Franz Hinkelammert
Die Erklärung der grundlegenden emanzipatorischen Menschenrechte
Paulus von Tarsus kündigt die grosse Neuheit einer neuen Gesellschaft und einer neuen Welt an, die er von der Gleichheit aller Menschen her entwickelt. Er zeigt sie auf in der Linie dessen, was Jesus das Reich Gottes nannte, von dem Jesus sagte: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Luk 17,21 woraus er dann schloss: "Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit..." Mt 6, 33 Man könnte sagen, das dieses Reiches Gottes, das "mitten unter euch" ist, und von dem Jesus spricht, eben die Anwesenheit der Abwesenheit des Reiches Gottes ist, die dann in der Suche nach diesem Reich Gottes anwesend gemacht werden soll.
Als dann Paulus die neue Gesellschaft und neue Welt ankündigt, führt er seine Vorstellung davon in einer seiner eigenen Umwelt angepassten Sprache in seinem Brief an die Galater aus. Ich möchte von dieser Ankündigung ausgehen, um dann zu analysieren, wie Paulus selbst diese Neue Welt in seinen Schriften weiterführt und in welcher Form sie dann in der späteren Geschichte bis in unsere Zeit wieder auftaucht.
Ich möchte daher damit beginnen, wie Paulus die Diskussion über diese neue Welt beginnt. Er tut es in seinem Brief an die Galater (Gal 3, 26-29) Ich möchte dabei hier weitgehend von einer Analyse dieses Textes in meinem Buch "Wenn Gott Mensch wird, macht der Mensch die Moderne: Zur Kritik der mythischen Vernunft in der westlichen Geschichte. Ein Essay" (dieses Buch wird demnächst erscheinen) ausgehen, die ich in dem ersten Kapitel dieses Aufsatzes wiedergebe, um von hier aus dann die weiteren Analysen zu entwickeln.
Ich gehe herbei von dem erwähnten Text des Galaterbriefes aus. Mir scheint eine genaue Analyse dieses Textes notwendig auch aus dem Grunde, dass mir die Übersetzung der Jerusalemer Bibel ausserordentlich problematisch zu sein scheint mit Problemen, die sich in anderen Übersetzungen zu wiederholen pflegen. Dadurch werden wichtige Gesichtspunkte des Textes von Paulus einfach übersprungen.
Die Übersetzung, die ich kritisiere, ist die folgende:
"Ihr seid also alle Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Folglich: Wenn ihr Christus angehört, so seid ihr Abrahams Nachkommenschaft, Erben nach der Verheissung." (Gal 3, 26-29 Jerusalemer Bibel)
Ich komme aber zum Ergebnis, dass diese Übersetzung völlig ungenügend ist. Ich habe daher von dieser Übersetzung der Jerusalemer Bibel eine Übersetzung entwickelt, die meiner Ansicht viel besser das aufzeigt, um was es sich für Paulus handelt:
"Ihr seid also alle Söhne und Töchter Gottes dadurch dass ihr den Glauben Jesu des Messias teilt. Denn ihr alle, die ihr auf den Messias getauft seid, habt den Messias angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer im Messias Jesus. Folglich: Wenn ihr dem Messias angehört, so seid ihr Abrahams Nachkommenschaft, Erben nach der Verheissung." (Gal 3, 26-29)
Ich tue dabei folgende Schritte:
Ich glaube zuerst einmal, dass man nicht von Kindern Gottes sprechen sollte. Auf griechisch wird das Wort für Söhne gebracht, um über alle, Söhne und Töchter zu sprechen. Ich ziehe es vor, von Söhnen und Töchtern zu sprechen, und nicht das Wort Kinder zu benutzen, das eher kindisch klingt.
Das Wort Christus bedeutet auf Griechisch Messias, und Paulus schreibt auf Griechisch. Deshalb habe ich diese Übersetzung in den zitierten Text des Paulus eingeführt. Das macht fast kein Übersetzer. Auf diese Weise verbirgt sie zum Teil, was Paulus sagt.
Paulus besteht darauf, dass alle den Messias empfangen haben: "Ihr seid Söhne und Töchter Gottes dadurch, dass ihr am Glauben Jesu des Messias teil nehmt". Gemäss meiner Übersetzung geht es nicht darum, dass alle den Glauben in Jesus haben, sondern dass sie alle den Glauben des Jesus teilen und diesen Glauben zum ihrigen machen. Damit bekommt es erst Sinn. dass der Messias "angezogen" wird.
Im Messias ist es nicht möglich, Unterschiede in diskriminierende Ungleichheiten zu verwandeln. Daher spricht Paulus von den "auf den Messias Getauften", die "den Messias angezogen haben". Sie bringen die Neuheit in die Welt, dass alle in dem oben formulierten Sinne gleich sind. Die ständige Bezugnahme auf den Messias ist die Bekräftigung des Universalismus der Werte, auf die sich Paulus in seiner Verkündigung bezieht. Sie lautet: "Es gibt weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau". Dieser Universalismus ist gleichzeitig das Projekt der Gesellschaft, die der Messias vertritt. Das gilt nicht nur für diejenigen, die nach dem Ritus getauft werden, sondern für alle, die den Glauben Jesu annehmen, denn indem sie ihn annehmen, sind sie eins im Messias. Sie sind gleichwertig. Der Bezug auf den Messias bleibt notwendig: Sie sind alle gleich als konkrete Menschen. Es geht nicht um die Gleichheit aller vor dem Markt, die eine Gleichheit voller Diskriminierung ist, obwohl es die einzige ist, die der kapitalistischen Gesellschaft entspricht. Das ist der Kern dessen, was Paulus sagt: "Es gibt weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau".[1] Implizit besteht er darauf, dass Frauen und Männer auch das gleiche Recht haben zu sprechen. Dass nach 1 Korinther 14,34... Frauen in der ekklesia schweigen müssen, ist höchstwahrscheinlich eine Interpolation die 1 Timotheus 2,11...entspricht.[2]
Dieser Aufruf des Paulus bekräftigt nicht die damals gegenwärtigen Gesetze, sondern drückt die Kritik des Paulus am Gesetz angesichts der gegenwärtigen Gesetzlichkeit aus. Deshalb betrachtet Paulus die Gegenwart des Reiches Gottes, auch wenn er dieses Wort nur selten direkt benutzt und es auch in diesem von uns zitierten Text vermeidet.
Was Paulus hier in dem von mir gebrachten Zitat aufzeigt, sind die Menschenrechte, die in dem impliziert sind, was Jesus über das aussagt, was er das Reich Gottes nennt. Paulus verwandelt es in die erste Menschenrechtserklärung unserer Geschichte, die ebenfalls die Erklärung der Emanzipation der Frau impliziert.
Nach dieser Korrektion der Übersetzung der Jerusalemer Bibel fand ich eine Übersetzung, die in derselben Richtung geht. Sie stammt von Fridolin Stier. Es heisst dort:
"Denn alle seid ihr Söhne Gottes durch den Glauben in Eins mit dem Messias Jesus. Denn alle, die ihr in den Messias hineingetauft wurdet - den Messias habt ihr angezogen. Da gibt es keinen Juden noch Griechen, da gibt es keinen Sklaven noch Freien, da gibt es kein Männliches und Weibliches. Denn alle seid ihr einer - im Messias Jesus. Gal 3, 26-28[3]
Fast alle großen Ideen der Französischen Revolution tauchen in dem Text von Paulus auf, und es wird deutlich, was der Messias für Paulus bedeutete: die Emanzipation der Frauen, die Emanzipation der Sklaven und einer ganzen Arbeiterklasse und die Einheit der Kulturen und Nationen, aber auch Rassen,[4] die später bei der UNO versucht wird. Dies sind die Werte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es fehlte jedoch ein langer Prozess, in dem Gott im anthropologischen Sinne menschlich wurde und der in die Moderne führt, in der alle Menschen versuchen, sich um das zu kümmern, was Paulus von Tarsus verkündet hatte, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. Dann wird Gott im anthropologischen Sinne zum Menschen. Dies ist seit der Französischen Revolution geschehen. Damit entsteht dann der Humanismus der Praxis, wie auch Marx ihn versteht.
Die französische Revolution selbst ist mit dieser Forderung nach Menschenrechten konfrontiert. Olympe de Goughes, die die politische Emanzipation der Frauen fordert, wird guillotiniert. So fällt auch Babeuf unter die Guillotine, der die Positionen der Arbeitnehmer verteidigte. Und der haitianische Sklavenbefreier Toussaint Louverture wird in einem französischen Gefängnis unter Napoleon so schlecht behandelt, dass er kurz nach seiner Verhaftung stirbt. Napoleon tat dies in dem Wissen, dass der Sklavenaufstand in Haiti sich auf den Nationalkonvent der Französischen Revolution stützte, der die Sklaverei am 7. Februar 1794 abgeschafft hatte. Es wurde gleichzeitig auch die Emanzipation der Juden abgeschafft und es wurden die Ghettos aufgelöst.
Doch nach der Revolution entstanden die großen sozialen Emanzipationsbewegungen von Frauen, Sklaven und Arbeitern, deren Führer im Zuge der Französischen Revolution von den Revolutionären selbst getötet worden waren. Dann kamen die Bewegungen für die Emanzipation der Kulturen und für den Zusammenschluss der Staaten und den Schutz der Natur ab dem 20 Jahrhundert. Alle bewegen sich in der von Paulus antizipierten Richtung. Aber Paulus war es noch nicht gelungen, en Subjekt zu schaffen, das fähig gewesen wäre, einen Humanismus der Praxis zu entwickeln, der sich erst mit der Moderne herausbildet.
Es ist also klar, dass Paulus die menschliche Gesellschaft auf der Grundlage der menschlichen Gleichheit betrachtet und dass er diese Betrachtung mit Jesus teilt. Es entsteht eine Dynamik, die auch heute noch präsent ist und die später die Welt verändert hat.
