Franz Hinkelammert

Die Begründung der Ethik: die Ethik des Marktes und ihre Kritik [1]

Ich möchte hier eine Analyse des Marktes und der Marktwirtschaft in einer sehr ungewöhnlichen Weise vornehmen. Es ist eine Analyse der Ethik des Marktes, die keineswegs nur eine Ethik dessen ist, was der Markt produziert. Es handelt sich vielmehr um eine Analyse der Ethik des Marktes, wie diese Ethik in der Funktionsweise des Marktes selbst vorhanden ist. Ich möchte nur einige Beispiele für diese Ethik nennen. Die Marktethik hat drei sehr grundlegende Regeln, bei denen es sich nicht um ethische Regeln handelt, deren Gültigkeit nicht auf den Markt beschränkt ist. Es sind die Regeln, die es verbieten, die andere Person zu töten, um ihr Eigentum zu stehlen, die Regeln, die Stehlen verbieten, und die Regeln, die es verbieten, die andere Person zu betrügen, mit anderen Worten, die Regeln, die Lügen verbieten. Es gibt viele andere Regeln, aber diese drei  erlauben uns, das Problem der Marktethik zu analysieren. Es sind Regeln, die das Funktionieren des Marktes selbst gewährleisten. Natürlich werden diese Regeln in vielen Fällen nicht erfüllt. Werden sie jedoch zu sehr nicht beachtet, hört der Markt selbst auf zu funktionieren und geht bricht zusammen. Aus diesem Grund verfolgt jede Marktgesellschaft die Verletzung dieser Regeln in dem Maße, wie es für die Aufrechterhaltung des Marktes notwendig ist.

Max Weber spricht hin und wieder über Marktethik. Aber er macht sie nie zu einem Gegenstand der Analyse. Dies gilt im Allgemeinen auch für die meisten Wirtschaftswissenschaftler. Tatsächlich braucht man aber nicht an so etwas wie Max Webers Werturteile zu denken, um die Werte der Marktethik zu erklären. Es genügt, einen Markt haben zu wollen. Um ihn zu haben, muss man die Werte der Marktethik einrichten, und ihre Einrichtung ist nicht das Ergebnis von Werturteilen. Es ist einfach notwendig, eine Institution zu ermöglichen, die gebraucht wird.

Als Beispiele für Marktethik habe ich drei Regeln aus dem Dekalog übernommen, der vom Gott Jahve im Alten Testament der Bibel auf dem Berg Zion übergeben wird. Tatsächlich übernimmt Jahve hier die bereits bestehenden Normen und erklärt sie zu Normen, die er sich zu eigen macht und daher als göttliche Gebote erklärt.. Diese Unterstützung ist notwendig, weil diese Normen in ständigem Konflikt mit dem egoistischen Interesse des Menschen stehen. Jeder Mensch kann Vorteile gewinnen, indem er gegen die Regeln verstößt, aber die Ethik muss diese Haltung verurteilen. In der Bibel nimmt Jahve selbst diese Position ein. Heute argumentieren wir oft in derselben Richtung im Namen des Gemeinwohls.

Ich würde nun zu zeigen versuchen, wie in unserer Geschichte ein Verständnis dieser Marktethik entwickelt. Ich möchte es zuerst bei Platon zeigen, dann bei eher modernen Autoren wie vor allem Adam Smith, Kant, Wittgenstein und Max Weber.

1. Die Entstehung der Ethik der Räuberbande: Platon und der Tempel von Jerusalem

Platon sieht sich mit der Kritik eines griechischen Sophisten konfrontiert, nach der es immer rationaler und erfolgreicher wäre, keine Ethik zu haben, denn das wäre falsch, weil man dann nicht mehr erfolgreich handeln könnte. So antwortet ihm Platon, dass man in diesem Fall ohne Ethik gar nicht mehr handeln könne. Selbst eine Räuberbande, so Platon, braucht eine Ethik, die eine ganz normale Ethik ist. Aber die Diebe wenden sie nur im Innenverhältnis an, nicht nach außen. Nur wenn die Ethik auf diese Weise eingehalten wird, kann die Räuberbande Erfolg haben. Die Räuber einer Räuberbande dürfen sich  gegenseitig weder stehlen noch töten, damit sie nach außen hin effizient stehlen und töten können.

