäre eben die Revolution im Hirn des Philosophen eben nicht möglich gewesen. Diese Pfaffen stammen durchaus von einer Emanzipation ab , aber einer Emanzipation die die Emanzipierten verwandelt in „die Laienpäpste, die Fürsten samt ihrer Klerisei, den Privilegierten und den Philistern”. (S.386)

Hierdurch „befindet sich das Fürstentum im Kampf gegen das Königtum, der Bürokrat im Kampf gegen den Adel, der Bourgeois im Kampf gegen sie alle…” S. 389

Man kann also sehr verstehen, was der „innere Pfaffe“ ist. Es ist einfach das, was Marx später den Fetisch nennen wird. Aber wenn auch Luther noch nicht die Emanzipation des Menschen entwickeln kann, kann Marx daher sagen:

“Selbst historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch praktische Bedeutung. Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt”. S.385

Der Mönch, von dem er spricht, ist ganz zweifellos Luther, der vor der Reformation Augustinermönch war. Mit ihm beginnt die theoretische Emanzipation, die heute Marx als Philosoph vertritt. Marx sieht sich offensichtlich in einer Tradition, die mit Luther beginnt.

Auf die Revolution des Mönches folgt daher die Revolution vom Hirn des Philosophen aus. Die Revolution beginnt in der Reformation, und die Reformation geht aus von Luther, dem „Mönch“. Dies ist eben nach Marx die wahre Stellung der Aufgabe, die die Reformation sicherte, wenn auch noch nicht die wahre Lösung.

Die wahre Lösung ist für Marx die Emanzipation des Menschen.

Angesichts dieser Kämpfe einschließlich des Kampfes um die Emanzipation  des Bourgeois ergibt sich nach Marx, dass “der Proletarier schon beginnt, sich im Kampf gegen die Bourgeois zu befinden”. (389)

So konnte  Marx auch vorher schon sagen:

so wird die philosophische Verwandlung der pfäffischen Deutschen in Menschen das Volk emanzipieren….” S.386

Genau dies zeigt jetzt Marx als seine Aufgabe als die Aufgabe seiner Zeit.

Es geht also nicht mehr um die Emanzipation von Kategorien des Menschen wie etwa  des Bourgeois und des Individuums als Eigentümer und Geschäftemacher, sondern um die Emanzipation des Menschen selbst als konkretem, lebenden menschlichen Wesens. Dies ist für Marx das „Volk“.

Man wird dann fragen müssen, wo denn in Luther dieser Schritt getan wurde, der die Emanzipation des Menschen zur Notwendigkeit macht, obwohl er sie noch nicht verwirklichen oder sich seine Verwirklichung vorstellen kann.. Mir scheint, dass Marx dies gerade in der Kapitalismuskritik von Luther sieht. Sie zeigt einen Menschen, der einfach Mensch ist, obwohl in der Form des Menschen, der nicht als Mensch anerkannt wird. Es ist der Mensch, der emanzipiert werden muss, dessen Emanzipation aber Luther noch nicht positiv zu fordern in der Lage ist. Dies ist die Aufgabe, die die Reformation stellt, die sie aber noch nicht lösen kann. Es ist die Kritik des Pfaffen, der „innerer Pfaffe“ geworden ist, aber der zur Emanzipation des Menschen kommen muss aber noch nicht kommen kann. Nach Marx hat Luther diese Situation in seiner Kapitalismuskritik aufgezeigt. Hierauf kann dann der Schritt vom Mönch zum Philosophen folgen, der die Emanzipation des Menschen möglich macht. In dieser Situation fühlt sich Marx. Luther hat aus der Sicht von Marx, einen entscheidenden Schritt getan. Er hat eben die Aufgabe formuliert, der sich  die entstehende Moderne stellen musste. Dieser innere Pfaffe ist daher heute die Religion des Marktes, des Geldes und des Kapitals., der gegenüber auch heute noch die Emanzipation des Menschen fortgesetzt werden muss.

