Franz Hinkelammert

Ich möchte im Folgenden die Basis eines Forschungsprojekts vorstellen, das ich in den kommenden zwei Jahren durchführen möchte. Ich habe es auf folgende Weise formuliert: Die Ethik der neoliberalen Marktreligion und das  höchste Wesen für den Menschen, wie es Marx sieht.

Eine Ethik in dieser Richtung ist bei Marx impliziert und ich möchte sie gern expliziert entwickeln.  Für mich ist ganz selbstverständlich, was Walter Benjamin sagt: Der Kapitalismus ist Religion. Das ist er auch bei Marx, aber mit anderen Worten.  Bei Marx ist der Kapitalismus immer und notwendig ein Fetischismus. Marx ersetzt das Wort Religionskritik durch das Wort Fetischismuskritik. Aber dieses Wort hat sich nicht durchgesetzt. Daher kehrt Benjamin zu dem Wort Religionskritik zurück. Aber was er als Religion des Kapitalismus kritisiert, ist das, was sich bei Marx aus seiner Fetischismuskritik ergibt. Aber damit ergibt sich eben, dass in der marxschen Denktradition jede Kapitalismuskritik immer auch Religionskritik sein muss. Dies ist genau das, was ich weiterführen möchte.

Dies heißt aber auch, dass die Ideologiekritik nicht wirklich an die Wurzel geht, wenn sie nicht gleichzeitig Religionskritik ist.

Marx ging zu seiner Art Religionskritik über, als er sich mit Feuerbach auseinandersetzte. Marx sucht ständig einen Ausgangspunkt für seine Kritik an Feuerbach, den er andererseits sehr hochschätzt. Der Unterschied kommt bereits in seinem Prolog zu seiner Doktorarbeit zum Ausdruck, in dem er zwei Ansatzpunkte der Religionskritik unterscheidet, nämlich die Kritik der himmlischen und der irdischen Götter. Feuerbach ging von der Kritik der himmlischen Götter aus und Marx folgte ihm zunächst darin. Aber dann wendet die Religionskritik von Marx sich immer mehr der Kritik der irdischen Götter zu: vor allem Markt, Geld und Kapital. Dies führt zu den Thesen über Feuerbach aus dem Jahre 1845. Feuerbach gibt faktisch diesem Aspekt der Religionskritik fast keine Bedeutung. Dies führt dann Marx dazu, sich auf  diese Art der Religionskritik zu konzentrieren und sie dann Fetischismuskritik zu nennen. Auf die Kritik der himmlischen Götter geht Marx dann kaum mehr ein. Dem unterliegt ein Argument, das heute zweifellos sein Gültigkeit verloren ha. Es ist die Idee, dass der Sieg des Sozialismus gleichzeitig ein Sieg über die Warenproduktion selbst ist, die jetzt abgeschafft wird mit dem Resultat, dass sich die erwähnten irdischen Götter selbst auflösen müssen. Geschieht dies aber, so kann sich gemäß der Erwartung von Marx auch die Religion der himmlischen Götter nur selbst auflösen. Sie stirbt ab.

Tatsächlich versuchte der Sowjetische Sozialismus diese Abschaffung der    

Warenbeziehungen, musst aber bald davon wieder Abstand nehmen. Zuerst verschob er diese Abschaffung in die Zukunft, aber später wurde es offensichtlich, dass kein Sozialismus auch in der Zukunft diese Warenbeziehungen abschaffen kann. Damit aber kann er auch den Warenfetischismus nicht abschaffen, sondern ihm nur neue Formen geben. Folglich muss auch die Fetischismuskritik weiter stattfinden, denn mit jeder Warenproduktion geht die Produktion dieses Fetischismus, d.h. falscher Götter, notwendig weiter. Folglich hört auch die Religionskritik nicht auf, selbst wenn alle Menschen Atheisten würden. Der Atheismus ist ein Problem himmlischer Götter. Die irdischen Götter kann man nicht dadurch abschaffen, das man aufhört, an sie zu glauben. Sie sind Fetische des Handelns innerhalb einer Warenproduktion. Sie betrügen, aber man kann sie nicht betrügen. Man kann sie allerdings immer dann verstehen, wenn man die Sprache der Fetische versteht.