Platon steht daher einem zu seiner Zeit weit verbreiteten Argument gegenüber,, wonach gilt

Der Ungerechte ist vernünftig und gut, der Gerechte keines davon? Gleicht der Ungerechte auch dem Verständigen und Guten, während der Gerechte ihnen nicht gleicht?[2]

Er stellt eine überraschende Frage:

Erhält nun dieser überlegen gewordene Staat seine Macht ohne Gerechtigkeit oder muß er dazu gerecht sem?

Glaubst du, kann ein Staat, ein Heer, können Räuber oder Diebe oder sonst ein Haufen, die gemeinsam eine ungerechte Tat vorhaben, einen Erfolg haben, wenn sie gegeneinander Unrecht tun? (Platon: Der Staat.(Die polis) a.a.O. S.118)

Hier ist die Ethik der Räuberbande. Wenn sie sich nicht an bestimmte Gesetze hält, kann nicht einmal die Räuberbande funktionieren:

Die Ungerechtigkeit schafft doch, mein Thrasymachos, Zwlstigkeiten, Haß und gegenseitigen Hader, die Gerechtigkeit Eintracht und Freundschaft…

Wenn das Werk der Ungerechtigkeit darin liegt, überall, wo sie ist, Zwietracht zu säen, dann wird sie bei Freien und Sklaven gegenseitigen Streit und Haß bewirken und sie zu gemeinsamer Arbeit unfähig machen, nicht? (Platon: Der Staat.a.a.O. S.119)

Das ist offenbar ihr Wesen; wenn sie (die Ungerechtigkeit FJH) befällt, ob Staat, Volk, Heer oder sonst wen, dem nimmt sie die Fähigkeit zu folgerichtigem Handeln infolge des inneren Zwistes, dann verfeindet sie ihn mit sich selbst und jedem Gegner; auch dem Gerechten. (Platon: Der Staat.a.a.O. S.119)

Die polis selbst ist jetzt eine große Räuberbande. Platon denkt gar nicht so viel darüber nach, es stört ihn nicht.. Aber er fragt nach der Perfektion der polis angesichts dieses Zustands der Dinge.

Eine große Besorgnis ist sofort erkennbar. Die Tatsache, dass die polis als eine Räuberbande organisiert ist, stört ihn nicht. Sein Problem ist, wie man verhindern kann, dass das Heer sich in eine weitere Räuberbande verwandelt, die die polis bestiehlt. Dann stellt er sich eine ideale Unterwerfung des Militärapparats unter die Polis und ihre Regierung vor.

Diese Linie Platons wird dann auch von Jesus verfolgt. Wenn er mit dem Tempel in Jerusalem in Konflikt gerät, kommt es auch zu Zusammenstößen mit allen Händlern, die in diesem Tempel tätig sind, hauptsächlich für den Verkauf von Tieren, die von den Priestern des Tempels als Opfergaben verwendet werden können.

Über diesen Teil des Tempels sagt Jesus nun, es sei eine "Räuberhöhle" (Matthäus 21,13). Offensichtlich wiederholt dieses Wort in Wirklichkeit Platons Wort von der "Räuberbande". Das, was Jesus in Wirklichkeit sagt, ist, dass dieser Tempel als Räuberhöhle keine andere Ethik hat als die Ethik der Räuberbande.