Jantzen sagt ganz dezidiert: „Es gibt keinen Weg von Luther zu Marx...“ Aber Marx selbst sagt selbst das Gegenteil, wie wir gesehen haben. Hiervon geht auch Ulrich Duchrow aus, wenn er in seiner Lutherdarstellung die lutherische Kapitalismuskritik zu seinem Zentrum macht.

II. Die Öffnung der Marschen Religionskritik.

Jantzen  versucht ebenfalls, die Marxsche Religionskritik – die Marx später zur Kritik des Fetischismus weiterführte – herauszustellen.

Aber es ist schwer, hier den entsprechenden Zugang zu finden.

Nachdem er darauf hingewiesen hat, dass es angeblich keinen Weg von Luther zu Marx gibt, spricht er davon, dass es wohl einen Weg gibt vom  „vom Humanismus der biblischen Schriften, atheistisch gelesen, zu einem Gottesbegriff ohne jede Form von Theismus: Gott verstanden als die Summe aller guten und humanen Beziehungen untereinander, so Dorothee Sölle in ihren späteren Schriften mit Bezug auf die feministische Theologie von Carter Heyward (1986)“. (8)

Damit führt er den Gottesbegriff von Carter Heyward ein, den er dann noch unterstreicht:

„’Gott ist Liebe – das beständige, unmittelbare Sehnen und Drängen, im gesamten Kosmos Gegenseitigkeit zu inkarnieren.’ Diesen Gott gilt es zu verwirklichen. Diesen Prozess bezeichnet sie als ‚godding’, die Tätigkeit des Verwirklichens Gottes als Kraft der Beziehung in der Verb-Wortschöpfung ‚to god’.“ (8)

Dies hat jedoch nichts mit der marxschen Religionskritik zu tun.. Was die heutige Diskussion ist, scheint Jantzen unbekannt. Dies kann sich daraus erklären, dass diese weiterführende Diskussion der marxschen Religionskritik vor allem in Lateinamerika stattfindet. Aber sie ist seit über 20 Jahren im Gange. Was ihm dabei gleichzeitig entgeht ist die marxsche Religionskritik, wie sie sich in verschiedenen Reflektionen von Franciscus zeigt.

Diese marxsche Religionskritik hat ihren ersten Höhepunkt gefunden in seinem bereits zitierten Aufsatz: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ gefunden. Es geht um die Forderung, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist im Zusammenhang mit seiner These, dass dies nur möglich ist, wenn  sein „kategorischer Imperativ gilt, ", alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...“.

Marx gibt hier ein Kriterium, um über menschliche Gesellschaften zu urteilen. Sie sind nur menschlich in dem Grade, in dem sie diesen Menschen ins Zentrum stellen. Daher müssen sie revolutioniert werden, wenn sie dies nicht tuen. Dieses Kriterium über die Menschlichkeit, dieser Humanismus der Praxis, ist von diesem Moment an  das Kriterium, unter dem Marx seine Welt sieht, interpretiert und zu ihrer Veränderung aufruft.

Dies Kriterium über den Menschen ist gleichzeitig sein Kriterium über alle Religionen. Alle Religionen haben falsche Götter in dem Grade, wie sie den Menschen nicht als höchstes Wesen für den Menschen akzeptieren. Marx spricht aber nicht direkt von falschen Göttern, sondern spricht , jedenfalls etwas später, von Fetischen. Alle Götter sind Fetische oder können so genannt oder darauf reduziert werden, sofern sie nicht den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen anerkennen. Von dieser Kritik sagt er, dass mit ihr die Religionskritik beendet sei.

