Die Metaphysik der empirischen Wissenschaften
Ich möchte im Folgenden versuchen zusammenzufassen, was der Inhalt meines Buches: Gott wird Mensch und der Mensch macht die Moderne, das ich in zwei Teilen vorgelegt habe, ist.
Ich möchte dabei ausgehen davon, dass die tatsächlich dort analysierten Theorien der menschlichen Gesellschaft allesamt in eine Art Metaphysik einmünden, die nicht mehr die Metaphysik der griechischen Philosophie des Seins ist, sondern eine den heutigen Theorien unterliegende Philosophie der menschlichen Praxis einmünden. Wenn etwa heute Habermas vom Ende der Metaphysik spricht, gilt dies nur für Metaphysik, die innerhalb dieser Philosophie des Seins entwickelt wurde.
Diese neue Metaphysik, die innerhalb der heutigen empirischen Wissenschaft entstanden ist, zieht sich durch diese empirischen Wissenschaften hindurch. Aber ich will sie vorwiegend analysieren in Bezug auf die Theorien der Sozialwissenschaften, obwohl das Problem sich auf alle empirischen Wissenschaften bezieht.
Die Metaphysik dieser Sozialwissenschaften geht von zentralen Begriffen aus, die in diesen Wissenschaften ständig entwickelt werden. Es handelt sich um Begriffe, die entstehen aus entsprechenden Begriffen der empirischen Wirklichkeit wie etwa der Markt, die Firma, die wirtschaftliche Planung, der Wettbewerb, die Struktur des Staates und der Gesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft oder auch auf die vorgestellten Bedingungen von Sicherheit und Gewissheit. Innerhalb der heutigen empirischen Wissenschaften werden alle diese Grössen gedacht in der Form einer absoluten Perfektion ihrer Funktionen. So ergeben sich dann Begriffe wie der perfekte oder vollkommenen Markt, die perfekte Firma, die perfekte wirtschaftliche Planung, der perfekte Wettbewerb, die perfekte Struktur des Staates oder eine perfekte ideale Kommunikationsgemeinschaft. In allen diesen Konstruktionen des Perfekten erscheinen bestimmte Voraussetzungen ihrer Möglichkeit, die tatsächlich als Voraussetzung ihrer Perfektion das absolute Wissen aller Teilnehmer fordern. Damit ergibt sich aber ebenfalls die Voraussetzung, die meistens nicht erwähnt wird, einer Abstraktion vom Tode. Das menschliche Leben innerhalb dieser Begriffe des Perfekten ist daher unverzichtbar als ein menschliches Leben ohne den Tod zu denken.
Ich bezeichne diese Begriffe der absoluten Perfektion als transzendentale Begriffe dieser empirischen Wissenschaften.
Diese transzendentalen Begriffe der absoluten Perfektion haben immer den Charakter von Vorstellungen, die in der empirischen Welt nicht verwirklichbar sind. Sie sind nicht verwirklichbar im Sinne einer conditio humana und sind daher nicht etwa noch nicht verwirklichbar, sondern sind für den Menschen nicht verwirklichbar in einem absoluten Sinne.
Die transzendentale und die Antwort darauf
Diese Metaphysik verkennt ständig die Tatsache, dass sie ja von transzendentalen Grössen ausgeht. Indem sie diese transzendentalen Grössen als empirische Ziele behandelt, verfällt sie immer wieder dem, was wir - wieder mit Worten von Kant - eine transzendentale Illusion nennen sollten Diese Metaphysik folgt der Rationalität von Zweck-Mittel-Urteilen und erkennt nicht, das es sich um transzendentale Begriffe handelt.