Damit aber verändert sich das Verhältnis auch zum Atheismus in Beziehung zu den himmlischen Götter. Es ergibt sich, dass irgendeine Forderung des Atheismus nur in Bezug auf die himmlischen Götter Sinn macht und möglich ist. Den irdischen Göttern gegenüber kann es keinen Atheismus geben. Die irdischen Götter sind. Sie haben natürlich nicht etwa eine sinnliche Existenz, also auch keine ontologische oder metaphysische. Auch irdische Götter sind unsichtbar, aber sie sind unsichtbar im selben Sinn, wie alle Institutionen unsichtbar sind. Institutionen sind unsichtbar, aber sie sind.  Sie können daher sogar als „objektiver Geist“ angesehen werden, wie dies etwa Hegel tut. Wir leben in einer unsichtbaren Welt, die die sichtbare sinnliche und materielle Welt ordnet. Sie ist wirklich da, aber sie ist eben unsichtbar. Das ist wie mit dem Hauptmann von Köpenick. Man kann ihm nicht ansehen, ob er Hauptmann ist. Man kann daher auch nicht sehen, ob er es nicht ist. Seine Uniform zeigt nicht, ob er tatsächlich ein Hauptmann ist.

Die irdischen Götter machen sich in dieser Sphäre der unsichtbaren Wirklichkeit gegenwärtig. Diese irdischen Götter sind daher auch keine Gespenster, an die ja auch viele glauben und die verschwinden, wenn man nicht mehr an sie glaubt.  Die irdischen Götter sind wie die gesamte unsichtbare Welt, in der wir leben. Mercedes ist eine Unternehmung, folglich eine Institution. Die Unternehmung Mercedes kann man nicht sehen und niemand hat sie je gesehen, nicht einmal der Präsident des Aufsichtsrats. Was man sieht, sind die Fabriken, die Eigentum der Unternehmung Mercedes sind. Aber dass sie Eigentum von Mercedes sind, kann man auch diesen Fabriken nicht ansehen. Man kann es nur erschliessen. Das ist immer so wie beim Hauptmann von Köpenick. Würde die Unternehmung Mercedes alle die sichtbaren Fabriken verlieren, die sie als Eigentum hat, würde deshalb die Unternehmung selbst weiterhin existieren können. Der Beweis für ihre Existenz wäre dann  Mercedes als juristische Person, die es geben kann, ohne dass sie irgendein sinnlich sichtbares Eigentum hätte.

Die Verdoppelung der Welt

Damit ergibt sich eine Verdoppelung der Welt, die mit der traditionell religiösen Verdoppelung als Himmel und Erde direkt nichts zu tun hat. Marx hat diese Verdoppelung zuerst angesprochen: die Verdoppelung der Ware in Gebrauchswert und Tauschwert. Der Gebrauchswert ist eine sinnlich erfassbare Grösse, der Warencharakter hingegen eine unsichtbare Grösse, deren Existenz nur erschlossen werden kann. Betrachtet man den Warencharakter der Ware, so ist die Ware voller Grillen, voller Zufälle, voller Abenteuer. Die Ware wird nicht produziert, sondern nur ihr Gebrauchswert. Alles was nicht Gebrauchswert ist, ist Produkt des Marktes, das nur sehr beschränkt vorhersehbar ist. Als Produkt des Marktes ist es Produkt einer unsichtbaren Institution, die von Menschen nur beschränkt erkennbar ist und auch nur beschränkt behandelt werden kann. An diesem Charakter macht Marx den Warenfetischismus fest. In der Logik dieser Wirklichkeit ergibt sich dann eine Verdopplung der Welt, in der die Verdopplung der Ware nur ein allerdings begründenden Element ist. Diese Verdopplung der Welt erleben wir ständig, obwohl wir uns nur selten ihrer bewusst werden. Es handelt sich um ein Problem des Bewusstseins, dass man nur dann lösen kann, wenn man sich dieses Bewusstsein auch tatsächlich schaffen will. Deshalb ist immer notwendig, sich dieses Bewusstseins bewusst zu werden und dabei Klarheit zu bewahren darüber, dass diese gesamte unbewusste Wirklichkeit Teil unserer gelebten Wirklichkeit ist. Sie ist keineswegs „gespenstisch“. Wir erfahren die Gegenwart dieser unsichtbaren Welt. Diese Welt ist und bleibt weitgehend unkontrollierbar. Alles wird durch einen scheinbaren Spielcharakter durchzogen, der aber in Wirklichkeit ein Risikocharakter ist. Keine Spieltheorie kann darüber hinausgehen, denn sie ist selbst Teil des Spiels. Die wissenschaftlichen Theorien pflegen dazu Begriffe zu bilden, die von dieser unsichtbaren Wirklichkeit abstrahieren. So etwa im Fall der Wirtschaftstheorie das Modell der vollkommenen Konkurrenz, ebenso das Modell der vollkommenen Planung und die gegenwärtige Theorie der Firma. Ganz ähnlich in der klassischen Physik das Trägheitsgesetz. Es handelt sich faktisch um transzendentale, d.h. die Bedingung der Möglichkeit betreffende Konzepte. In der Philosophie macht diese Abstraktion von dieser unsichtbaren Welt besonders scharf die analytische Philosophie. Ich behaupte nicht, dass dieser Art Abstraktionen als solche unwissenschaftlich sind. Was ich behaupte, ist, dass sie keine zwingende Erkenntnis unserer Wirklichkeit beinhalten. Für die Wirklichkeitserkenntnis können sie nur eine auxiliare Bedeutung haben.