Fasst man die marxsche Religionskritik auf diese Weise zusammen, so ist sie offensichtlich etwas, das für Marx wohl noch unsichtbar war oder das er nicht erwähnen wollte. Seine Religionskritik hat eine Öffnung, die heute offensichtlich ist. Sie mündet nicht etwa in einen Gottesglauben ein, sondern sie mündet darin ein, dass eine Gottesvorstellung möglich ist und durch die marxsche Religionskritik selbst eröffnet wird, die nicht unter diese Religionskritik fällt. Das ist die Gottesvorstellung, der gemäß  es der Wille Gottes ist, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dies ist offensichtlich die einzige Form,  eine Gottesvorstellung zu entwickeln, die aus der Sicht der marxschen Religionskritik bestehen kann und von dieser Kritik nicht betroffen ist. Diese Religionskritik hat deshalb zwei Dimensionen, denen beiden der marxsche Humanismus der Praxis gemeinsam ist. Die eine bleibt eben atheistisch und die andere entwickelt eine Gottesvorstellung, die diesen Humanismus der Praxis auf ganz ähnliche Weise enthält. Aber beide sind gleich legitim, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der marxschen Religionskritik betrachtet werden. Man kann nicht eine Position gegenüber der andern als die einzige Wahrheit Im Sinne dieser Religionskritik ausspielen.

Tatsächlich gibt sich für dieses Problem ein Geschichte. Als man Buda fragte, ob es einen Gott gibt, sagte er: Dass es Gott gibt ist sicher falsch. Aber, dass es Gott nicht gibt, ist sicher genau so falsch. Dietrich Bonhoeffer sagt fast dasselbe: Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Aber es gibt auch von anderer Seite ganz ähnliche Meinungen. So spricht  Rudolf Bahro davon „durch gemeinschaftliches anderes  Leben “den Kommunismus oder – was dasselbe meint –das ‘Reich Gottes’ tastend vorwegzunehmen.”[2]

Daher konnte auch Hegel sagen, dass es keine Revolution gibt ohne Reformation und die chinesischen Kommunisten sagten sogar: keine Revolution auf der Erde ohne eine Revolution im Himmel. Was auch einschließen müsste: keine Konterrevolution auf der Erde ohne eine Konterrevolution im Himmel.

Wenn man diese Betrachtung anstellt, wird ebenfalls klar, dass die marxsche Religionskritik eine Geschichte hat und nicht einfach aus der Luft gezogen wird. Ihre Geschichte ist Jahrtausende alt und hat sich seit der Idolatriekritik in der jüdischen Geschichte und Kultur und ebenso in der christlichen Geschichte entwickelt. Sie ist immer auch gegenwärtig gewesen, obwohl sie nur selten wirklich ernst genommen wurde. Zur Zeit von Marx war sie im Christentum fast unbekannt. Marx hat sie wiederentdeckt und ganz außerordentlich weiter entwickelt. Sie ist aber heute wieder lebendig geworden und wird für unsere gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dem Neoliberalismus wieder hochaktuell.

Daher taucht sie durchaus ähnlich auch beim jetzigen Papst Franziskus auf. Dass sie heute eben auch etwas Neuen bedeutet, kann man leicht zeigen. In der Enzyklika Lumen fidei des vorhergehenden Papstes Benedikt VI behauptet dieser, dass es in religiösen Auseinandersetzungen um einen religiösen Konflikt zwischen falschen Göttern und dem wahren Gott geht.  Er sagt: 

„Der Glaube ist, insofern er an die Umkehr gebunden ist, das Gegenteil des Götzendienstes und heißt, sich von den Götzen loszusagen, um zum lebendigen Gott zurückzukehren durch eine persönliche Begegnung“.  (Nr. 13)

Dies war schon die Meinung derer, die als Eroberer Amerikas im 16. Jahrhundert einen großen Teil der einheimischen Bevölkerung ermordeten, um ihnen solch einen wahren Gott zu bringen. Was sie hätten bringen müssen, ist gerade, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Das hätte diesen Völkermord sehr schwierig gemacht. Das wäre ein Argument gewesen, aber ein Argument, das die Eroberer wenig interessierte. Sie denunzierten die dortigen Kulturen wegen ihrer Menschenopfer, wollten aber nicht wissen, dass sie ja dieselben Menschenopfer zu Hause dem „wahren“ Gott darbrachten, indem sie Hexen und Ketzer ebenfalls in Massen verbrannten und dazu mit Weihwasser besprengten und das te Deum sangen.