Zwei Denker der Aufklärung; Adam Smith und Immanuel Kant

Ich möchte nun zeigen, wie zwei der wichtigsten Denker der Aufklärung im 18. Jahrhundert - dem Jahrhundert der Lichter - dieses Problem angegangen sind. Als erstes möchte ich Adam Smith, den Begründer der Wirtschaftswissenschaft, zitieren. Adam Smith folgt dem gleichen Argument, das Platon begonnen hatte. Die Variationen, die er einführt, sind nur von untergeordneter Bedeutung:

"Indessen kann eine Gesellschaft zwischen solchen Menschen nicht bestehen, die jederzeit bereit sind, einander wechselseitig zu verletzen und zu beleidigen. In dem Augenblick, in dem gegenseitig Schädigung beginnt, in dem Augenblick, in dem wechselseitiger Groll und Gehässigkeit platzgreifen, werden alle Bande der Gesellschaft zerbrochen und all die verschiedenen Glieder, aus denen sie bestand, werden gleichsam durch die Gewalt und den Widerstreit ihrer disharmonierenden Gefühle zerstreut und in alle Richtungen auseinander getrieben. Wenn es eine Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern gibt, dann müssen sie, einem ganz alltäglichen Gemeinplatz zufolge, sich wenigstens des Raubens und Mordens untereinander enthalten. Wohlwollen und Wohltätigkeit ist darum für das Bestehen der Gesellschaft weniger wesentlich als Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft kann ohne Wohltätigkeit weiter bestehen, wenn auch freilich nicht in einem besonders guten und erfreulichen Zustande, das Überhandnehmen der Ungerechtigkeit dagegen müßte sie ganz und gar zerstören." (Adam Smith, Theorie der ethischen Gef¸hle, nach d. Aufl. letzter Hand ¸bers. u. mit Einl., Anm. u. Reg. hrsg. Von Walther Eckstein, 2. Aufl., Hamburg 1977, S. 128).

Adam Smith sieht die Ethik des Marktes offensichtlich als eine unabdingbare Notwendigkeit in jeder menschlichen Gesellschaft an. Er besteht darauf, dass dies sogar für eine "Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern " gilt. Smith spricht über die Notwendigkeit dieser Ethik der Gerechtigkeit, und in der Tat erwähnt Smith keine andere Gerechtigkeit als diese Marktethik. Angesichts dieser Gerechtigkeit ist "Wohlfahrt" völlig zweitrangig. Damit lehnt er jede Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und deren Eingriff in den Markt ab. Er spricht auch nicht von sozialer Gerechtigkeit. Das Wort Wohlfahrt klingt sogar verächtlich, obwohl es das Wort nicht völlig ablehnt.

Auch Kant ist immer noch in dieser Linie. Sogar Kant sagt, dass seine Ethik des kategorischen Imperativs notwendigerweise in jeder Gesellschaft angewendet werden müsse, selbst von einem "Volk von Dämonen". Das sagt er in seinem Buch Zum ewigen Frieden:

"Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg ebenderselbe ist, als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hatten."[3]

Damit greift Kant Platons Argument über die Ethik der Räuberbande auf.  Jetzt wird bei Kant nicht von einer Räuberbande gesprochen, sondern von einem Volk von Teufeln. Ob es sichnun um schlechte oder gute Menschen handelt: Sie müssen die Gültigkeit der formalen Ethik ohnehin anerkennen, zu der immer auch die Ethik des Marktes gehört.

Selbstmord und Ethik

Doch noch vor seinem ersten berühmten Buch Tractatus logico-philosophicus von 1918 formulierte Wittgenstein in seinen Tagebüchern eine Reflexion, die er später nicht wiederholte und die weitere mögliche Dimensionen seiner Reflexion über die Ethik eröffnete. Es handelt sich um die letzte Eintragung in seinem veröffentlichten Tagebuch. Dies ist der folgende Text:

"Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt.                          

Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist Selbstmord nicht erlaubt.

Dies wirft ein Licht auf das Wesen der Ethik. Denn Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde.                                                                     

Und wenn man ihn untersucht, ist es, als würde man Quecksilberdampf untersuchen, um das Wesen der Dämpfe zu erfassen.