Wittgenstein zeigt uns die Konsequenz. In seinem Vortrag über die Ethik[1] kommt er zum Schluss: Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Mord und dem Fallen eines Steins. Man kann dem eine wirklich skandalöse Form geben: Es gibt keinen Unterschied zwischen Auschwitz und dem Fallen eines Steins. Der Schluss ist einfach das Ergebnis einer Abstraktion, nämlich der Abstraktion von dieser unsichtbaren Wirklichkeit, die aber durchaus objektive Existenz hat. Genauso gut könnte man dann sagen: es gibt keinen Unterschied zwischen einem Atomkrieg und dem Fallen eines Steins. Der Unterschied, den Wittgenstein nicht beleuchtet, ergibt sich auf der Ebene dieser unsichtbaren Welt. Abstrahiert man von dieser Welt, ist der Schluss, den Wittgenstein zieht, völlig  richtig. Aber eben tautologisch. Wenn man von einem Aspekt der Wirklichkeit abstrahiert, existiert dieser Aspekt der Wirklichkeit eben scheinbar nicht, d.h. er wird selbst unsichtbar.  Diese Position von Wittgenstein überlebt heute in fast alleb empirischen Wissenschaften. Direkt übernimmt sie der Begründer der sogenannten Theorie des Humankapitals, Gary Becker. Von Gary Becker übernahm sie Foucualt und sehr viele andere. Auf dem Gebiet der  Sozialwissenschaften vertritt Max Weber die gleichen Thesen.

Mit dieser Sicht der Welt kann man Atombomben bauen, aber nicht Atomkriege verhindern. Um sie zu verhindern, muss man diese unsichtbare Welt in ihrer ganzen Komplexität ernst nehmen.  Die Fähigkeit, eine Atombombe zu bauen, setzt die Abstraktion von der Komplexität der Wirklichkeit selbst voraus. Die sich daraus ergebende reduzierte Wirklichkeit nennen wir Empirie. Um Atombomben zu bauen, muss man sich in diese abstrakte Wirklichkeit der Welt begeben und Atomphysiker werden. Aber wenn es darum geht, Atomkriege zu vermeiden, müssen wir uns der komplexen Wirklichkeit zuwenden. Ein Atomphysiker kann das nicht besser als irgendein anderer. Die Argumente sind einfach völlig andere als diejenigen, die dazu helfen, die Atombombe zu bauen. Es braucht dazu Ethik und ebenso Weisheit. Die kann man aber nur entwickeln in der Auseinandersetzung mit der gesamten komplexen Wirklichkeit. Einen Rückgriff auf die abstrakte Wirklichkeit der Empirie ist in dieser Situation nur störend.