In Evangelii Gaudium dagegen sagt Franziskus, das Gegenteil des Götzendienstes ist nicht der lebendige Gott und auch nicht irgendein wahrer Gott im Gegensatz zu den falschen Göttern, sondern der Mensch. Der Mensch hat den Primat gegenüber den von Menschen gemachten und vergöttlichten (fetischisierten) Werken wie Markt, Geld und Kapital. Franzikus sagt:

„Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirkliches menschliches Ziel“.  Evangelii Gaudium55

Er stellt den Vorrang des Menschen in den Mittelpunkt. Seine Leugnung hat nach Franziskus zum Fetischismus des Geldes und zur Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirkliches menschliches Ziel geführt. Er spricht daher vom vergöttlichten Markt. Aber die Antwort auf den vergöttlichten Markt ist nicht irgendein „wahrer“ Gott, sondern der Mensch, dessen Vorrang geleugnet wird. So ist dann auch für Franziskus in diesem Vorrang des Menschen der Wille Gottes. Das heißt einfach: Gott will, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.

Franziskus sagt dies dann auf folgende Weise:

„Gott wird von diesen Finanzmännern, Wirtschaftsfachleuten und Politikern als nicht beherrschbar angesehen, Gott als nicht beherrschbar, oder sogar als gefährlich, weil er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung und zur Unabhängigkeit von jeglicher Art der Versklavung ruft.“[3]

Kein Zweifel, das ist der Gott, für den der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dieser Gott steht nicht in Konflikt mit der  marxschen, aber auch nicht mit der feuerbachschen Religionskritik. Er ruft den Menschen dazu auf, den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen anzuerkennen: sich selbst zu verwirklichen und sich von aller Sklaverei zu befreien, kein Sklave zu sein und keinen Sklaven zu haben. Diese Selbstverwirklichung ist nicht diejenige, die Nietzsche will. Es ist Selbstverwirklichung im Sinne eines: Ich will, dass du bist. Bei Nietzsche ist es das Gegenteil: Ich bin, wenn ich dich besiege. Die Antwort hierauf ist eben das: Ich bin, wenn du bist. Oder, wie dies Marx ausdrückt: die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung der freien Entwicklung aller. Oder auch: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnisse. Dies ist das genaue Gegenteil von dem, was Frau Merkel sagt, wenn sie verkündigt:  “Die Demokratie muss marktkonform sein.” Für sie ist der Markt das höchste Wesen für den Menschen. Dem entspricht daher auch ihre Politik.

Die ganze Konstruktion von Franziskus  ist der von Marx sehr ähnlich. Franziskus geht  davon aus, was bei Marx die Thesis ist, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Der Papst hingegen spricht vom Vorrang des Menschen, dem er die gleiche Bedeutung gibt. Wenn er dann seine Gottesvorstellung darstellt, spricht er davon, dass Gott den Menschen aufruft  „zu seiner vollen Verwirklichung und zur Unabhängigkeit von jeglicher Art der Versklavung.“ Marx hingegen hatte davon gesprochen, dass der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen  dem Imperativ folgt, alle Verhältnisse Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Auf der einen Seite der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen wirft alle Verhältnisse um, in denen der Mensch  ein verfolgtes Wesen ist. Auf der anderen Seite der Vorrang des Menschen, der sich darin ausdrückt, sich selbst zu verwirklichen indem er gegen alle Formen der Sklaverei vorgeht und sich davon befreit.  Franziskus sagt dann, dass Gott den Menschen dazu aufruft. Es ist ein Gott der keine Befehle gibt, sondern aufruft. Wozu er aufruft, ist kein Gesetz, sondern zur Selbstverwirklichung dadurch, dass er sich gegen alle Sklaverei wendet. Es ist ein Gott, der auf der Seite der Selbstverwirklichung des Menschen steht und dazu aufruft. Aber er ist kein Herrscher.