Man versteht, warum es diesem Christentum gelingt, vor allem die Plebeyer und Sklaven des Reiches zu christianisieren. Der Text macht bereits das gegenwärtig,, worauf sich die französische Revolution gründen wird. Es ist ein Konzept der mythischen Vernunft, das, um verwirklicht zu werden, menschliche Subjekte braucht. Und wieder ist von zentraler Bedeutung der Schritt, dass Gott Mensch wird, aber jetzt im anthropologischen Sinne. Das hat als grundlegenden Vorläufer, der im religiösen Bereich im Christentum bereits aufgetaucht ist, die religiöse Vision von der Verwandlung Gottes in einen Menschen. Die Moderne vollzieht nun die Ausweitung dieser Transformation auf das gesamte anthropologische Feld. Tatsächlich kann auf diese Weise die Moderne in der französischen Revolution den Mythos der Befreiung, wie er von Paulus formuliert wurde, tatsächlich durchsetzen, wenn auch immer in einem begrenzten Sinne. Auf diese Weise kann der Mythos dann wirklich präsent gemacht werden, wenn auch in vielen Variationen und auch in Schwächen und Konflikten.
Aber es bleibt ein wichtiger Unterschied. Die neue Welt von Paulus ist aufgefasst in einer eschatologischen Perspektive. Der Mensch ist aufgerufen, an dieser Umwandlung in eine neue Welt teilzunehmen und sie so weit wie möglich zu verwirklichen. Aber der Anspruch geht weit über das Menschlich mögliche hinaus. Die neue Welt ist letztlich eine Welt, in der alle die angesprochenen Menschenrechte auch faktisch verwirklicht sind. Daher wird der Übergang zur verwirklichten neuen Welt immer mit einer Auferstehung der Toten verknüpft, die durch Gott verwirklicht wird, wenn der Mensch auf dieser Erde das Mögliche getan hat. Aber immer ist der Anfang die Praxis auf dieser Erde.
Das Neue an Paulus ist, dass er die Botschaft Jesu auf der Grundlage einer Kritik der griechischen Philosophie darlegt. Dieser Ansatz unterscheidet sich allerdings stark von den späteren Ansätzen von Augustinus und Thomas von Aquin. Sie übersetzen griechische Philosophie ins Christentum und lassen die Botschaft Jesu oft beiseite. Stattdessen überdenkt Paulus die griechische Philosophie selbst, so dass er in der Sprache dieser Philosophie wirklich vermitteln kann, was diese Botschaft Jesu ist. Um dies zu erreichen, setzt Paulus an die Stelle des Seins der griechischen Philosophie seine Erklärung der Menschenrechte, die wir aus dem Brief an die Galater zitiert haben und die die neue Welt des Paulus ankündigt. Es handelt sich faktisch um das Reich Gottes, wie es Jesus vorgestellt hatte, aber jetzt der neuen Umwelt wegen anders ausdrückt.
In den 1980er Jahren sagte Bischof Kamphaus von Limburg: Machs wie Gott, werde Mensch. Im gleichen Jahrzehnt gab es in Zürich grosse Demonstrationen von Studenten vor der grössten Bank der Schweiz mit der Parole: Machs wie Gott, werde Mensch.
Als diese Ankündigung einer neuen Welt dann später in der Französischen Revolution erneuert wird, konnte dies nur gegen die meisten der damals gegenwärtigen christlichen Kirchen erfolgen. Das Christentum war durch den Thermidor der Konstantinischen Wende im 3. und 4. Jahrhundert auf den Kopf gestellt worden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kehrt es dann zu seinen Wurzeln zurück und stellt sich wieder auf seine Füsse, wenn auch nicht überall in der Mehrheit. Im Christentum selbst wird dieser Konflikt ausgetragen zwischen den beiden Traditionen, der ersten prophetisch-messianischen Tradition und der späteren imperialen Kolonialisierung.
Die Erneuerung der vorhergehenden Analyse der neuen Welt von Paulus im 1. Korintherbrief: Der Messias hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Heilsbotschaft zu verkünden 1 Kor 1,17
Im Korintherbrief kommt Paulus auf das Thema der neuen Welt zurück, was eben bei ihm das Thema des Reiches Gottes ist. Er kommt dazu von der Analyse einer Krise her, die er in Korinth erlebt. Er analysiert diese Krise als eine Krise der Institutionalisierung der Taufe. Er zeigt in seinem Brief, dass sich eine Krise der Taufe ergeben hat. Die Taufe ist zu einem einfachen Ritual geworden, dessen Inhalt einfach eine Reduzierung der Taufe auf einen Akt innerhalb dieses Ritus reduziert wird. Gemäss Paulus ergeben sich Streitereien unter den Gläubigen, die sich dabei unter sich aufspalten als Gruppen, die sich bilden und ihre Identität formulieren von der Person her, die sie getauft hat. Der eine die Gruppe von Apollos, der andere die von Kephas oder sonstigen. Dazu formuliert Paulus dann seinen Protest:
"Der Messias hat mich ja nicht ausgesandt zu taufen, sondern die Heilsbotschaft zu verkünden". 1 Kor 1,17
Und er ermahnt:
"Seid einig im Wort und lasst keine Spaltung unter euch aufkommen..." 1 Kor 1,10
Heilsbotschaft ist für Paulus hier der Glaube des Jesus. Er lehnt aber nicht die Taufe ab. Aber ganz offensichtlich ist die Taufe für ihn letztlich ein Teil der Übernahme des Glaubens des Jesus durch den Getauften. Sie ist selbst ein Moment der Heilsbotschaft und ist nicht reduzierbar auf ein einfaches Ritual.
Hier wird dann interessant, dass ganz allgemein die Theologen heute davon ausgehen, dass der Text der Botschaft einer neuen Welt, den Paulus im Galaterbrief überliefert, tatsächlich von den üblichen Taufzeremonien herstammt, die die neu bekehrten Personen selbst formuliert haben. Dies gilt natürlich insbesondere für die zentrale Erwähnung der Menschenrechte in Gal 3,28: "Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer im Messias Jesus."
Man kann übrigens den Text aus dem Galaterbrief (Gal 3, 26-28) direkt als Text für die Taufe lesen:
Taufe impliziert ein Glaubensbekenntnis und dieses spricht den Glauben aus an den Glauben des Jesus (Heilsbotschaft) aber nicht den Glauben in Jesus. Ob der Getaufte in Jesus glaubt, ist folglich zweitrangig. Was daher das Taufbekenntnis ist, ist dann eben Gal, 3 26-28. Der Getaufte bekennt den Gauben Jesu und bekennt ihn als Glauben des Messias, der der auferstandene Jesus ist. "Denn ihr alle, die ihr auf den Messias getauft seid, habt den Messias angezogen. (Gal, 3 27) Dieser Messias ist aber jetzt der auferstandene Jesus. Damit erklärt der Getaufte demjenigen gegenüber, der ihn tauft, Teil des Körpers dieses Messias (corpus misticum) sein zu wollen und übernimmt damit die Grundsatzerklärung zu den Menschenrechten für sich selbst und alle anderen: Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib (Gal, 3, 28). Es wird eine Praxis intendiert. Diese Praxis eint alle Getauften. Mit der Taufe schreibt sich jeder Getaufte in ein Projekt ein, das das Projekt des Messias ist.
Eine solche Taufe setzt natürlich voraus, dass die Getauften erwachsene Menschen sind. Setzt sich dann die Kindertaufe durch, muss diese Taufe anders formuliert werden, ohne allerdings deshalb notwendig ihren Inhalt einzubüssen und wie es in einem gewissen Grade heute die Firmung tut.
Hiermit wird der erste Korintherbrief eingeleitet. Offensichtlich knüpft hier Paulus an die im Galaterbrief (Gal 3, 26-28) entwickelte grundsätzliche Menschenrechtserklärung an. Darauf folgt dann, wer die auserwählten Gottes sind:
"..was die Welt für schwach hält, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen, die Plebeyer und die Verachteten hat Gott auserwählt; das was nicht ist, um das was ist zuschanden zu machen. (beiseite zu tun: beiseite zu lassen) Kor 1. 28
In der jüdischen Tradition sind die Auserwählten Gottes insbesondere die Witwen, die Waisen und die Ausländer (die Flüchtlinge). Das jüdische Volk ist das auserwählte Volk Gottes, aber es gibt spezifische Auserwählte innerhalb des auserwählten Volkes. Hier bei Paulus hingegen sind es "die Plebeyer und die Verachteten". Aber es geht um die gleiche Menschengruppe.
Die Übersetzung habe ich verändert. Die deutsche Jerusalemer Bibel übersetzt: "was in der Welt ohne Adel dasteht und nichts gilt, was nichts ist, das hat Gott auserwählt," (1 Kor 1, 28) Jerusalem deutsch
Die Veränderung habe ich der spanischen Ausgabe der Jerusalemer Bibel entnommen, die sagt:
"Lo plebejo y lo despreciable del mundo ha escogido Dios; lo que no es, para reducir a la nada lo que es." (1 Cor 28 Bibel von Jerusalem auf Spanisch)
Ich habe dann diese spanische Übersetzung ins deutsche übersetzt, nämlich: "die Plebejer und die Verachteten hat Gott auserwählt; das was nicht ist, um das was ist zuschanden zu machen."
Es ergibt sich dann, dass Paulus, wo Jesús von den Armen und ihrer Auserwählung spricht, jetzt von den "Plebejern und den Verachteten" spricht. Er spricht aber an anderen Stellen durchaus wieder von den "Armen". Aber beide Ausdrücke erscheinen für Paulus als äquivalent.
Er geht damit wiederum zu einer anderen Form des Sprechens vom Reich Gottes über. Er tut dies ebenfalls auf eine ganz andere Weise als vorher. Unser Zitat mündet ein in: "das was nicht ist (hat Gott auserwählt) um das was ist zuschanden zu machen."
Ich habe keinen Zweifel, das sich dies "was nicht ist" auf die Abwesenheit des Reiches Gottes bezieht, das, wie Jesus sagt, mitten unter euch ist, aber das man ergreifen muss. Wenn man es nicht ergreift, ist es abwesend, aber diese Abwesenheit ist gegenwärtig. Gott hat dies Abwesende, "das was nicht ist", erwählt,, um "das was ist zuschanden zu machen." Und das was ist, ist eben das römische Kaiserreicht und seine Institutionen.