Als Beispiel möchte ich die theoretisch falsche Behauptung zitieren, die davon ausgeht, dass der faktische Markt eine automatische Tendenz zum Gleichgewicht hat und die von Adam Smith als "unsichtbare Hand" bezeichnet wird. Im Namen dieser Behauptung wird gefordert, keine Interventionen in den Markt vorzunehmen und so den Markt als einen Automatismus zu behandeln. Nur durch diese Thesis kann sich der Kapitalismus legitimieren. Sie ist heute ganz so selbstverständlich wie sie es bei Adam Smith auch schon war. Lindner, der Vorsitzende der FDP ist völlig von dieser These, die eine rein ideologische Behauptung ist, durchdrungen. Hier wird eine Illusion vertreten, die man eine transzendentale Illusion nennen muss. Wir erleben diese Illusion heute ständig, wenn es um die Notwendigkeit von Interventionen in den Markt geht und die Marktvertreter darauf bestehen, auf den Automatismus des Marktes zu vertrauen. Indem sie es tuen, gefährden sie sogar im Extrem gesprochen die Existenz der Menschheit gegenüber der Klimakrise und sonstigen ökologischen Krisen.
In theoretischer Form wird diese Forderung gewöhnlich als ein Ergebnis der Analyse vom vollkommenen Markte aus behandelt. Der Charakter dieser Theorie wird damit völlig verkannt. Diese Theorie ist das Ergebnis einer Analyse des Marktes als einem transzendentalem Begriff, der niemals als solcher als ein empirischer Begriff behandelt werden darf.
Diese Art dogmatischer Argumente steht hinter der katastrofischen Entwicklung des Kapitalismus bis heute. Die heutige Opposition zum Kapitalismus wird durch Forderungen wie die von von Polanyi[1] vertreten, der zeigt, dass der Kapitalismus ohne systematische Interventionen in den Markt grosse makroökonomische Ungleichgewichte produziert, die heute immer grössere Katastrophen hervorrufen. Polanyi spricht von drei grossen Ungleichgewichten dieser Art. Es sind Ungleichgewichte in Bezug auf die Lohneinkommen, die einen Klassenkampf von oben darstellen. Ebenso handelt es sich um Ungleichgewichte in Bezug auf unsere äussere Natur, die sich heute ganz besonders in den ökologischen Krisen und der Klimakrise wiederspiegeln, aber ebenso auf dem Gebiet das Zugangs zum Boden für einen Grossteil der Menschen sich bemerkbar macht. Das dritte Ungleichgewicht, das Polanyi gegenwärtig macht, ist die ständig steigende Herrschaft des Finanzkapitals über die Wirtschaft und schliesslich über das gesamte menschliche Leben. Hier sind überall Interventionen nötig, um ein menschenwürdiges Überleben der Menschheit noch sichern zu können.
Dies ist die nötige Entwicklung die heute geschehen müsste, aber fast alle unsere wirtschaftlichen und sozialen Machtzentren und unsere offizielle öffenliche Meinung stellen sich weitgehend auf den Standpunkt einer ausserordentlich ideologisierten Markttheorie, die nichts weiter ist als die unsichtbare Hand des Todes und die man als als Hand des besseren Lebens kennzeichnet.
Es entsteht also von dieser Seite eine neue Vorstellung einer menschlichen Praxis wie sie Polanyi herausgestellt hat und die von daher natürlich auch weiterentwickelt worden ist.
Von Polanyi aus gesehen, handelt es sich um eine extreme Utopie der Perfektion. Dieser Utopie wird keineswegs ihre Legitimität bestritten, aber es muss gefordert werden, dass sie als Utopie im Sinne von Kant zu behandeln ist und daher als "regulative Idee" und nicht als eine empirische Kondition der Wirklichkeit.
"Die "Metaphysik der menschlichen Praxis" erkennt den transzendentalen Status der die Praxis leitenden Vorstellungen und geht davon aus, dass unter den Bedingungen der conditio humana alles kontingent, und nichts perfekt, das Ganze oder das Letzte ist. Dies bezieht sich also insbesondere auf die Dogmatik einer automatischen Tendenz des Marktes zum Gleichgewicht. Diese neue Sicht der Metaphysik begründet daher von dieser Tatsache her die Notwendigkeit einer auf Interventionen in den Markt konzentrierten das gesamte Wirtschaftssystem überziehenden Praxis.