Oder ist nicht auch der Selbstmord an sich weder gut noch böse!" Tagebuch,  10.1.1917

Um die volle Dimension dieses Zitats zu erkennen, muss der erste Satz umgedreht werden. Dann würde ich sagen: Wenn in einer Gesellschaft alles erlaubt ist und es keine verbotenen Handlungen gibt, dann ist dies der kollektive Selbstmord dieser Gesellschaft. Daraus folgt in der Tat, was Wittgenstein in dem Zitat abschließt: Denn Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde. Daher entpuppt sich dieses Urteil, die Existenz von Ethik zu leugnen, als ein Leben-Tod Urteil. Der Verzicht auf den objektiven Charakter der Ethik entpuppt sich als Bejahung des Selbstmords: Es ist kein soziales menschliches Leben möglich ohne eine oder mehrere Ethiken, die dieses Handeln beurteilen und kanalisieren.

Diese Schlussfolgerung macht Wittgenstein aber nicht. Aber die Kritik an Wittgenstein kann genau mit unserem Zitat von Wittgenstein in seiner umgekehrten Form beginnen: Wenn es keine Ethik gibt, dann ergibt sich der Selbstmord als elementare Sünde. In unserer normalen Sprache lässt sich dies wie folgt ausdrücken: Wenn es keine Ethik gibt, herrscht Chaos. Aber Chaos ist nur ein anderes Wort für den Tod. Deshalb: Wenn es keine Ethik gibt, gibt es nur den Tod. Und dieser Tod ist gleichzeitig kollektiver Selbstmord.

Ethik ist dann die Gesamtheit der Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, damit der Mensch als Teil einer Gesellschaft leben kann. Eine solche Ethik muss jede Gesellschaft haben, auch wenn es eine extrem unmenschliche Gesellschaft ist. Deshalb hat eine Gesellschaft mit Sklaven diese Ethik, aber dieselbe Ethik besagt dann auch, dass das Töten von Sklaven nicht verboten ist. Es ist die Ethik der antiken griechischen Gesellschaft, der antiken römischen Gesellschaft, aber auch des modernen US-Amerikas bis 1865, dem Jahr der Sklavenbefreiung. Auch Nazideutschland hat das Mordverbot nicht abgeschafft. Sie führte nur die Ausnahme ein: vor allem Juden und Kommunisten.

Das Problem, das sich daraus ergibt, ist nicht, dass es keine Ethik gibt und dass sie nicht entwickelt werden kann. Das Problem ist die Frage, was die bevorzugte, humanere Ethik ist. Dies zu diskutieren, erfordert auch die Konstruktion perfekter Welten des vollkommenen Zusammenlebens, d.h. es zwingt uns zu fragen, was denn die perfekte Ethik sein könnte.

Max Weber und seine Unfähigkeit, das Problem zu sehen

Das Auffälligste ist, dass die positivistische Literatur, einschließlich der gesamten analytischen Philosophie, diese Idealisierungen, die sie bei der Entwicklung ihrer empirischen Theorien machen und notwendigerweise machen müssen, im Allgemeinen nicht ernsthaft diskutiert.

Aber es gibt noch viele weitere Beispiele. Doch Max Weber berücksichtigt sie nicht einmal. Und wenn er selbst solche Argumente benutzt, argumentiert er nicht und lässt sie so schnell wie möglich wieder verschwinden. Ich möchte das Beispiel anführen, das mir am auffälligsten erscheint:

Dieses Problem der Ethik der Räuberbande wird von der positivistischen Literatur und ebenfalls in der analytischen Philosopie so gut wie nicht diskutiert oder analysiert. Aber häufig werden Argumente dieser Art benutzt, ohne diese Tatsache zu analysieren oder die Probleme sichtbar zu machen, die da verdeckt werden. Ich möchte im folgenden ein Beispiel geben, das mir dies besonders sichtbar zu machen scheint und das von Max Weber gebracht wurde.