Ich nehme an, dass Paulus hier eine Art zu sprechen entwickelt, die seines Erachtens nach diesen "Plebeyern und Verachteten" mehr entspricht als die Sprache der jüdischen Kultur und die von "Armen" spricht. Aber er bleibt bei den gleichen Inhalten.
Plebeyer sind hier einfache Leute, normale Menschen, Menschen der Strasse, das einfache Volk. Diese Menschen sind nach Paulus gleichzeitig die Armen.
Es geht hier immer um das Reich Gottes! Es ist eine Abwesenheit, die anwesend ist. Diesem christlichen Glauben nach wird diese Abwesenheit dann schliesslich anwesend werden, nämlich mit der Auferstehung der Toten.
Diese Analyse des Paulus mündet dann in die Vorstellung eines Konflikts mit den "Herrschern dieser Welt" ein. Diesen Konflikt stellt er folgendermassen vor:
"Weisheit aber verkünden wir unter den Vollkommenen, jedoch nicht die Weisheit dieser Welt noch jene der Herrscher dieser Welt, die abgetan werden. Nein, wir verkünden Gottes geheimnisvolle, verborgen gehaltene Weisheit, die Gott vor aller Zeit zu unserer Verherrlichung vorausbestinnt hat - keiner von den Herrschern dieser Welt hat sie erkannt, denn hätten sie sie erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt -" 1 Kor 2, 7-8
Es handelt sich um einen Konflikt mit den Herrschern dieser Welt. Diese Herrscher der Welt hat die Weisheit Gottes, die sich für Paulus eben gerade in seiner Herausstellung der Menschenrechte und damit einer kommenden neuen Welt, die letztlich durch die Auferstehung begründet wird, aber schon in dieser Welt antizipiert wird. Von diesen Herren der Welt sagt er jetzt, dass sie die Weisheit Gottes nicht erkannt haben, weil sie sich der Weisheit dieser Welt unterwarfen. Indem sie sich aber dieser Weisheit der Welt unterwarfen, haben sie den "Herrn der Herrlichkeit" gekreuzigt. Würden sie sich auf den Standpunkt der Weisheit Gottes gestellt hätten. hätten sie ihn nicht gekreuzigt.
Diese Weisheit Gottes ist eben der Glaube Jesu, um den es in der paulinischen Ankündigung der Neuen Welt in den von ihm genannten Menschenrechten (Gal 3, 28) geht. Man kreuzigt also Jesus, wenn man seinen Glauben nicht teilt. Und man kreuzigt in ihm die Armen, die hier bei Paulus die Plebejer und die Verachteten sind. Hier klingen meiner Ansicht nach schon die ersten Vorstellungen von der menschlichen Gesellschaft als Klassengesellschaft auf.
Diese Aussage von Paulus hat ganz offensichtlich viele der dann kommenden Christen empört. Es erscheint eine Reaktion gegen diese Meinung von Paulus schon im Neuen Testament, und zwar in den paulinischen Briefen, die nicht von Paulus sind. Ich beziehe mich hier auf eine Stelle, die im 1. Thessalonischen Brief erscheint:
"Diese (die Juden) haben auch den Herrn Jesus und die Propheten getötet und uns verfolgt; sie gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind, da sie uns hindern, den Heiden zu predigen, damit sie gerettet werden.... Doch gekommen ist über sie schliesslich der Zorn." 1. Thessalonicher Brief, 2, 15-16
Dieser Text sagt genau das Gegenteil von dem, was Paulus im ersten Korintherbrief gesagt hat. Es ist ein vollkommen antijudaischer Text, der nicht etwa analysiert, sondern einfach nur deduziert. Die Texte von Pablo hingegen haben eine Rationalität. Sie diskutieren mit Argumenten. Dieser Text des 1. Thessalonicher Briefes aber ist einfach nur antijüdisch und sonst nichts. Ich bin deswegen überzeugt, dass er gar nicht von Paulus ist, sondern eine spätere Erfindung ist. Entweder der gesamte 1. Thessalonischen Brief ist gar nicht von Paulus, oder der von mir zitierte Text ist eine spätere Einfügung. Ich würde vermuten, dass sie aus dem 3. Jahrhundert stammt.
Paulus hat in seinem von mir zitierten Text einen durchaus rationalem Konflikt zwischen den Plebeyern und und der Autorität aufgezeigt. Aber er spricht von Autoritäten, die Jesus gekreuzigt haben und interessiert sich überhaupt nicht, ob diese Autoritäten römisch oder jüdisch sind. Was sie tun., ist eben das, was Autoritäten tun. Sie verfolgen und unterwerfen die Armen, also die Plebeyer und die Verachteten. Aber es sind diese Autoritäten, die das Gesetz vertreten und im Namen des Gesetzes handeln.
Das Gesetz als die Kraft, das Unmenschliche zu verwirklichen.
Jetzt gebraucht Paulus das Wort Gesetz in einem ganz bestimmten Sinne. Er sieht das Gesetz und das, was es vorschreibt, unter dem Gesichtspunkt der Nächstenliebe. Er tut dies sehr klar in einem Satz am Ende des 1. Korintherbriefes. Er sagt folgendes:
"Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz." 1 Kor 56
Ich glaube, dass unser Wort Sünde heute nicht mehr sehr gut das wiedergibt, was es für Paulus aussagt. Ich habe zuerst gedacht, dass das Wort Verbrechen dies Wort Sünde ersetzen kann. Aber das Wort Verbrechen vermittelt meiner Meinung nach zu sehr die Vorstellung, dass es sich um einen Bruch des Gesetzes handelt. Ich habe mich dann entschlossen, das Wort Unmenschlichkeit zu benutzen. Dann würde folgendes geändert werden:
"Der Stachel des Todes aber ist die Unmenschlichkeit, die Kraft der Unmenschlichkeit aber ist das Gesetz."
Es geht hierbei darum, dass Paulus davon ausgeht, dass sehr häufig die Unmenschlichkeiten dadurch entstehen, dass das Gesetz erfüllt wird. Er nimmt die ganz offensichtlich von Jesus, wenn er über die Schuldenzahlung spricht. Werden Schulden unbezahlbar, zerstört der Zwang zu zahlen den Schuldner. In der Zeit von Jesus schloss dies sogar die Sklaverei für den Schuldner und seine Familie ein. Jesus klagt daher diese Schuldenzahlungen als geradezu verbrecherisch an. Aber unzweifelhaft handelt es sich von Seiten des Gläubigers um einen legalen Akt, denn das Gesetz schreibt vor, die Schulden zu bezahlen. Paulus verallgemeinert dies Kriterium im Sinne: die Kraft der Unmenschlichkeit ist das Gesetz.
Mir scheint, dass dies auch die Erfahrung ist, die Paulus in seinem Damaskus-Erlebnis schockt. Paulus weiss, dass die Verurteilung Jesu dem geltenden Gesetz entsprach, das für ihn sogar das Gesetz Gottes ist. Aus diesem Grunde hatte er ja Jesus verfolgt. Aber er erkennt jetzt, dass diese Verurteilung und Hinrichtung eines der grossen Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist. Es handelt sich um ein Verbrechen, das in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Damit bricht in Paulus seine pharisäische Gesetzesvorstellung zusammen. Aber er will jetzt nicht etwa das Gesetz abschaffen, sondern eine Gesetzeskritik machen, die es erlaubt, das Gesetz auf andere Weise zu behandeln. Denn er ist gleichzeitig davon überzeugt, dass ohne Gesetze das menschliche Zusammenleben auch nicht möglich ist. Aber das Gesetz muss für ihn ständig interveniert werden. Es geht darum, zu wissen, wie weit seine Erfüllung zur Unmenschlichkeit führt und es daher geändert oder suspendiert werden muss. Ständig geschieht, dass das Gesetz zur Kraft der Unmenschlichkeit wird. Die Unmenschlichkeit, die man begeht, wird jetzt legitim, da sie gleichzeitig ja das Gesetz erfüllt.
Dies gilt natürlich gerade für das Marktgesetz. Es öffnet der Ausbeutung des anderen Tür und Tor. Man darf nicht töten, aber man darf sterben lassen. Auch die Gesellschaft darf sterben lassen, wenn es durch das Marktgesetz gedeckt ist. Dies ist die Bedeutung der These von der unsichtbaren Hand, die ich weiter unten noch diskutieren will.
Bertold Brecht fand hierfür eine, wenn auch ironische Formulierung: Was ist schon ein Banküberfall im Verhältnis zu der Gründung einer Bank?
Das zitierte Wort von Paulus über das Gesetz als Kraft der Sünde und daher der Unmenschlichkeit, wird auch manchmal durch folgendes Wort wiedergegeben, das zumindest seit dem Mittelalter im Schwang ist: Fiat iustitia pereat mundus. „Es geschehe die Gerechtigkeit, mag die Welt auch zugrunde gehen".
In diesem Zitat wird unter Gerechtigkeit die absolute und blinde Gesetzeserfüllung verstanden. Aber daraus wurde kaum je die Konsequenz gezogen, eine entsprechende Gesetzeskritik, wie sie etwa Paulus sie macht, abzuleiten. Die Antworten sind meistens eher nichtssagend. So sagt Ludwig von Mises einfach nur das Gegenteil, ohne zu argumentieren: "Fiat iustitia, no pereat mundus" .