Es geht hierbei um ein Problem. wie es Marx bereits aufgezeigt hat, wenn er sagt:
"Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter." (Karl Marx, Das Kapital, I, MEW, 23, S. 528/530.)
Es handelt sich folglich um ein Leben-Tod Problem, wie dies schon bei der Ableitung der Forderungen Polanyi der Fall war. Dies Problem ist nicht erzeugt durch die Umkehrung eines transzendentalen Begriffs in ein empirisches Ziel. Daher verwandelt es sich nicht in eine transzendentale Illusion, die wieder verheerend sein könnte.
Das Utopische der transzendentalen Begriffe
Gehen wir nun von den transzendentalen Begriffen aus, so müssen wir eben einerseits feststellen, dass sie Utopien enthalten, die regulative Ideen sind, wie Kant sie nennt. Da man sie nicht empirisch verwirklichen kann, muss man sie als regulative Ideen behandeln Wir haben dies gezeigt an Hand von Polanyi und seiner Entwicklung von Massnahmen, die den zerstörerischen Tendenzen von Institutionen entgegentreten.
Aber diese transzendentalen Begriffe haben noch eine andere wichtige Dimension. Sie haben allesamt einen utopischen Inhalt, der erklärt werden kann dadurch, dass diese Begriffe immer ihren Gegenstand als einen Zustand völliger Perfektion, also völliger Vollkommenheit, entwickelt haben. Indem sie diese Perfektion gegenwärtig machen, beschreiben sie einen nicht realisierbaren Zustand,. der durch menschliches instrumentales Handeln nicht verwirklicht werden kann. In diesem Sinne sind sie utopisch. Daher entstehen dadurch, dass man diesen Zustand gegenwärtig macht, Bilder einer anderen, einer "wahren" Weit, die jetzt eine Erde ist ohne den Tod. Die transzendentalen Begriffe enthalten als solche die Möglichkeit, solche Bilder zu entwickeln. Ausgehend von ihnen, kann jetzt eine andere, eine "wahre Welt" vorgestellt werden, die ganz einfach die andere Seite der Erfahrungswissenschaften ist. Es ist jetzt diese Wissenschaft selbst, die dazu anreizt, Bilder einer nicht möglichen Welt eines Lebens ohne den Tod vorzustellen, die direkt verbunden sind mit der Entwicklung der empirischen Wissenschaften.
Diese Entwicklung ist heute allgemein weitgehend bekannt. Die Vorstellung der wirtschaftlichen Wachstumsraten hat einen Prozess eines wachsenden Fortschritts gegenwärtig gemacht, der weitgehend als ein unendlicher Prozess diese Fortschritts aufgefasst wird. Geht das Denken von einem solchen Fortschritt aus, scheint kein Ziel dieses Wachstums unmöglich zu sein und der Mensch wird in Wirklichkeit selbst zu einem allmächtigen Wesen, der in der Perspektive dieses Prozesses alles was er nur wünscht auch irgendwann einmal auch verwirklichen kann. Diese Spekulationen sind heute weit verbreitet. Ihre Träger geben ihnen auch einen Namen. Dieser Namen ist Transhumanismus. Eines der Zentren dieser Spekulationen ist heute das Silicon-Valley (Region von Kalifornien). Es werden immer extremere Ziele ins Auge gefasst, und eines dieser Ziele dieses Transhumanismus ist immer auch die Schaffung der Möglichkeit, ein menschliches Leben ohne den Tod zu schaffen. Dies hat dann sogar Masseneffekte. Man sehe nur einen Artikel aus der Zeit über dieses Phänomen:
Der Titel: "Unsterblichkeit: Silicon und die Sowjets. Google und Amazon entdecken die Unsterblichkeit. Der Valley-Kapitalismus weist erstaunliche Parallelen zu kommunistischen Denkern auf. Deren Schriften sind 100 Jahre alt."[2]
Dieser Artikel kommt zum Ergebnis:
„Welche tatsächlichen Erfolge das Silicon Valley im Kampf gegen den Tod erreicht, wird sich zeigen. Auf die freiwillige Unterwerfung, die sich mit jedem Datenpaket aus iPhone, Facebook-Profil oder Fitness-Tracker vertieft, können die Tech-Unternehmen jetzt schon setzen. Im Gegenzug bekommt jeder User vom Silicon Valley schließlich das, was im politisch müde gewordenen Westen kaum noch produziert wird: eine radikale Fortschrittserzählung.“
Der Bioingenieur Aubrey de Grey aus dem Silicon Valley setzt alles daran, den
Tod abzuschaffen. Der erste Mensch, der 1.000 Jahre alt wird, sei schon geboren. Zeit online 14.9.18
Schließlich gab es eine Demonstration von Transhumanisten vor dem Hauptsitz von Google mit folgender Bitte: "Google, bitte befreie uns vom Tod".[3]
Es kann kein Zweifel sein, dass diese Art, eine wahre Welt vorzustellen, einen ausserordentlichen Zulauf in unserer Zeit hat.