"Die Beherrschten ihrerseits ferner können einen einmal bestehenden bürokratischen Herrschaftsapparat (Weber zählt hierzu auch das System der Marktbeziehungen und daher die Warenproduktion)weder entbehren noch ersetzen, da er auf Fachschulung, arbeitsteiliger Fachspezialisierung und festem Eingestelltsein auf gewohnte und virtuos beherrschte Einzelfunktionen in planvoller Synthese beruht.  Stellt er seine Arbeit ein oder wird sie gewaltsam gehemmt, so ist die Folge ein Chaos, zu dessen Bewältigung schwer ein Ersatz aus der Mitte der Beherrschten zu improvisieren ist. Dies gilt ganz ebenso auf dem Gebiet der öffentlichen wie der privatwirtschaftlichen Verwaltung. Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funktionieren der zunehmend bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisationen nimmt stetig zu, und der Gedanke an die Möglichkeit ihrer Ausschaltung wird dadurch immer utopischer."[4]

In diesem Zitat kritisiert Max Weber das Programm der sozialistischen Bewegungen seiner Zeit, das die Gründung einer Wirtschaft ohne den Einsatz von Geld forderte. Er bekräftigt die Unmöglichkeit solcher. In diesem Zitat sagt er es zweimal. Einmal sagt er: Wenn der fragliche Mechanismus (der Markt FJH) seine Arbeit einstellt oder von einer mächtigen Kraft gestoppt wird, ist die Folge Chaos. Und das andere Mal sagt er: Die Verbindung des materiellen Schicksals der Masse mit dem korrekten und kontinuierlichen Funktionieren der privaten kapitalistischen Organisationen... wird mit der Zeit immer stärker, und die Idee der Möglichkeit ihrer Beseitigung wird daher immer utopischer.

Das Ergebnis werden Chaos und eine unmögliche Utopie sein. Es ist also unmöglich. Aber wenn das unmöglich ist, dann ist die Beseitigung der Ethik des Marktes ebenso unmöglich, weil der Markt ohne diese Ethik nicht funktionieren kann. Ich glaube, dass dieses Urteil von Max Weber wahr ist, und es gibt heute keine sozialistischen Bewegungen mehr, die die Abschaffung des Geldes im Sozialismus vertreten.

Was aber mit Max Webers Argument geschieht, ist, dass dieses Argumente mit Webers eigener Theorie der Methodologie der Wissenschaften, insbesondere in den Sozialwissenschaften, was ja gerade gemäss seiner Wissenschaftstheorie völlig unmöglich ist.. Er rechtfertigt eindeutig eine Ethik durch Sachurteile, und das ist nach Max Weber selbst absolut inakzeptabel. Werte und Ethik können, so Weber, nur durch Werturteile und niemals durch Sachurteile bekräftigt werden. In dem zitierten Text tut Weber dies jedoch im Namen von Tatsachenurteilen. Wenn seine Kritik richtig ist, was ich auch glaube, dann verliert seine gesamte Methodologie ihre Gültigkeit. Die Tradition seit Platon, solche Urteile zu fällen, bleibt daher weiterhin gültig.

Max Webers Ergebnis ist, dass seine Sozialismuskritik die Verwirklichung des Sozialismus in keiner Weise unmöglich macht, während seine Kritik seine eigene Theorie der sozialwissenschaftlichen Methodologie vollkommen unannehmbar macht. Und Max Weber ist sich dieses ernsten Problems nicht einmal bewusst.

2. Die Entscheidung für das Leben: der conatus

Gegen diese Tendenz zur Ethik der Räuberbande, setzt Spinoza die Entscheidung für das Leben:

Conatus esse conservandi primum et unicum virtutis est fundamentum.

Das Bemühen, sich selbst zu erhalten, ist die erste und einzige Grundlage der Tugend.[5]

Dies  bedeutet: Selbstmord ist das Ende, die Verleugnung, der Verzicht auf alle Tugenden.

Spinoza fügt hinzu:

Nemo potest cupere beatum esse, bene agere et bene vivere, qui simul non cupiat, esse, agere et vivere, hoc est, actu existere.