Etwas ganz ähnliches tut sogar Kant. Er sagt: »Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen«. (https://de.wiktionary.org/wiki/fiat_iustitia_et_pereat_mundus)
Das Problem der "obrigkeitlichen Gewalt" in Röm 13, 1-7 und die paulinische Gesetzeskritik
Ich erinnere mich oft an ein eine Woche langes Seminar, das wir vor dem Jahre 2011 in La Roche machten. Ich erinnere mich nicht genau an das Jahr. In diesem Seminar diskutierten wir der Gesetzeskritik von Paulus. Dort konzentrierten wir uns schliesslich auf die Diskussion der Problematik des Begriffs obrigkeitliche Gewalt in Röm 13, 1-7. Diese ist ja gleichzeitig Gesetzgeber und wichtigster Entscheidungsträger. Der Text, wie er uns heute vorliegt, fordert die totale Unterwerfung unter Gesetze und Entscheidungen. "Nicht das gute Werk hat Grund, die Obrigkeit zu fürchten, sondern nur das böse. Du willst die Gewalt nicht fürchten müssen? Dann tue, was recht ist, und du wirst von ihr (der Obrigkeit) Lob erhalten. Denn sie ist für dich Gottes Dienerin für das Gute. Wenn du aber Böses tust, so fürchte, denn nicht umsonst trägt sie das Schwert. Ist sie doch Dienerin Gottes, Rächerin zum Zorn für den, der Böses tut" Röm 13, 3-4 Nirgendwo sonst spricht Paulus eine solche Unterwerfung unter die Erfüllung des Gesetzes aus. Diese Art Idolatrie des Gesetzes fällt völlig ausserhalb aller sonstigen Interpretationen des Gesetzes, die Paulus macht.
Ich war daher in dieser Diskussion zusammen mit anderen der Meinung, dass dieser Text nur eine spätere Einschiebung sein kann und folglich nicht beachtete werden sollte, sondern als ungültig erklärt werden müsste. Aber da fing einer der Teilnehmer an, ein ganz andere Position vorzulegen. Es war Ivo Zurkinden, der sagte, dass der gesamte Text Röm 13, 1-7 vielmehr eine falsche Übersetzung und Interpretation des Textes sei. Er zeigte in seiner darauf folgenden Analyse, dass es sich um eine Uminterpretion des Textes handelt, die von dem griechischen Wort exousia in der heute üblichen Übersetzung mit Obrigkeit oder auch mit Staat und ähnlichem übersetzt wird, während dieses Wort in der griechischen Sprache überhaupt nicht diese Bedeutung hatte. Er zeigte dies unter anderem an einem andern Bibelzitat, das besagte: "Er (Jesus) lehrte wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten". Mk, 1, 22 Geht man hiervon aus, so ergibt sich, dass der gesamte Text von Röm 13, 1-7 überhaupt nicht vom Staat spricht, sondern nach Zurkinden geht es um eine göttliche Vollmacht: " Die metanoia gebiert die Vollmacht... : Mit Vollmacht ausgestattete sind jene, die die metanoia durchlebten und deshalb sehend wurden. Sie leben nach dem ich bin , wenn du bist und und schüren auf diese Weise Glühkohle auf das Haupt der Feinde der Weisheit." (S.147) Diese Art Vollmacht kommt aus dem Sein der Person und nicht aus dem politischen Konkurrenzkampf.
Wir haben dann im Weiteren über diese Problematik diskutiert und überzeugten uns schliesslich alle, dass die Interpretation richtig sein könnte. Ich selbst bat dann Ivo, uns diese seine These schriftlich zu übergeben, um sie dann weiter diskutieren zu können. Bald danach übergab Ivo mir den Text, den ich dann, mit seiner Genehmigung, in einem Buch veröffentlichte, dass ich vorbereitete und das auch eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Gesetzeskritik von Paulus enthalten sollte. Dieses Buch von mir hat dann den Titel bekommen: Der Fluch, der auf dem Gesetz lastet: Paulus von Tarsus und das kritische Denken. Edition Exodus, 2011. Der Text von Ivo Zurkinden befindet sich auf den Seiten 141-152 unter dem Titel: Anhang: Vorschlag einer Übersetzung von Röm 13, 1-7.
Es ist interessant, dass im Jahre 2013 der Papst Franciscus über die Problematik der Übersetzung des griechischen Wortes exousia sprach, ohne allerdings dabei eine direkte Verbindung mit dem Text Röm 13,1-7 herzustellen. Aber was der Papst über diese Problematik sagte, stimmte völlig überein mi dem Ergebnis, zu dem Zurkinden gekommen war. Ich kann es im folgenden zitieren:
"Man muss sich also mit Jesus in der spröden Konkretheit seiner Geschichte auseinandersetzen, so wie sie uns vor allem von dem ältesten der Evangelien, dem des Markus, erzählt wird. Dann stellt man fest, dass der „Anstoß“, den das Wort und das Handeln Jesu in seiner Umgebung erregen, von seiner außerordentlichen „Vollmacht“ herrühren – ein Wort, das vom Markusevangelium an bezeugt, jedoch nicht leicht zu übersetzen ist. Das griechische Wort dafür ist „exousia“ und verweist wörtlich genommen auf das, was „vom Sein ausgeht“, was man ist. Es handelt sich also nicht um etwas Äußeres oder etwas Erzwungenes, sondern um etwas, das von innen her ausstrahlt und sich von selbst durchsetzt. Tatsächlich beeindruckt, verwirrt und erneuert Jesus – wie er selber sagt – von seiner Beziehung zu Gott her, den er vertrauensvoll Abba [Vater] nennt und der ihm diese „Vollmacht“ verleiht, damit er sie zum Wohl der Menschen verwende.
So predigt Jesus „wie einer, der Vollmacht hat“, heilt, ruft die Jünger, ihm zu folgen, vergibt Sünden – alles Dinge, die im Alten Testament Gott und nur Gott zustehen. Die Frage, die im Markusevangelium mehrmals vorkommt: „Was ist das für ein Mensch, dass …?“ und die die Identität Jesu betrifft, wird durch die Feststellung einer Vollmacht hervorgerufen, die anders ist als die der Welt – eine Vollmacht, die nicht darauf ausgerichtet ist, über die anderen Macht auszuüben, sondern ihnen zu dienen, ihnen Freiheit und Leben in Fülle zu geben. Und das bis zu dem Punkt, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, Unverständnis, Verrat, Ablehnung zu erfahren."
PAPST FRANZISKUS ANTWORTET DEM JOURNALISTEN EUGENIO SCALFARI IN DER ITALIENISCHEN TAGESZEITUNG »LA REPUBBLICA« 4. September 2013 (Papa_francisco_20130911_eugenio-scafari_de.pdf S.3)
Ich glaube, dass man sofort sieht, dass die Meinung des Papstes weitgehend mit der Behauptung von Zurkinden übereinstimmt, wonach das griechische Wort exousia keineswegs so übersetzt werden darf wie es heute üblich ist. Es bedeutet keinesfalls so etwas wie Obrigkeit. Ganz ebenso stimmt der Papst darin überein, dass die Bedeutung dieses Wortes durchaus wiedergegeben werden kann durch das Wort Vollmacht oder ähnliches. Jedenfalls handelt es sich nicht um so etwas wie Herrschaft. Wenn nun diese Übereinstimmung zwischen beiden besteht, könnte man auch davon ausgehen, dass sogar auch der Papst ein ähnliches Urteil fällen müsste über diesen Text Röm 13, 1-7 wie es Ivo Zurkinden tut.
Die Erlösung unseres Leibes (Röm 8,18-24)
Daraufhin kommt dann Paulus im Römerbrief zur Integrierung dieser Menschenrechtsvorstellung in eine Gesamtvorstellung des Kosmos (und damit des Universums). Die andere Welt des Paulus schliesst jetzt die gesamte Schöpfung ein:
"Denn die ungeduldige Sehnsucht der Schöpfung harrt auf das Offenbarwerden der Söhne (und Töchter) Gottes. Wurde doch die Schöpfung der Nichtigkeit nicht mit freiem Willen unterworfen, sondern durch den, der sie unterwarf, mit der Hoffnung, dass auch sie, die Schöpfung, von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werde zur Freiheit der Herrlichkeit der Söhne Gottes. Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt. Und nicht nur das, auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes besitzen, auch wir seufzen in uns selbst in der Erwartung der Erlösung unseres Leibes. Denn auf Hoffnung sind wir gerettet. Röm 8, 18-24
Hiernach geht es für die Menschen um die Erlösung des Leibes, d.h. des Körpers. Dies ist sozusagen eine Synthese oder Zusammenfassung dessen, was Paulus in Gal 3,28 als Grundsatzerklärung der emanzipatorischen Menschenrechte vorgestellt hatte. Den Körper zu befreien, darum geht es Paulus in allen seinen Menschenrechtsvorstellungen. Es ist nicht die Befreiung vom Körper, sondern die Befreiung des Körpers, die die Erlösung bringt. Er erweitert dann diesen Begriff auf die gesamte Schöpfung, als die gesamte Natur. Sie soll ebenfalls zur "Freiheit der Herrlichkeit der Söhne Gottes'gebracht werden. Damit erweitert er auch die Grundmenschenrechte. Er schliesst jetzt auch die Natur in diese ein, indem er diese Grundrechte der Natur als menschliche Menschenrechte vorstellt: Es ist ein Menschenrecht, dass die Natur ihre Rechte als Natur hat. Sie tritt damit in die "Freiheit der Herrlichkeit der Söhne Gottes" ein. Die Befreiung des Menschen ist daher nicht vollständig, wenn sie nicht die Befreiung der Natur mit enthält. Er beschränkt das Wort Erlösung allerdings auf die Menschen in ihrer Körperlichkeit. Nur die Befreiung des Menschen in seiner Körperlichkeit ist gleichzeitig Erlösung, wenn sie diesen Umfang der gesamten Schöpfung einnimmt und die gesamte Geschichte der Menschheit einschliesst.
Was Paulus hier vorstellt, ist eine wirkliche Apokalypse. Aber es ist eine Apokalypse ohne Katastrophe, ohne Armageddon. Sie ist auch ohne den Feuerpfuhl, in die in der Apokalypse des Johannes so viele Menschen geworfen werden. (Ap 20, 10 und Ap. 20, 14-15) Man könnte natürlich auch sagen, dass es sich um eine Eschatologie handelt, die nicht zur Apokalypse wird. Das hängt von der Definition des Wortes Apokalypse ab.