Diese Negation der Komplexität der Welt ist im Neoliberalismus  völlig allgemein.  Hayek,  einer der wichtigsten Gurus des Neoliberalismus, sagt in einem Interview in Chile nach dem Militärpusch:

“Eine freie Gesellschaft braucht Moral die sich in letzter Instanz auf die Erhaltung von Leben reduziert: nicht auf die Erhaltung alles Lebens, denn es könnte notwendig sein, individuelles Leben zu opfern um eine größere Zahl anderer Leben zu retten. Daher sind die einzigen Regeln der Moral diejenigen, die zu einem ‘Kalkül des Lebens” führen: das Eigentum und der Vertrag.” Hayek, Friedrich von. Interview in der Tageszeitung Mercurio Santiago de Chile 19.4.81

Von der ganzen Komplexität des Marktes ist nichts übrig geblieben. Alles ist reduziert auf zwei simple Prinzipien. Schon jedes sechsjährige Kind kann bereits eine einwandfreie Wirtschaftspolitik entscheiden, sofern es nur diese beiden Prinzipien kennt: das Eigentum und den Vertrag. Man versteht von  hier aus auch Schäuble und seine Behandlung Griechenlands. Komplexität gibt es da nicht und Schäuble ist dabei begleitet von der EU, von Frau Merkel und allen Neoliberalen der Welt. Aus Griechenland hat er eine Halb-Kolonie gemacht, die fast keine Souveränität mehr kennt. Was herauskommt, ist das, was in Griechenland bereits gemacht wird und jetzt der ganzen Welt droht, nämlich die Alleszerstörung durch diese schrecklichen Vereinfacher, die überall an die Regierungsmacht zu kommen drohen.

Aber die Welt ernst zu nehmen, bedeutet nicht, dass man eine transparente Welt machen kann. Daher entstand in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung einer anderen Welt, die keine Verwirklichung der Utopie irgendeiner völligen Transparenz enthält: Eine Welt schaffen, in der alle Platz haben einschliesslich der Natur. Diese Vorstellung stammt gerade aus den noch verbliebenen vorkolumbianischen Kulturen, sei es dem mexikanischen Kulturraum wie auch dem Kulturraum der Anden. Ganz ähnliche Vorstellungen entstanden in Afrika und dort in der Kultur des Ubuntu und der Tradition bantú. Sie drücken es aus als: ich bin, wenn du bist. Natürlich sind sie auch gegenwärtig, wenn auch nur als Reste, in den darauf folgenden grossen Kulturen der Menschheit, in der jüdisch-christlichen Tradition, in der buddhistischen, der muslimischen und auch in der taoistischen Kultur. In dieser Vorstellung wird nichts optimiert und es gibt keine unendlichen Wachstumsvorstellungen mit ihrer unendlichen Perspektive und ihrer grenzenlosen Maximierung. Es geht dann darum, ob etwas möglich ist und man damit leben kann und dieses Leben das Leben aller einschliesst. Aber nichts wird rücksichtslos „optimiert“. Aber auch dies darf nicht ein Ideal werden, dem man sich durch irgendeine asynthotische unendliche Bewegung annähert.

Dies ist die allgemeine Friedenserklärung. Frieden mit allen Menschen und mit der Natur. Sie muss unsere allgemeine Kriegserklärung ablösen, die sagt: Frieden, damit der Krieg auf dem Markt sich voll entwickeln kann. Dieser Krieg auf dem Markt ist inzwischen zu einem Teil eines dritten Weltkriegs geworden, der - selbst gemäss dem Kriterium des gegenwärtigen Papstes ,-  heute auf Raten abläuft und jederzeit zu einer neuen Endlösung drängen kann. Diesen katastophalen Tendenzen entgegenzutreten, schliesst nicht als solches den Wettbewerb aus. Aber es begrenzt ihn auf eine Weise, dass niemand sein Leben oder seine Verelendung riskieren muss.

Der Wettbewerb ebenso wie die Maximisierung und Optimierung dürfen nicht zum tödlichen Krieg werden, wie ihn heute erleben müssen. Dieser tödliche Wettbewerbskrieg ist der Ausgangspunkt für die meisten anderen unserer Kriege  und für den Terrorismus. Es ist die Politik der sogenannten freien Welt, die verantwortlich ist für die meisten Kriege und Formen des Terrorismus heute. Gleichzeitig verdienen die Länder der sogenannten freien Welt damit viel Geld. Für sie lohnt es sich, zumindest für ihre herrschenden Klassen..

Dies alles kann man als die Religion des Marktes zusammenfassen, die heute all unser Leben durchdringt. Es handelt sich nicht um Materialismus, sondern um den schändlichsten aller Idealismen. Die Transformation des Geldes in einen Gott – wenn man so will: in Mammon – ist der absolute Übergang zu einer bestimmten Form von Idealismus. Deshalb sind ja gerade diejenigen, die diesem Gott Geld bedingungslos anhängen, häufig so fromm. Sie sind geldfromm.