Niemand kann gleichzeitig glücklich sein, gut handeln und gut leben wollen, wenn er nicht gleichzeitig glücklich sein, handeln und leben will, d.h. wirklich leben (ohne glücklich zu sein, schlecht zu handeln und gut zu leben).[6]

Es sind die Bedürfnisse, die zwingen, nicht der gute oder schlechte Geschmack. Man muss leben, auch wenn man noch nicht gut leben kann. Aber um Möglichkeiten öffnen zu können, muss man leben, auch wenn man schlecht lebt. Es sind die Bedürfnisse des Menschen, die befriedigt werden müssen, nicht sein Genuss. Der Genuss zählt, sofern er die Befriedigung von Bedürfnissen nicht verhindert.

Armut ist ein Problem der Not, nicht des guten oder schlechten Geschmacks. Hinter jeder Befriedigung von Geschmacks steht die Tatsache, dass hinter jeder Nachfrage Bedürfnisse und nicht einfach der Geschmack stehen. Die Notwendigkeit sucht den Genuss, aber immer im Rahmen der Bedürfnisse. Diese können auch sehr subjektiv sein, aber sie fungieren als Bedürfnisse, die auch den Genuss befriedigen wollen. Aber im Falle von Konflikten wird immer von den Bedürfnissen aus entschieden.

Dies ist: Das Leben wählen. Um das Leben zu wählen, muss man sich entscheiden, auch wenn einem das Leben, das man zu führen fähig ist, nicht gefällt. Selbstmord ist niemals eine Lösung, denn er bedeutet, Lösungen für immer aufzugeben. Selbstmord ist reines Ende. Über den Selbstmord hinaus kann man sich nur Lösungen religiöser Natur vorstellen.

Aber sich für das eigene Leben zu entscheiden, ist nur möglich, wenn man sich auch für das Leben der anderen entscheidet. Der römische Kaiser Caligula sagte: Ich möchte, dass jeder nur einen Hals hat: um ihn durchzuschneiden. Was er so erreichen kann, ist nur sein eigener Selbstmord: Niemand kann leben, ohne auf das Leben anderer angewiesen zu sein.

Selbst wenn man gut leben will, muss man schlecht leben, wenn es keine Möglichkeit gibt, gut zu leben. Aber man muss leben, auch wenn es darum geht, ein gutes Leben zu suchen. Aber, so Spinoza, man muss so leben, wie man kann, um zu versuchen, gut oder besser zu leben. Es gibt einen conatus, der dazu zwingt, auch dann zu leben, wenn man schlecht lebt. Natürlich gibt es immer noch die Möglichkeit des Selbstmordes in dem Fall, dass das Leben unerträglich ist, wie es im Fall von mehreren Juden der Fall war, als die Nazis sie nach Auschwitz bringen wollten. Aber selbst in diesem Fall ist Selbstmord keine Alternative. Indem er alle denkbaren Alternativen ausschließt, nimmt er sogar dem Selbstmord selbst die Möglichkeit, eine Alternative zu sein. Denn um alternativ zu sein, muss er eine Möglichkeit vermitteln, sich für eine Lebensweise zu entscheiden.

Das erreicht eine Grenze, und historisch gesehen hat es diese Grenze schon oft erreicht. In diesem Fall erheben sich die Armen und Vertriebenen, weil sie nicht länger durchhalten wollen und immer auch, weil sie bei anderen Unterstützung und Solidarität finden, die zwar eher aus höheren sozialen Schichten kommen, aber solidarisch sind.  Wir leben heute an einer Grenze dieser Art, die jedoch diesmal zum ersten Mal in der realen Welt Widerstand dagegen leistet, dass wir in einer Weltsituation leben, in der wir das Vorhandensein der Bedrohung durch einen kollektiven Selbstmord der Menschheit selbst feststellen. Es ist vor allem die Krise des Klimas. Es geht hierbei um eine Krise, die sich ebenfalls in der Krise der Flüchtlinge gegenwärtig macht.