Mir fällt ein Text ein, der zweifellos ebenfalls aus den ersten Jahrhunderten des Christentums stammt und der in der Liturgie erhalten wird. Es handelt sich um die Präfation der Totenmesse, die keineswegs bestimmt wird durch die Erinnerung des Sterbens. Es heisst dort:
"In ihm (Christus) leuchtet die Hoffnung ewiger Auferstehung. Wohl drückt das unabänderliche Todeslos uns nieder: allein die Verheissung künftiger Unsterblichkeit richtet uns empor. Deinen Gläubigen, Herr, kann ja das Leben nicht geraubt werden, es wird nur neugestaltet; wenn diese Herberge ihres Erdenwallens in Staub zerfällt, steht ihnen eine ewige Heimat im Himmel bereit." Schott, Anselm: Das Messbuch der heiligen Kirche. Herderverlag, Freiburg im Breisgau, 1938. S. 435
Unsere heutige Sprache spricht hingegen davon, dass man dem Toten ewige Ruhe wünscht. Hier aber wünscht man ihm ewiges Leben, in dem alle zusammen eine neue Heimat in einer neuen Natur finden, die keinen Tod mehr kennt. Es ist "diese Erde ohne den Tod". Wir aber stecken unsere Toten in ihre Gräber und wünschen ihnen, dass sie für immer darin bleiben und nicht durch neues Leben gestört werden. Aber in diesem Text wird selbst das Grab zu einem Ort, an dem Hoffnung aufscheint Es ist die Hoffnung der Auferstehung.
Aber es gibt noch einen anderen Text, der dem Text des Paulus erstaunlich nahe kommt. Er stammt von Marx aus dem Jahr 1844:
“Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen: darum als vollständige, bewusst und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus= Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiss sich als diese Lösung.” Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) MEW. Ergänzungsband Erster Teil S. 536
Das Problem dieses Marxschen Textes ist, dass Marx noch nicht diesen "Naturalismus= Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus", den er später als "Reich der Freiheit" bezeichnet, als eine transzendentale Vorstellung ansieht, sondern ihn als empirisches Ziel zu erfassen sucht. Das aber ist unmöglich, sodass eine solche Vorstellung einer neuen Welt realistisch nur als das Ergebnis der Auferstehung der Toten gedacht werden kann. Zu diesem Schluss kommt übrigens sogar Adorno.
Adorno drückt dies aus, wenn er in seiner Negativen Dialektik schreibt, dass wahre Gerechtigkeit eine Welt verlangen würde, 'in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Vergangene widerrufen wäre' (Adorno Negative Dialektik 1973, 395, Erste Ausgabe 1966). Diese absolute Gerechtigkeit liefe notwendigerweise und unausweichlich, so Adorno, auf die Auferstehung des Fleisches hinaus (ebd., Adorno 207). Horkheimer entwickelt in derselben Zeit eine Position, die weitgehend mit der von Adorno übereinstimmt. In einem ähnlichen Sinne entwickelt dies auch Ernst Bloch, vor allem in seinem Buch über Thomas Müntzer: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Es erschien zuerst im Jahre 1921, eine Neuausgabe erschien 1969.
In einem ähnlichen Sinne habe ich selbst dies im Jahre 1970, als ich in Chile lebte, ausgedrückt:
"In gewisser Hinsicht ist das Christentum der Befreiung eine Art universaler Synthese...
Vor allem aber ist es eine universale Synthese in Konkurrenz zum christlichen Konservatismus und seinem immanenten Widerspruch: die Zustimmung zur gegenwärtigen Ungleichheit zugunsten einer postmortalen Gleichheit. Das Christentum der Befreiung macht ein Ende mit diesem falschen Christentum, entlarvt es als Ideologie der herrschenden Klasse und ersetzt dessen immanenten Widerspruch durch das Motto: im Kampf für Befreiung und Gleichheit - im Sinne einer permanenten Revolution auf der Grundlage der Volkssouveränität - die endgültige Fülle postmortalen menschlichen Lebens auf einer neuen Erde zu erringen. Diese geht hervor aus dem qualitativen Sprung der „Fülle der Zeit“, die gleichzeitig sowohl menschliche Errungenschaft als auch Offenbarung Gottes ist. Oder, um es anders auszudrücken, postmortale Gleichheit und Befreiung sind nicht das Produkt der Unterwerfung unter die heute herrschende Ungleichheit, sondern im Gegenteil das Ergebnis einer kontinuierlichen Rebellion gegen die gegenwärtige Ungleichheit und für die Befreiung in jedem Moment der menschlichen Geschichte. Das Christentum der Befreiung macht sich die Perspektive der beherrschten Klasse im Klassenkampf der Geschichte zu Eigen."[5]
Ragaz hat diese Vision des Lebens immer gegenwärtig. So sagt er:
„In diesem Buch habe ich jene Formel herausgearbeitet, welche ich dann immer wieder angewendet habe, von dem fundamentalen, durch die Geschichte gehenden Gegensatz zwischen denen die an Gott glauben, aber nicht an sein Reich, und denen, die an das Reich glauben, aber nicht an Gott, wobei stets der eine Irrtum den andern hervorruft oder verstärkt, bis die Überwindung des Gegensatzes erfolgt, die in der Botschaft des Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit für die Erde und in ihrer Verwirklichung Tatsache wird.“[6]
Die Gesetzeskritik des Paulus als der Weg zur Befreiung des Körpers und damit letztlich zur Erlösung des Körpers in "diese Erde ohne den Tod".
Die Befreiung des Körpers ist für Paulus der Sieg über den Tod, in dem sich die Geltung aller von ihm erwähnten Menschenrechte definitiv erfüllt. Es ist die definitive Erfüllung dessen, was er in Gal 3,28 herausgestellt hat: Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Das was er hier als Ideal für das menschliche Leben vorgestellt hat, zeigt er jetzt als definitiv verwirklicht in dem was er als die der Befreiung des Köpers erwartet: "diese Erde ohne den Tod".
Den Prozess der Befreiung des Körpers beschreibt er jetzt als eine ständige Notwendigkeit, dem Gesetz gegenüber die Befreiung des Körpers durchzusetzen, die jetzt als Durchsetzung des Lebens dem Tod gegenüber sichtbar wird. Er sagt dies bereits im 1 Korintherbrief (1 Kor 15,55-56): "Wo ist, o Tod dein Sieg? Wo ist, o Tod, dein Stachel?" Und er antwortet auf diese Frage: "Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz."
Die Befreiung des Körpers muss also das Gesetz dem Leben unterwerfen, das den Körper befreit. Dies aber zeigt er jetzt im Römerbrief, und zwar im Kapitel 13, 8-10. Er sagt etwas, das er die "Vollendung des Gesetzes" nennt:
"Bleibt niemandem etwas schuldig, es sei denn die gegenseitige Liebe. Denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Die Gebote: "Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht begehren!" und was es sonst noch an Geboten geben mag, werden ja in diesem einen Wort zusammengefasst: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu. So ist die Liebe die Vollendung des Gesetzes." Röm 13,8-10
Hier geht es um die Gesetzesinterventionen. Wenn die Erfüllung von Gesetzen mit der Nächstenliebe unvereinbar wird, muss das Gesetz verändert oder für bestimmte Fälle suspendiert werden. Das Gesetz kann nie das letzte Wort abgeben. Diese Unterwerfung unter die Nächstenliebe ist gleichzeitig Durchsetzung des Lebens als Kriterium und der Weg zur Befreiung des Körpers. Befreiung des Körpers ist die Unterwerfung des Gesetzes unter das, was Paulus die Nächstenliebe nennt, im Dienste der Befreiung des Körpers. Es zeigt sich dann, dass Die Nächstenliebe, wie Paulus sie versteht, gleichzeitig Befreiung des Körpers ist. Es ist das: Ich bin, wenn du bist.
Aber dies ist jetzt eine Auseinandersetzung, die dem Menschen auf dieser Erde auferlegt ist und die den von Paulus erwarteten definitiven Zustand des Lebens und der Befreiung des Körpers als "diese Erde ohne den Tod" vorbereitet. Paulus führt hier die Gesetzeskritik, die im Zentrum der Botschaft Jesu steht, systematisch weiter, sodass sie selbst heute sichtbar ist in Bezug auf die Gesetze heute. Sie schliesst dann sogar die Marktgesetze ein, die ständig interveniert werden müssen, wenn das körperliche Leben des Menschen die Freiheit des Körpers als seine Grundlage haben soll.
Damit kommen wir wieder zurück zu dem, womit wir begonnen haben, nämlich die Grundlegung der Menschenrechte in Gal, 3, 28: Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Wird die Nächstenliebe zum Kriterium der Gesetzeserfüllung, dann werden diese Menschenrechte zum Handlungskriterium. Daher müssen sie dann als Normen ausgedrückt und angewandt werden.[7]
Der Humanismus der Praxis: Die Praxis die sich auf eine neue Welt orientiert.
Es ergibt sich damit der Ausgangspunkt für den Humanismus der Praxis, der sich auf die Gesamtgesellschaft beziehen müsste. Dieser Bezug aber ergibt sich in seiner wahren Dimension noch nicht bei Paulus. In der römischen Gesellschaft dieser Zeit gibt des nicht das Minimum an menschlicher formaler Gleichheit, das es möglich machen könnte, irgendeine menschliche Emanzipation zu legitimieren und durchzusetzen. Die Bevölkerung kann sich nicht organisieren. Es gibt religiöse, aber keine zivilen Bewegungen. Als daher das Christentum der ersten Jahrhunderte nicht mehr unterdrückt werden konnte, wurde es imperialisiert und nicht demokratisiert. Die Sozialstrukturen blieben im wesentlichen die gleichen, selbst die Sklaverei wurde nicht abgeschafft. Es hat viele Jahrhunderte gedauert, bis eine Gesellschaft entstand, in der man so etwas wie Menschenrechte überhaupt entwickeln konnte. Im Christentum war die Forderung von Menschenrechten durchaus gegenwärtig, konnte aber nicht in die Gesellschaft hineingetragen werde. Sie blieben daher auf innerkirchliche Aktivitäten und überhaupt private Aktivitäten beschränkt . Wenn sie aber von aufständischen und auch häretischen Bewegungen gefordert wurden, wurden sie einfach niedergeschlagen. Sie waren daher immer untergründig gegenwärtig, konnten aber nicht verwirklicht werden. Dieses gilt selbst noch für die Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts wie etwa die deutschen Bauernaufstände unter Thomas Müntzer und den Aufstand der Täufer in der Stadt Münster in den Jahren 1534 und 1535. Aber dies ist gleichzeitig der historische Moment, in dem sich die neue Klassengesellschaft bildete, in der sich jetzt eine wirkliche Menschenrechtsbewegung durchsetzen konnte. Tatsächlich geschieht dies ja schon innerhalb dieser Bauernkrieg, aber es gab noch nicht die Fähigkeit diese neuen Bewegungen zum tatsächlichen erfolgreichen Aufstand zu bringen, wie es dann in der englischen und vor allem in der französischen Revolution geschah.