Die Kritik an den Göttern

Wohin führt uns die Kritik am Gott Geld und seiner Religion? Er führt gerade nicht zum Glauben an irgendeinen wahren Gott. Das ist interessant und wird gerade von Marx entdeckt oder vielmehr wiederentdeckt und erneuert. Marx sagt dies mit folgenden Worten:

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." (Marx, Karl: Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, 385 Deutsch-Französische Jahrbücher 1844. Es handelt sich um eine der ersten theoretischen Arbeiten von Marx, die von ihm selbst 1844 bereits veröffentlicht wurde)

Das Zitat stammt aus einem der ersten theoretischen Aufsätze, die Marx bereits 1844 publizierte: Marx, Karl: Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, 385 Deutsch-Französische Jahrbücher 1844. Es gibt gleichzeitig eine Position wieder, die Marx sein gesamtes späteres Leben beibehält, obwohl er diese später mit anderen Worten wiedergibt. Dies hängt damit zusammen, dass Marx dasjenige, das er in diesem Zitat als Kritik der Religion bezeichnet, später unter dem Namen Kritik des Fetischismus weiterführt. Das Zitat ergibt sich  aus seiner Religionskritik deutlich: das höchste Wesen für den Menschen ist nicht Gott, sondern der Mensch. Der zweite Teil des Satzes bezieht sich darauf, was der Mensch tut, für den der Mensch des höchste Wesen ist. Dieses Tun ist: alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Ein Handeln hiernach bezeichnet Marx als Handeln gemäß dem kategorischen Imperativ. Dies ist eine Kritik an Kant. Dessen kategorischer Imperativ ist ein Gesetzeskriterium das sich an der Erfüllung des Gesetzes als Pflicht orientiert. Der kategorischen Imperativ, den Marx dem entgegenhält, ist der eines den Menschen befreienden Handelns, das über alles Gesetzes gestellt wird und diese Gesetze selbst begrenzt oder ausser Kraft setzt, wenn das menschliche Leben es erfordert. Marx spricht hier eine bestimmte Gesetzeskritik aus.

Das Zitat von Marx ist ein Aufruf. Es fällt dabei sehr bald auf, dass dieser Aufruf  in unserer Geschichte in ganz ähnlicher Form  in bestimmten Situationen bereits stattgefunden hat. Es ist der Aufruf, der als messianischer Aufruf bekannt ist. Gemäss der jüdischen Bibel wird er zuerst formuliert nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft im Text des Jesaias:

„Der Geist des Herrn Jahwe ruht auf mir; denn Jahwe hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen, zu heilen die gebrochenen Herzens sind: den gefangenen Befreiung und den Gefesselten Erlösung anzukündigen, auszurufen ein Gnadenjahr von Jahwe, einen Tag der Rache für unseren Gott: alle Betrübten zu trösten und ihnen die Asche mit einem Diadem, das Trauerkleid mit Freudenöl und den verzagten Geist mit Festgesang zu vertauschen.“ ( Jes 61,1–3).

Hier wird nicht gesagt, wer der Messias ist, sondern was das messianische Tun ist in der bestimmten historischen Situation. Dieser Aufruf hat ganz wie der Marxsche zwei Teile. Der erste sagt, wer den Aufruf macht, und der Zweite sagt wozu aufgerufen wird. Der erste Teil ist: Der Geist des Herrn Jahwe ruht auf mir; denn Jahwe hat mich gesalbt. Darauf folgt der Zweite Teil, in dem gesagt wird, zu welchem Handeln aufgerufen wird.

Was sofort auffällt, ist dass der Zweite Teil des messianischen Aufrufs von Jesaia faktisch mit dem Inhalt dessen übereinstimmt, zu dem auch bei Marx aufgerufen wird.  Es wird allerdings mit anderen Worten gesagt.

Es gibt eine weitere berühmte Stelle, an der ein ganz ähnlicher Aufruf stattfindet. Es handelt sich um einen Aufruf von Jesus gemäss dem Evangelium des Lukas:

„Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat: er hat mich gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Unterdrückten in Freiheit zu entlassen, auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn.“ (Lk 4,18–19).

Hier ist es wieder der erste Teil, in dem sich der Aufrufende vorstellt: Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat. Dieser erste Teil ist mit dem ersten Teil des Aufrufs von Jesaia identisch. Darauf folgt der zweite Teil des Ausrufs und es zeigt sich, dass dieser zweite Teil in allen drei zitierten Fällen des Aufrufs identisch ist.