Diese Gottesvorstellung von Franziskus ist sehr sichtbar der Gottesvorstellung von Jesus in den Evangelien und von Paulus im Wesentlichen gleich. Aber sie ist schlechterdings mit den Gottesvorstellungen von Augustin und Thomas von Aquin kaum zu vereinbaren. Diese Gottesvorstellungen haben Gott als Gesetzgeber, während die Gottesvorstellung von Franziskus die eines möglichen Helfers ist., der dem Menschen zur Seite steht. Er sagt nicht, was der Mensch tun soll, sondern in welcher Richtung er gehen soll: in der Richtung seiner Selbstverwirklichung.  Ert soll er selbst sein.

Ich glaube wir werden in der ganzen Geschichte seit der konstantinischen Wende nicht eine solche Gottesvorstellung von Seiten  irgendwelcher kirchlichen Autoritäten finden. Dieser Gottesvorstellung, die der jesuanischen und paulinischen so nahe ist, verschwindet mit der konstantinischen Wende ganz ähnlich die auch die jesuanische Vorstellung vom Reich Gottes. Tatsächlich hängen beide ganz eng zusammen. Deshalb kommen auch beide in unserer Zeit wieder zurück, wenn auch nicht völlig gleichzeitig.

Diese von Franziskus entwickelten Gottesvorsstellung ist daher auch nicht einfach identisch mit Jahwe, dem Gott der jüdischen Tradition. Es handelt sich um den Gott Jahwe, der etwa sagte:

„Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Ägypterlande, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat“. Exodus, 20,2

Dieser Gott des Franziskus hingegen sagt: befreie du dich aus dem Sklavenhaus und verwirkliche dadurch die Befreiung aller. Er sagt also: du bist selbst das höchste Wesen für den Menschen, befreie dich du selnst, ich stehe dir dabei bei.

Aber das ist eben nicht nur das Ergebnis der Religionskritik von Marx, sondern ebenfalls der Geschichte sowohl des Judentums als auch des Christentums. Hier treffen sie sich. In Wirklichkeit ist es ja schon, wenn auch nicht in derselben Ausführlichkeit,  Jesus, der dies sagt, wenn er sagt: Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da.  Dies bekommt heute einen neuen Ausdruck: Der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da. Welche Theologie ist es denn dann und wer ist der Theologe?  Es macht doch offensichtlich Sinn, wenn Duchrow von Marx auch als Theologe spricht. Aber Jantzen findet das einfach grotesk.

III. ¿Gegen die Vertröstung auf ein himmlisches Reich?

So sagt Jantzen:

“Dussels 20 Thesen zu Politik (Dussel 2013b) kennt und zitiert Duchrow natürlich – muss er ja auch, da er das Vorwort geschrieben hat. Sie sind ohne Zweifel eine wichtige Orientierung auf dem Weg in das Reich der Freiheit. Aber dann bitte wirklich mit Bezug auf den „Atheismus im Christentum“ (Bloch) bzw. einem christlichen Atheismus (Sölle 1992, insb. 53 ff.) und ohne jegliche Vertröstung auf ein himmlisches Reich.” (6)

Dies Vertröstung auf ein himmlisches Reich ist etwas völlig zweitrangiges. Im Zentrum steht etwas anderes, nämlich das Himmelreich (meistens als Reich Gottes bezeichnet) als Bezugspunkt der Erklärung der Legitimität der Rebellion und schließlich der Revolution auf dieser Erde. Wie im Himmel, also auch auf Erden, das ist der Aufruf der die Rebellion und die Revolution auf der Erde legitimiert. Dadurch werden nicht etwa andere mögliche Legitimationen ausgeschlossen. Aber diese Legitimation durch den Himmel ist eine der großen Legitimationen. Dies war schon in der Bewegung zum chilenischen Sozialismus in den 60er Jahren der Fall. Aber es wurde dann für die revolutionären Bewegungen in Nicaragua und in El Salvador der siebziger und achtziger Jahre völlig unübersehbar.