Auf diese Weise kann die Bejahung des Lebens zur Revolution der Gesellschaft führen oder auch zwingen. Heute erscheint die Revolution als eine mögliche Alternative zum kollektiven Selbstmord der Menschheit, der uns bedroht. Um darüber zu urteilen, müssen wir uns allerdings vor Augen halten, dass Revolutionen nicht notwendigerweise gewalttätig sind. Aber wir brauchen eine Alternative zu diesem kollektiven Selbstmord der Menschheit. Eine solche Alternative wird immer zuerst in den Vorstellungen von einer ganz anderen Welt gedacht, zu der wir ein entsprechendes historisches Projekt entwickeln müssen, das effektiv auch machbar ist..

3. Marktproduktion und Versuche auf Leben und Tod

Die Urteile, bei denen es sich nicht um Zweck-Mittel Urteile oder um Urteile der instrumentalen Vernunft handelt, die aber  gleichzeitig Sachurteile sind, sind Leben-Tod-Urteile. Es gibt sehr grundlegende Normen, die auf solchen Leben-Tod-Urteilen beruhen. Auch das "Du sollst nicht töten" ist eine solche verbindliche Norm, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich ist und die sich aus Sachurteilen ergibt. Daraus ergibt sich das Gesetz, aber ebenso seine Ausnahmen (z.B. Selbstverteidigung). Sie setzen den conatus voraus, von dem Spinoza spricht. Max Weber hingegen berücksichtigt diese Tatsachenurteile nicht, wenn er Werturteile ablehnt. Normalerweise sieht Max Weber diese Art von Leben-Tod- Urteilen überhaupt nicht. Aber der conatus wird wirklich mit uns geboren. Jedes Lebewesen hat ihn.  Auch der Mensch hat ihn, aber gleichzeitig weiß er, dass er ihn hat. Marx selbst räumt diesen Leben-Tod-Urteilen einen zentralen Platz ein.

In allen Zweck-Mittel-Beziehungen ergibt sich daraus ein Risiko einschließlich des Todesrisikos. Deshalb ist die Zweck-Mittel-Beziehung immer mit Leben-Tod-Urteilen verbunden, bei denen es sich um Tatsachenurteile handelt, nicht aber um die Mittelwert-Urteile der instrumentellen Vernunft. Ständig führen sie zu Urteilen, die sich nicht an einem Zweck orientieren, sondern an der Leben-Tod-Beziehung, die in der Verwirklichung der Ziele ständig auftaucht. Zum Beispiel: Ich überquere eine stark befahrene Straße und verfolge ein beliebiges Ziel innerhalb eines Zweck-Mittel-Kalküls. Aber die ganze Zeit muss ich diese Aktivität des Überquerens ändern und anpassen, je nach den Gefahren, die sich aus dem Verkehr ergeben. Sie sind keine Folge eines Zweck-Mittel-Kalküls, sondern resultieren aus dem Leben-Tod-Problem, das bei der Verfolgung des Zweckes ständig präsent ist und das die Verfolgung dieses Zweckes unter bestimmten Bedingungen unterbricht.

Diese Leben-Tod-Urteile sind ebenso wie die Zweck-Mittel-Urteile Tatsachenurteile. Aber es sind begründen Werte, ohne Werturteile im Sinne von Max Weber zu sein. Wir haben es bereits gesehen: Man kann nicht einmal eine Straße überqueren, ohne im Angesicht des Todes ständig den Wert des Lebens zu erneuern. Leben muss als ein Wert behandelt werden, wenn irgendein Ziel einer instrumentalen Aktion erreicht werden soll. Dann könnten wir auch sagen, dass in diesem Fall die Behandlung des Lebens als Wert eines der Mittel ist, um das Ziel zu erreichen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das Leben als Wert geachtet werden muss. Er ist ein notwendiger Wert, damit die Zweck-Mittel-Urteile befolgt werden können. Dieser Wert des Lebens wird nicht Teil des Zweck-Mittel-Kalküls. Die Möglichkeit der Verabsolutierung dieser Zweck-Mittel-Kalküle ergibt sich gerade aus der Abstraktion von der Leben-Tod-Beziehung. Um die Welt der Zweck-Mittel-Kalküle nicht zusammenbrechen zu lassen, ist es notwendig, diese Urteile ständig dem Leben-Tod-Kriterium zu unterwerfen. Wenn das nicht geschieht, geht die Welt zu einem kollektiven Selbstmord der gesamten Menschheit über. Dies ist das so genannte Gesetz der Verelendung des Kapitalismus, wobei der Kapitalismus als wilder Kapitalismus interpretiert wird, wie er heute wieder vorherrschend geworden ist.