Aber diese jetzt vom 15. Jahrhundert an sich bildende neue Klassengesellschaft hat zu ihrer Grundlage gleichzeitig eine ganz ausserordentliche Entwicklung des Geldsystems. Zum ersten Mal entsteht so etwas wie ein Weltmarkt, vor allem von den neuen Kapital und Bankenzentren her. Vorher gab es Märkte, aber es gab noch nicht "den Markt", der dann Weltmarkt wurde.
Auf diese Weise bildete sich die Zivilgesellschaft, wie sie noch heute weitgehend erhalten blieb und wohl auch erhalten bleiben wird. Den Charakter dieser neuen Klassengesellschaft können wir am besten beschreiben ausgehend von den beiden grossen Revolutionen, der englischen und der französischen. Beide Revolutionen beginnen als Volksrevolutionen, um dann als bürgerliche Revolutionen zu enden. Die beiden grossen Denker der englischen Revolution sind Hobbes und John Locke. Locke kann am besten das Ergebnis der englischen Revolution wiedergeben. John Locke stellt das Ergebnis für die Position der herrschenden Klassen in seinem Buch Two Treatises on Government sehr bestimmend vor. Für die hier relevante Darstellung geht es vor vor allem um zwei Punkte. Der erste Punkt ist seine absolute Legitimation der Sklaverei, wie sie inzwischen in ganz Amerika eingeführt worden war. Seine Vorstellung der Sklaverei ist eine der extremsten und auch brutalsten der gesamten menschlichen Geschichte. Der zweite Punkt ist, dass er überhaupt keine Menschenrechte kennt, sondern nur Marktrechte wie etwa die Garantie des Privateigentums. Dies ist eine reine Position des Klassenkampfes von oben. Diese Garantie des Privateigentums wurde dann von Adam Smith durch die Behauptung einer unsichtbaren Hand des Marktes ergänzt, die die Existenz von automatischen Tendenzen des Marktes zum Gleichgewicht behauptet. So wurden dann die Marktgesetze in Gesetzesautomaten verwandelt, die einfach durch die Automatik der Gesetzeserfüllung den Zweck des Gesetzes sichern.
Gegen diese Position der herrschenden Klassen ergibt sich dann im 18. Jahrhundert eine Position, die hierauf antwortet. Sie stammt von Rousseau in Du Contrat Social des Jahres 1762. Rousseau antwortet auf die erwähnten Punkte von Locke auf sehr deutliche Art und Weise. Was den ersten Punkt anbetrifft, lehnt er ganz radikal jede Sklaverei ab. Er ist einer der wenigen Denker der sogenannten Aufklärung, der diese Position annimmt. Zum zweiten Punkt erklärt er, dass eine Demokratie, um Demokratie zu sein, das Privateigentum nur in dem Umfang garantieren kann, in dem es mit dem Recht eines jeden Menschen, menschlich leben zu können, vereinbar ist. Hier werden jetzt Menschenrechte postuliert. Es sind diejenigen Rechte, die das freie Lebenkönnen eines jeden Menschen garantieren. Hier wird damit das Menschenrecht eingeführt, das weder bei Hobbes noch bei Locke vorkommt. Es ist das Recht des Menschen als Recht, Mensch zu sein.[8] Es handelt sich hier um die Position eines Klassenkampfes von unten, der auf den Klassenkampf von oben antwortet. Als Folge hiervon wird in den ersten Jahren der Revolution durch die Generalversammlung die Sklaverei abgeschafft. Aber einige Jahre danach führt der Kaiser Napoleon sie wieder ein. Auf Grund dieser Abschaffung der Sklaverei wurde der siegreiche Sklavenaufstand in Haiti durchgeführt. In der Sitzung, in der die Sklaverei abgeschafft wurde, wurde ebenfalls die Judenbefreiung ausgesprochen, die sie zu vollen Bürgern machte. Dies schloss das Ende der Einschliessung in Ghettos (Judenviertel) mit ein.
Die Entwicklungen während des 20. Jahrhundert: Der Pol der Marktgesetze
Es ergeben sich auf diese Art zwei Pole, die sich gegenüber stehen und die das 19. Jahrhundert im Wesentlichen prägen. Auf der einen Seite, der Pol der Marktgesetze, die als absolute Gesetze gelten. Auf der anderen Seite der Aufruf und das Projekt der Befreiung des Körpers. Diese Befreiung des Körpers erscheint nicht nur bei Paulus (Röm 8, 18-24 ), sondern ebenfalls in der Tradition des Sozialismus seit dem 19. Jahrhundert. Aber sie erscheint bei Marx auch in einer anderen Ausdrucksweise, wenn dieser von der gesamten aussermenschlichen Natur als dem "erweiterten Körper des Menschen" spricht. Wenn es sich also um die Befreiung des Körpers handelt, ist immer die Befreiung der Natur als erweitertem Körper des Menschen eingeschlossen.
Diese Befreiungsbewegungen, insbesondere die der Sklavenbefreiung, der Emanzipation der Frauen und der Bewegungen der Arbeitskräfte entwickeln sich bereits mit der französischen Revolution von ihren Anfängen an. Aber je mehr sich die Volksrevolution zu einer bürgerlichen Revolution entwickelt, umso mehr ergeben sich Konflikte um diese Menschenrechtsbewegungen. Tatsächlich wurden sie dann gewaltsam unterdrückt. Es ergab sich, dass die französische Revolution nicht nur die Aristokratie verfolgte, sondern ganz ebenso die Bewegungen der Menschenrechte. Dies traf insbesondere Olymp de Gouges, als Vertreterin der Frauenrechte und François Babeuf, der mit seiner sogenannten "Konspiration der Gleichen" zu einem Vertreter der Arbeitsrechte geworden war. Beide wurden Opfert der Guillotine. Ganz etwas ähnliches geschah mit Toussaint Louverture,, dem haitianischen Sklavenbefreier, der unter Napoleon verhaftet wurde und an den Folgen seiner schlechten Behandlung sehr bald im Gefängnis verstarb. Erst nach dem Ende der Revolution konnten sich diese Bewegungen der Menschenrechte dann als Teil der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft entwickeln, obwohl sie gleichzeitig sehr häufig der Verfolgung unterlagen.
Vom Ende des 19. Jahrhunderts an und besonders seit dem 1. Weltkrieg geschehen bedeutende Änderungen auf beiden erwähnten Polen. Auf dem Pol der Marktgesetze geht es um die Frage der Gleichheit aller Menschen, die unmittelbar verbunden ist mit der möglichen Geltung der Menschrechte. Die bürgerliche Ideologie des 19. Jahrhunderts geht von der formalen Gleichheit aller Menschen aus, von der aus dann die Forderungen der Menschenrechte legitimiert wurden. Die verschiedenen Menschenrechtsbewegungen der Sklavenbefreiung, der Emanzipation der Frauen und der Arbeitsbewegungen stützten sich darauf. Das verhinderte nicht die Konflikte, half aber dazu, sie zu lösen. Jetzt aber kommt eine ganz radikale Gegenposition. Sie geht von einem durchaus bedeutenden Denker aus, der jetzt dieser Gleichheitsvorstellung entgegentritt. Dies ist Friedrich Nietzsche. Wenn sein ganzes Denken seiner Tendenz nach einfach in einem Satz wiedergegeben werden soll, so könnte man sagen: "Aufstand gegen die Gleichheit aller Menschen." Nietzsche hatte zu seinen Lebzeiten nur geringe Bedeutung. Aber er wurde vom Beginn des 20. Jahrhunderts an zum wichtigsten Sprecher der Gegner der Menschenrechtsbewegungen, jetzt vor allem des Feminismus, der sozialistischen Bewegungen und eines immer mehr sich durchsetzenden Antisemitismus, der vorwiegend als Rassismus auftrat. In diesem Aufstand Nietzsches gegen die Gleichheit aller Menschen wird an die Stelle dieser Gleichheit der "Wille zur Macht" gesetzt. Er wurde dann von den jetzt entstehenden Faschistischen Bewegungen in ganz Europa, zu ihrem Hauptdenker gemacht und wurde gleichzeitig als der grosse Heilige des Faschismus gefeiert. Da Nietzsche bereits tot war, konnte er dazu natürlich nicht mehr selbst Stellung nehmen.