Ich möchte ein Lied aus dieser Zeit zitieren, das in El Salvador entstand. Es stammt aus der Misa Popular Salvadoreña (Salvadorianische Volksmesse). Auch in Nacaragua war Teil dieser grossen revolutionären Volksbewegung eine Messe, die sich in diesem Fall Misa Popular Nicaraguense nannte. Diese Messen waren Volksgesang auf allen Straßen. Sie waren überall gegenwärtig. Ich zitiere von diesem Lied zuerst die erste Strophe auf Spanisch, um dann die ersten 3 Strophen ins deutsche zu übersetzen:

Vamos todos al banquete,
a la mesa de la creación,
cada cual con su taburete,
tiene un puesto y una misión.

Wir gehen alle zum Bankett,/ zur Tafel der Schöpfung, /jeder mit seinem Schemel /hat einen Ort und eine Sendung.

Gott lädt alle Armen ein,/zu dieser  gemeinsamen Tafel/Wo es keine Schieber gibt/ Und niemandem etwas fehlt.

Gott erwartet von uns, aus dieser Welt/ ,einen Tisch der Brüderlichkeit zu machen/ dadurch dass wir gemeinsam arbeiten/ und das Eigentum zusammen haben.

Diese Lied ist ein revolutionäres Lied! Und es hat eine Revolution begleitet, die wirklich stattfand, wenn sie auch nicht siegte.

Man sieht hieraus, dass der Glaube, dass der Himmel nur Vertröstung ist und folglich abzuschaffen wäre, keinen Sinn macht. Dies ist so, obwohl der Himmel manchmal auch Vertröstung ist. Aber manchmal braucht man schließlich auch Trost, was auch Marx sehr klar gesehen hat.

Die ersten Jahrhunderte des Christentums  glauben an einen Himmel, von dem Jesus sagte, dass er ein großes Gastmahl ist. Er wird als großes Fest betrachtet. Dies ist die Zeit, in der das Christentum in der Bevölkerung immer  zunimmt, in dem es aber ebenso große Verfolgungen gibt. Das Christentum stößt mit der Staatsmacht zusammen, deren Legitimität es bedroht. Für einen solchen Himmel können sich die Menschen begeistern, vor allem die Armen und die Sklaven. Wenn dazu gesagt wird: wie im Himmel also auch auf Erden, führt dies zur Rebellion. Das ganze Sozialsystem wird in seiner Legitimität bezweifelt, wenn es nicht jetzt auch auf Erden zumindest gut zu essen gibt., gewissermaßen als Antizipation dessen, was der Himmel sein wird. Dies führt dann zu einer Krisis des gesamten Systems, wenn es darum geht, nicht mehr nur die Bevölkerung zu bekehren, sondern das Imperium selbst christlich zu machen. Es zeigt sich dann, dass dies zu bedeuten hat, dass vielmehr jetzt das Christentum zu einem Teil des Imperiums wir. Es wird imperialisiert. Dies führte dann ins konstantinische Zeitalter des Christentums. Augustin begleitet diesen Übergang durch folgenden Angriff auf eines der Zentren des Christentums in Lyon, indem er sagt:

“Aber wenn man sagt, die dann Auferstehenden würden ihre Muße mit maßlosen leiblichen Tafelfreuden hinbringen und solche Fülle von Speisen und Trank genießen, daß von keinem Maßhalten mehr die Rede wäre, ja ein mehr als unglaubliches Schwelgen anfinge, so können doch nur fleischlich gesinnte Menschen derartiges glauben. Die geistlich Gesinnten pflegen die, welche dieser Meinung huldigen, mit einem griechischen Wort Chiliasten zu nennen. Auf lateinisch würden diese Tausendjährler Milliarier heißen.”[4]

Das geht gegen den Aufstand, der sagt: wie im Himmel, also auch auf Erden.