Der Volksmund drückt dieses Problem sehr gut:, Man soll de Ast des Baumes nicht absägen, auf dem man sitzt.

Marx argumentiert sehr häufig mit Leben-Tod-Urteilen. Ich möchte nur ein Beispiel nennen. Es handelt sich um folgendes Urteil von Marx:

"Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter." (Karl Marx, Das Kapital, I, MEW, 23, S. 528/530.)

Dieses Zitat von Marx stammt aus dem Jahr 1867.

Was Marx hier sagt, ist, dass aufgrund einer großen Willkür, die in der verwilderten kapitalistischen Wirtschaft herrscht, diese Wirtschaft zum kollektiven Selbstmord der Menschheit führt. Heute kehren wir zu dieser kapitalistischen Willkür zurück und sehen uns wieder dieser tödlichen Tendenz gegenüber. Natürlich ist dieser Selbstmord, von dem wir sprechen, ein unbeabsichtigter Akt und kein bewusstes Ziel. Aber, indem man einfach weitermacht, stellt man sich vor, dass es vielleicht trotz allem gut gehen kann. Aber man sieht durchaus die Möglichkeit und die Gefahr dieses Selbstmords, auch wenn er nicht direkt als Ziel verfolgt wird. Aber man fördert dieses Ziel. Zumindest entsteht der Verdacht, dass man dieses Ziel fördert.. Dies ist jedoch kein bewusstes Ziel, sondern eine unvermeidliche Folge dessen, was getan wird.

In dieser Richtung gehen heute sehr viele kritische Aktivitäten. Ich will nur zwei erwähnen. Eine ist die des Club von Rom, der seit 1972 über die "Grenzen des Wachstums" spricht. In der gleichen Linie erscheint seit kurzem die Bewegung "Friday for future"", um der aktuellen Klimakrise zu begegnen.

Dass etwas produziert und auf dem Markt verkauft wird, bedeutet, dass es technisch rational ist in dem Sinne, dass es technisch machbar ist. Das bedeutet aber nicht, dass es ökonomisch rational ist. Dasselbe gilt für jede kalkulierte Rationalität. Das Lewben-Tod-Kriterium muss immer hinzukommen.

Dies ist keine Diskriminierung der Rationalität des Marktkalküls. Es geht darum, die Rationalität dieses Marktkalküls zurückzugewinnen. Dafür muss die Notwendigkeit des Leben-Tod-Kriteriums für den Kalkül des Marktes aufgedeckt werden, damit dieser Markt, auf den wir nicht verzichten können, mit dem Weiterleben der Menschheit vereinbar wird. Der Klassiker dazu ist nach wie vor Polanyi [7]

[1] Vortrag gehalten am 29. Oktober 2020  für den Grupo Pensamiento Critico en San Jose, Costa Rica

[2] Platon: Der Staat. Reclam. Stuttgart, 1958.. S.115

[3] Kant: Zum ewigen Frieden. Kant-W Bd. 11, 195 S. 224

[4] Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, op. cit. S.570

[5] Spinoza, Benedictus de: Die Ethik. Reclam, Stuttgart 1977 S. 486/487

[6] Spinoza a.a.O. S. 484/485

[7] Karl Polanyi, Die Große Transformation (1944). Spanische Übersetzung: Die Große Transformation, Madrid, La Piqueta, 1989.

Polanyi, Karl: Ausgewählte Texte. CLACSO- Nationale Universität von General Sarmieto. 2012

Escribir un comentario


Security code
Refrescar

Videos Destacados

On Dualism in Christianity: Satan vs. Lucifer

video1

On Anti-Utopianism

video2

On Utopias of the Left and the Right

video3

On Liberation Theology in the 21st Century

video4