Dieser Aufstand gegen die Gleichheit, den der Faschismus von Nietzsche her übernimmt, hört aber nicht auf mit dem Ende des Faschismus. Nach diesem Ende des Faschismus kommen aber einige Jahrzehnte, in denen gerade die Menschenrechte herausgestellt werden. Dies kommt sehr klar heraus mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948. Allerdings entsteht sehr bald nach dieser Erklärung eine neue Formulierung des Aufstands gegen die Menschrechte, die sich dann von den siebziger Jahren an immer mehr als die zentrale Ideologie der westlichen Welt durchsetzt. Diese erklärt ganz offen die Menschenrechte für nichtexistent und setzt sich dann mit der Reagan-Regierung in den USA tendenziell ganz allgemein durch und bekommt damit weltweite Geltung. Dies wird vom Gründer dieses Neo-Liberalismus Ludwig von Mises auf folgende Weise ausgedrückt:
" Die schlimmste aller dieser Wahnvorstellungen ist die Idee, dass die "Natur" jedem Menschen bestimmte Rechte gegeben hat. Gemäss dieser Doktrin hat die Natur völlig offene Hände für jedes Kind das geboren wurde... Jedes Wort dieser Doktrin ist falsch." [9]
Mises bezieht sich hier direkt nur auf die emanzipatorischen Menschenrechte, die die Menschenrechte des menschlichen Lebens sind. Aber faktisch verengt diese Negation dieser emanzipatorischen Menschenrechte auch zum grossen Teil die zivilen und politischen Menschenrechte. Dies zeigte sich dann sehr bald, sobald dieser Neoliberalismus eine Politik der Nicht-Anerkennung der emanzipatorischen Menschenrechte durchführen konnte (wie sie etwa von den siebziger Jahren an in den totalitären Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien verwirklicht wurde. Es bedeutete auch das weitgehende Ende der zivilen und politischen Menschenrechte durch den Plan Condor, der von der US-Regierung aus organisiert wurde und der im Jahre 1975/76 begann). Diese Weiterführung der Negation der Menschenrechte wurde dann ergänzt durch eine ganz extreme Form, den Markt als magisch mit einer unsichtbaren Hand und mit einem Automatismus einer Selbstregulierung des Marktes vorzugaukeln.
Damit wurden die Marktgesetze wieder als absolute Gesetze vorgestellt, in deren Namen sowohl die Verweigerung einer realistischen Politik gegenüber der Klimakrise als auch die zunehmende Beseitigung des Sozialstaates aufgezwungen werden. Es bleibt völlig beiseite die doch sehr wohl bekannte Aussage, dass jedes absolute Gesetz immer ein Gesetz ist, das unmenschliche Konsequenzen hat. Ein Markt ist nur ein menschlich akzeptabler Markt, wenn er durch systematische Interventionen in die sozialen Beziehungen eingebettet wird. (s. Polanye)
Auf diese Weise wird der Neoliberalismus zu einem durchaus legitimen Nachfolger des Faschismus und er kann daher auch Nietzsche zu einem seiner Väter haben, obwohl er nicht mit dem Faschismus verwechselt werden sollte. Der Faschismus beruht auf einem staatlichen Totalitarismus, während der Neoliberalismus auf einem Totalitarismus des Marktes beruht.
Die Entwicklungen während des 20. Jahrhundert: Der Pol der Befreiung des Körpers (die emanzipatorischen Grundrechte)
Wie ich bereits gesagt habe, gehe ich davon aus, dass wir in einer Krise der westlichen Zivilisation stecken. Sie geht von dem Aufstand gegen die Gleichheit aller Menschen, der gleichzeitig ein Aufstand gegen die Menschenrechte ist, aus. Dieser leitet sich vom Denken Nietzsches ab und wird dann zuerst zur Wirklichkeit im Faschismus, heute aber im Neoliberalismus. Der Widerstand gegen diesen Aufstand führte zu einer neuen Sozialismusvorstellung, zu der parallel dann die erwähnte Neuformulierung des Subjekts durch die Rebellion der Studenten im Jahre 1968 kam, die eine neue Subjektivität anzielte im Verhältnis zu allen bestehenden Institutionen.
Diese neue Sozialismusvorstellung hatte eine Dimension, die man nicht vergessen sollte. Sie tauchte bereits im Frühjahr des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei auf und wurde dann am 21. August 1968 durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes beendet. Dieser Aufstand ist als Prager Frühling[10] bekannt. Die neue Sozialismusvorstellung wurde in Prag durch den Ökonomen Ota Sik schon vor diesem Aufstand ausgearbeitet. Er versuchte dann, sie als Wirtschaftsminister durchzusetzen. Er spielt eine ganz ähnliche Rolle wie sie dann in Chile ab 1970 Pedro Vuskovic spielte. Allende als Präsident vertrat mit ausdrücklicher Abgrenzung von Kubas Modell einen verfassungskonformen, gewaltlosen und schrittweise jeweils mit demokratischen Mehrheiten legitimierten Weg zum Sozialismus. Diesen Sozialismus verstand er als systematische Intervention in den Markt mit dem Ziel, den Markt zur systematischen Achtung der Menschenrechte zu zwingen. Michael Gorbatschow als Staatspräsident der Sowjetunion versuchte noch in den Jahren 1990 bis 1991 in der Linie des Prager Frühlings und der Neuformulierung des Sozialismus in Chile den sowjetischen Sozialismus neu zu definieren. Aber auch dieser Versuch wurde zum Scheitern gebracht.
Dies waren die grossangelegten Versuche, den neuen demokratischen Sozialismus zu verwirklichen. In Prag wurde er durch die Truppen des Warschauer Paktes beendet, in Lateinamerika durch die von Seiten der USA organisierten totalitären Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit., die auf geradezu mörderische Art vorgingen und in Lateinamerika den Neoliberalismus aufzwangen. Die US-Regierung organisierte diese verschiedenen Militärdiktaturen in dem Plan Condor zur Ausrottung der Führungskräfte aller demokratischen Volksorganisationen. Im Rahmen dieses Plan Condors wurden etwa 50.000 Menschen ermordet.[11]
Verstehen wir diese Initiativen in ihrer tatsächlichen Einheit, ergibt sich, dass hier effektiv eine Alternative zum herrschenden System in seinen verschiedenen Formen im Entstehen war. Sie wurde aber durch den Aufstand gegen die Menschenrechte und die Gleichheit aller Menschen von Seiten des Neoliberalismus, der sich in Lateinamerika auf die totalitären neuen Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit stützen konnte, wieder einmal weitgehend zerstört. Der Studentenrebellion gegenüber kam es in Deutschland zu einer zunehmenden Kontrolle der Freiheit der Wissenschaften der Universitäten durch den Bund Freiheit der Wissenschaften, der sich auf die Kontrolle der universitären Meinungsfreiheit im Namen der Popperschen Wissenschaftslehre konzentrierte und von den Kulturministerien in Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten in fast allen deutschen Ländern unterstützt wurde. Ganz ähnlich wurde diese Wissenschaftstheorie auch von den totalitären Diktaturen der Nationalen Sicherheit in Lateinamerika benutzt. Die Hofphilosophen dieser Nationalen Sicherheit waren in allen Fällen, die ich kennengelernt habe, ebenfalls Popperianer. Deshalb wird man in den Schriften Poppers und der Popperianer dieser Zeit auch kaum eine Kritik des Totalitarismus dieser Militärdiktaturen finden.
Vom Ende des Jahrhunderts an - in Chile ab 1990 - wurden die wichtigsten der Militärdiktaturen wieder demokratisiert, nachdem man mit Hilfe des erwähnten Plan Condors die Führungskräfte der Volksorganisationen weitgehend ermordet hatte. In Argentinien wurden viele zu Tode gefoltert und ihre Leichen dann im Flugzeug zu Atlantik geflogen und dort abgeworfen den Haien zum Frass. Dies war ein wichtiger Teil des Klassenkampfes von oben.
Aber mit der Demokratisierung ergab sich der vorhergehende Konflikt aufs neue. Die Bevölkerung akzeptierte in den darauf folgenden Wahlen nur selten die Positionen der Militärdiktaturen, die allesamt die Wirtschaft neoliberal orientiert hatten. Viele Regierungen kehrten zu einer Politik zurück, die sich gegen diese Positionen richtete. Ich will nur drei hier erwähnen, die ich für ausserordentlich repräsentativ halte.
In Venezuela wurde Hugo Chavez 1999 Präsident. Er sprach davon, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu begründen. Er machte sehr klar, dass er damit eine Gesellschaft meinte, die auf systematische Interventionen in den Markt begründet war, wie sie bereits in Chile 1970 proklamiert worden war. Chavez starb 2013, und ihm folgte Maduro als Präsident bis heute. Aber Venezuela wurde jetzt zum Zielpunkt einer systematischen Politik wirtschaftlicher Sanktionen, die sehr bald den Export des wichtigsten Produkts - des Petroleums -weitgehend unmöglich machte. Die Bevölkerung wurde von der US-Regierung zum Hunger verurteilt. Millionen von Flüchtlingen verliessen das Land, das Gesundheitssystem wurde ruiniert. Nicht einmal heute angesichts der Katastrophe des Corona-virus hat die US-Regierung diese mörderischen Sanktionen aufgehoben.
In Brasilien wurden Verleumdungen gegen Lula erfunden und in ihrem Namen wurde Lula zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Dies machte es möglich, dass Bolsonaro die Präsidentschaftwahlen gewann und heute Präsident von Brasilien ist. Damit wurde die ausserordentlich wichtige Sozialpolitik Lulas und der Aufbau eines Sozialstaats beendent und weitgehend wieder aufgelöst. Ebenfalls wurde die Zerstörung der Amazonie ganz ausserordentlich intensiviert. Wiederum konnte sich der Neoliberalismus durchsetzen, Lula wurde wieder freigelassen, kann aber kaum noch eine politische Rolle spielen.
In Bolivien erfand der Vorsitzende der OEA (Organisation Amerikanischer Staaten) die Nachricht eines angeblichen Wahlbetrugs und griff damit die Regierung von Evo Morales an.. Es war faktisch ein Aufruf zum Staatsstreich, der von der US-Regierung wiederum unterstützt wurde. Morales suchte Asyl zuerst in Mexiko und dann in Argentinien. Die OEA hat nie Beweise für eine angebliche Wahlfälschung erbracht. Im Jahre 2020 fanden neue Wahlen statt, und die Bewegung von Evo Morales bekam mehr als 52% der Stimmen, sodass heute in Bolivien diese Volksbewegung wieder die Rdegierung übernahm.