Aber es bezieht sich auf die durchaus rebellischen Christen der ersten Jahrhunderte, die geradezu phantastische Vorstellungen del Himmels entwickeln, vor allem in Lyon des zweiten Jahrhunderts. Das ist aber keine Vertröstung, sondern Rebellion. Denn das, was man für den Himmel erwartet, ist bereits etwas das Rechte auf Erden gibt, weil es auf der Erde sein müsste, wenn auch nur als Anfang, gewissermaßen als Antizipation dieses Himmels. Und dieser Himmel ist der Wille Gottes und wird sonst auch Reich Gottes genannt. Es handelt sich um Rebellion, die dann dann durch Uminterpretationen in etwas ganz anderes verwandelt wird.

Der Himmel wird verändert. er ist kein großes Fest mehr sein, sodass man auf der Erde daraus nicht mehr zumindest ein kleines Fest fordern kann. Was geschieht ist das, was viele Marxisten später den Thermidor nennen, allerdings im Sinne eines Thermidors der Revolutionen. Aber dieser Übergang zum konstantinischen Zeitalter des Christentums hat die wichtigsten Anzeichen eines solchen Thermidors. Der Himmel verlor seine Reize, sodass auch die Erde  die Lust verlor, ihn zu antizipieren. Es war die Konterrevolution im Himmel, die man brauchte, um die Revolution auf der Erde und damit die Rebellion, die vom Christentum ausgegangen war, einzudämmen.

Es kam jetzt ein Himmel, in dem man überhaupt nicht mehr zu essen braucht, sondern Tag und Nacht für alle Ewigkeit vor dem Thron Gottes steht und Heilig, Heilig, Heilig rufen muss. Dieser Himmel hat überhaupt keine Reize mehr. Nichjt einmal für Gott hat er möglicherweise auch keine Reize. Wenn man ihn will, dann einfach weil er nicht die Hölle ist, die als noch viel schlimmer vorgestellt wird.

Es überrascht dann nicht, dass der Himmel der Theologie der Befreiung wieder ein großes Gastmahl ist. Damit läutet er aufs Neue zur Rebellion und kann dann in die Revolution übergehen. Wieder brauchte die Revolution auf der Erde eine Revolution im Himmel, um als sinnvoll empfunden zu werden.

Die US-Regierung hat dies sogar so ernst genommen, das sie zusammen mit den Militärdiktaturen in Lateinamerika in den 70er und 80er Jahren zehntausende von Menschen, die im Namen dieses ihren Glaubens  die Revolution ausriefen, ermorden ließ. Sie wurden zu Märtyrern gemacht.  Ich finde, man sollte dies ernst nehmen. Es ist leicht zu sehen, dass dies nicht Vertröstungen auf ein himmlisches Reich sind. Es war die Verteidigung von Menschenrechten, die in Lateinamerika systematisch unterdrückt wurden und die das Recht zur Revolution gibt. Für die US-Regierung galt für diese Revolutionäre genau das gleiche wie für Kommunisten oder sonstige Sozialisten. Sie haben keine Menschenrechte.

Ich glaube allerdings, dass diese Auseinandersetzung, die hier mit Jantzen geführt wurde, zu einer breiteren und allgemeineren Diskussion dieser gesamten Problematik dienen könnte.


[1] S. Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 378-391

[2] Zitiert nach  Seifert,Kurt: Keine Revolution ohne Reformation. Rudolf Bahro – bleibende Aktualitât eines (fast) vergessenen Denkers. In: Neue Wege. Beiträge  zu Religion und Sozialismus. 111. Jahrgang. Zürich, Dezember 2017. S.33

[3] Papst Franziskus an die Botschafter von Kirgisien, von Antigua und Barbuda, des Großherzogtums Luxemburg und von Botswana - 16. Mai 2013

[4] Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. München 1978, S.600