Aber es gibt auch eine andere Sicht. Es handelt sich um eine entsprechende Vorstellung, die aber jetzt theologisch ist. Sie stammt weitgehend von Paulus von Tarsus ab. Da wird ebenfalls eine wahre Welt vorgestellt, die als "diese Erde ohne den Tod" gedacht wird. Sie wird mit der Auferstehung der Toten in dieser wahren Welt verbunden, setzt aber gleichzeitig einen Gott voraus, der diese Auferstehung möglich macht. Ich habe sie zuerst analysiert in meinem Buch Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus.[4]
Adorno hat ebenfalls diese Vorstellung vertreten, leitet sie aber jetzt aus der marxschen Denktradition ab.
Das Problem des entsprechenden Marxschen Textes ist, dass Marx noch nicht den Kommunismus als "Naturalismus= Humanismus, als vollendeter Humanismus=Naturalismus", den er später als "Reich der Freiheit" bezeichnet, als eine transzendentale Vorstellung ansieht, sondern ihn als empirisches Ziel zu erfassen sucht. Das aber ist unmöglich, sodass eine solche Vorstellung einer neuen Welt realistisch nur als das Ergebnis der Auferstehung der Toten gedacht werden kann.
Zu diesem Schluss kommt übrigens auch Adorno.
Adorno drückt dies aus, wenn er in seiner Negativen Dialektik schreibt, dass wahre Gerechtigkeit eine Welt verlangen würde, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich Vergangene widerrufen wäre (Adorno Negative Dialektik 1973, 395, Erste Ausgabe 1966). Diese absolute Gerechtigkeit liefe notwendigerweise und unausweichlich, so Adorno, auf die Auferstehung des Fleisches hinaus (ebd., Adorno 207). Dem fügt er hinzu: "Seine Sehnsucht (die Sehnsucht des Materialismus F.J.H.) wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung" (Adorno S. 207)
Adorno spricht nicht über Paulus. Aber die Befreiung des Körpers, von der Paulus spricht, ist offensichtlich so gut wie identisch mit dem, was Adorno den "Fluchtpunkt" des "historischen Materialismus" nennt.
In Wirklichkeit bin ich überzeugt, das die Interpretation der wahren Welt, die sich auf die Verbindung mit der Auferstehung stützt, realistischer ist als die mythisch-technischen Spekulationen des Silicon Valley y ihre Unendlichkeit.
[1] Karl Polanyi, Die große Transformation, 1944. Englische Übersetzung: The Great Transformation, Madrid, La Piqueta, 1989.
[2] Von Nils Markwardt Die Zeit online 8. April 2018, 17:54 Uhr . Dieser Artikel stammt aus dem "Philosophie Magazin" Nr. 03/2018. © Philosophie Magazin.
[3] siehe den Artikel von Kurt Seifert: Was fehlt? Transhumanismus als Anti-Utopie. Neue Wege, 11,2018, S.18
[4] Hinkelammert, Franz: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus Edition, Exodus/ Liberación. Freiburg (Schweiz) Münster 1985,. Dies Buch erschien zuerst auf Spanisch im Jahre 1977
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