Dies zeigt, dass es eine Alternative gibt und sie liegt ziemlich offen. Es ist die Antwort auf den Klassenkampf von oben, der heute den Kapitalismus weitgehend beherrscht. Diese Antwort auf den Klassenkampf von oben kann aber heute nicht durch eine simple Erklärung eines darauf antwortenden Klassenkampfes von unten beantwortet werden. Sie kann nur sein ein Kampf um die Rückgewinnung einer Demokratie, die heute weitgehend vom Grosskapital beherrscht wird. Die Demokratie ist weitgehend ans Kapital verkauft worden. Aber sie kann nicht zurückgekauft werden, sondern dieser Verkauf muss durch die neue Entwicklung der Demokratie anulliert werden. Dies ist nötig, damit endlich wieder Interventionen in den Markt aus legitimen Entscheidungen hervorgehen können. Im Falle des coronavirus heute war es ganz einfach, die sogenannte "schwarze Null", in deren Namen Schäuble seit vielen Jahren viele notwendige Investitionen in den Sozial- und Ökologie-Staat verhinderte, abzuschaffen. Die Frage ist: warum ist es in diesem Fall möglich, aber nicht, wenn es um den Sozialstaat oder um ökologische Probleme wie etwa die Klimakrise geht?
Die Alternative für die heutige Welt muss immer davon ausgehen, dass die systematische Intervention des Marktes nicht nur legitim, sondern absolut notwendig ist. Sie ist heute auch für den Fall der Klimakrise ganz so legitim und notwendig wie sie es im Falle der Pandemie ist, die uns heute mit dem coronavirus bedroht. Deshalb brauchen wir eine ebenso weite Fähigkeit, immer und in allen möglichen institutionellen Krisen diese gleiche Beweglichkeit zu haben, die sich im Fall dieser Pandemie ergeben hat.
Es handelt sich um eine Alternative, die in Wirklichkeit völlig offensichtlich und keine extreme Neuigkeit ist. Wir müssen zu einer Wirtschaftspolitik, aber auch einer sozialen und kulturellen Politik zurückkehren, die in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg entwickelt wurde und die heute erneuert werden muss. Aber der Neoliberalismus von heute betrachtet und verfolgt eine solche Politik und nennt sie "radikale und extremistische Linke", so wie es auch geschah mit dem Leiter der Labour Party in England, Corbyn.
Nachwort
Der junge Marx sagt in der 'Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" im Jahre 1844:
"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[12]
Ich habe einmal dazu gesagt:
"Wir können die Frage stellen: Was geschieht mit den Göttern, die verkünden, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, sodass sie darauf hinweisen, dass es darum geht, alle Verhältnisse umzukehren, in denen der Mensch ein ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist? Marx stellt diese Frage nicht, aber seine eigene Formulierung des kritischen Paradigmas zwingt dazu, sie zu stellen. Stellt man sie nicht, so ist der Ausgangspunkt zu einer Kritik der mythischen Vernunft verschlossen.
In diesem Sinne, ist von Lateinamerika her die Befreiungstheologie im Innern des kritischen Denkens entstanden. Sie erscheint als mit der eigenen Tradition - in unserem Fall mit der christlichen Tradition - ein Gott vorgestellt wird, der anerkennt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist und dass daher alle Verhältnisse umzuwerfen sind, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist "....Es handelt sich dann um einen Gott der Verständigung, der Komplize der Humanisierung und der Emanzipation ist."[13]
Dies ist dann der Gott, den Franziskus gegenwärtig macht und der "den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei aufruft".(Evangelii Gaudium, Nr.57. 2013)[14]
Die beiden Texte sind analog. Der Text von Franziskus entspricht der jüdisch-christlichen Tradition unserer Kultur. Aber das marxsche Denken gründet ebenfalls in dieser Tradition. Es bestehen durchaus Unterschiede zwischen den beiden Texten, aber diese Unterschiede sind ganz offensichtlich von sekundärer Bedeutung. In beiden Fällen handelt es sich um den Universalismus des Humanismus der Praxis.
Deshalb können wir den Schluss ziehen: Die Religionskritik von Marx verurteilt als falsche Götter alle Götter, die nicht akzeptieren, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Aber das Christentum beginnt mit einer Vorstellung eines Gottes, für den der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Die marxsche Religionskritik trifft diesen Beginn des Christentums überhaupt nicht. Erst das Christentum nach dem "christlichen Thermidor" der konstantinischen Wende im III. und IV. Jahrhundert bewegt sich in einem möglichen Konflikt mit der marxschen Religionskritik. Und es hat einen Gott, der zuerst mit Augustinus ein platonischer Goot ist und mit Thomas von Aqui ein aristotelischer.
Für Franziscus ist es völlig klar und selbstverständlich, dass der Gott Jesu ein Gott ist, für den der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Deshalb, wenn er von Gott spricht, spricht er vom "Vorrang" (in Spanisch spricht er von der primicía des Menschen) des Menschen. Dies bedeutet eben, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Aber er sagt dann sehr klar, dass dies bereits auch von Jesus gesagt wurde. Jetzt hat der Papst Franciscus wieder einen Gott, dessen Name Jahve ist. Und, in der Theologie des Papstes, ist Jesus eben ein Sohn dieses Gottes Jahve.
Es ergibt sich daher, dass die Marxsche Religionskritik überhaupt nicht im Konflikt steht mit diesem christlichen Gott.
[1] Hier entsteht ein Problem mit der Interpretation des paulinischen Universalismus, die Alain Badiou in seinem äusserst interessanten Buch über Paulus gibt: Badiou, Alain: Paulus. Die Begründung des Universalismus. sequenzia-Verlag, München, 2002 Badiou zitiert die Menschenrechtserklärung des Paulus nur ganz reduziert auf das "Es gibt weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau". Indem er die vorhergehenden Sätze nicht erwähnt, zeigt er die enge Verbindung zwischen der Erklärung von Paulus und Jesus nicht an, wie etwa den Satz: "Ihr seid also alle Söhne und Töchter Gottes dadurch dass ihr den Glauben Jesu des Messias teilt." Gal 3,26. Hier stellt Paulus klar, dass seine Erklärung auf diesem Glauben des Jesus fusst ( ein Glaube, der z.B. in der Bergpredigt von Jesus entwickelt wird) und dass sie ebenfalls den messianischen Inhalt der Jesus-Botschaft in sich enthält. Dies bedeutet, dass das "Ereignis", auf das sich Badiou bezieht, nicht reduzierbar ist auf die Auferstehung, sondern dass die Auferstehung Teil des Ganzen ist, der den Glauben des Jesus, seine messianische Dimension und seine Gültigkeit für die andere, kommende Welt voraussetzt, die sich aus der Auferstehung ergibt.
[2] siehe Martin Ebner: Christen als Unruhestifter in der Stadt: Experimente und Visionen des Anfangs. Vom Nutzen des Christusglaubens für die Gestaltung von Gesellschaft. Zeitschrift Concilium - in der Ausgabe 1/2019
[3] In: Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier. Verlage Patmos-Kösel. München und Düsseldirf, 1989
[4] Diese Vision zeigt ebenfalls auf: Walter Bochsler: Der Thermidor des Christentums. Sozialgeschichtliche Aspekte seiner frühen Entwicklung. S.97-116. In dem Buch von Urs Eigenmann, Kuno Füssel und Franz J. Hinkelammert: Der himmlische Kern des Irdischen. Exodus und Edition ITP-Kompass. Luzern, Münster, 2019
[5] Hinkelammert, Franz J.: Ideologías del desarrollo y dialéctica de la historia (Ideologien der Entwicklung und die Dialektik der Geschichte) Universidad Católica de Chile – Editorial PAIDOS Buenos Aires, 1970 p. 306
[6] Zitiert in: Eduard Buess/Markus Mattmüller:L Prophetischer Sozialismus: Blumhardt – Ragaz – Barth. Exodus. Freiburg/a, 1986. S. 168
[7] s. Molina Velásquez, Carlos: Cuerpo, ley y sacrificialidad. La antropología crítica de Franz Hinkelammert. UCA Editores./ San Sakvador, 2017
[8] s. Vergara Estévez, Jorge: Democracia y participación en Jean-Jacques Rousseau. Revista de Folisofía, Volumewn 68 (2012) S. 29-521
[9] Mises, Ludwig von: The anti-capitalistic mentality. The Ludwig von Mises Institute. Auborn, Alabama, 2008. (Ertstausgabe 1956) p.80/81 Übersetzung Franz Hinkelammert. Ich füge auch das englische Original bei:
"The worst of all these delusions is the idea that "nature" has bestowed upon every man certain rights. According to this doctrine nature is openhanded toward every child born…. Every word of this doctrine is false."
[10] Ich danke Ulrich Duchrow dafür, dass er mich auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, diesen dritten Pol stärker zu berücksichtigen.
[11] "El Plan Cóndor se constituyó en una organización clandestina internacional para la estrategia del terrorismo de Estado que instrumentó el asesinato y desaparición de decenas de miles de opositores a las mencionadas dictaduras, la mayoría de ellos pertenecientes a movimientos de la izquierda política, el peronismo, el sindicalismo, las agrupaciones estudiantiles, la docencia, el periodismo, el campo artístico, la teología de la liberación y el movimiento de derechos humanos. Los llamados «Archivos del Terror» hallados en Paraguay en 1992 dan la cifra de 50 000 personas asesinadas, 30 000 «desaparecidas» y 400 000 encarceladas."
https://es.wikipedia.org/wiki/Plan_Condor
[12] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, S.385
[13] Franz Hinkelammert: Hacia una crítica de la razón mítica. El laberinto de la modernidad. (Zur Kritik der mythischen Vernunft. Das Labyrinth der Moderne) Editorial Arlekin, San José (Costa Rica), 2007. P 284-285)
[14] Ich stütze mich bei meiner Darstellung der Befreiungstheologie vor allem auf:
Ellacuría, Ignacio: Conversión de la iglesia al reino de Dios: para anunciarlo y realizarlo en la historia. Editorial SAL TERRAE Santander 1984
Sobrino, Jon: Cristología desde América Latina. (Esbozo a partir del seguimiento del Jesús histórico). Ediciones CRT. México 1977
[Christologie von Lateinamerika aus: (Entwurf ausgehend vom historischen Jesus)]
Ignacio Ellacuría: Conversión de la iglesia al reino de Dios: para anunciarlo y realizarlo en la historia. Editorial Sal Terra Santander 1984
(Die Bekehrung der Kirche zum Reich Gottes: um es zu verkünden und in der Geschichte zu verwirklichen.)
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