Es handelt sich daher um Aufrufe, die zu etwas aufrufen, das in allen drei Fällen identisch ist. Aber es besteht ein bedeutender Unterschied in Bezug auf denjenigen, der aufruft. In den beiden ersten Fällen ist der Aufruf religiös: es sind religiöse Aufrufe an  eine sich religiös verstehenden Welt. Daher sind es Aufrufe im Namen Gottes. Der dritte Aufruf hingegen – der von Marx – geschieht nicht in einer religiösen, sondern in einer profanen Welt. Der Aufruf geschieht daher im Namen des Humanen, im Namen der Menschlichkeit, im Namen des Menschen. Die anderen Aufrufe geschehen im Namen Gottes. Im  marxschen Aufruf wird man im Namen eines Humanismus der Praxis aufgerufen: alle Verhältnisse umzuwerfen..... In den beiden anderen Aufrufen geschieht es im Namen Gottes, für den derjenige, der aufruft, ein Gesalbter Gottes ist und in beiden Fällen ein Gesalbter des Gottes Jahve.

Man könnte diesen Unterschied mit einem Ausdruck von Dietrich Bonhoeffer beschreiben: Im marxschen Aufruf geschieht der Aufruf in einer „mündigen Welt“ und richtet sich an „mündige Menschen“. Die Welt, in der dies geschieht, ist eine andere als die vorherige. Daher kann der Aufruf, wie ihn  Marx darstellt, definitiv universal sein. Jeder kann von ihm sich ansprechen lassen, ohne Unterschied der Religion, aber auch wenn er ohne Religion überhaupt ist. Es gibt keinen definitiven Unterschied zwischen Religionen und Atheismus.

Mich beeindruckt sehr die Position von Bonhoeffer in seinen Briefen aus dem Gefängnis veröffentlicht unter dem Titel: Widerstand und Ergebung.[2] Er sagt dort:

„Ich arbeite mich erst allmählich an die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe heran. Ich sehe mehr die Aufgabe, als dass ich sie schon zu lösen vermöchte.   S. 191

Mir scheint offensichtlich, dass die marxsche Formulierung gerade im Sinne von Bonhoeffer ein „nicht-religiöse Interpretation“ eines biblischen Bedgriffes ist.

Er nennt dann diese „mündige Welt“ eine Welt „etsi deus non daretur  (als ob es keinen Gott gäbe) und fügt hinzu:

„Insofern kann man sagen, dass die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt. Hier wird wohl die ‚weltliche Interpretation’ einzusetzen haben.“ S. 193

Bonhoeffer fügt hinzu:

„Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat.“ S. 195

Es handelt sich offenbar um die Diesseitigkeit eines Humanismus der Praxis. Er ist für Bonhoeffer offensichtlich der wirkliche Zugang zu Gott. Es handelt sich um eine Diesseitigkeit, die den transzendentalen Kern der Immanenz (den himmlischen Kern des irdischen) sichtbar macht.

Das Außerordentliche dieser Analyse scheint mir zu sein, dass für eine Perspektive, für die Bonhoeffer noch keinen Zugang entdeckt, dieser Zugang sich gerade bei Marx und seiner Formulierung des messianischen Aufrufs findet. Es ist die marxsche Formulierung einer Diesseitigkeit, die die Sicht auf die Welt erlaubt, die Bonhoeffer durch das etsi deus non daretur beschreibt.

Damit ist die marxsche Formulierung die geeignetste Formulierung, durch die Idolatrien wie die neoliberale Religion des  Marktes als falsche Religion oder als Religion falscher Götter angesprochen werden kann.  Es handelt sich um die Religionen, für die der Mensch nicht das höchste Wesen für den Menschen ist. Man sieht dann sofort, warum das Kriterium der Idolatriekritik kein religiöses sein kann und daher nicht sein muss. Sie geschieht nicht im Namen eines wahren Gottes gegenüber irgendeinem falschen Gott. Das Kriterium ist kein Gott, sondern der Mensch (als höchstes Wesen für den Menschen).

Der Vorrang des Menschen

Das was dieser Aufruf formuliert, ergibt sich ebenfalls in ganz ähnlicher Form in einem Ausdruck, der eine lange Geschichte hat. Dies wurde in einer Meinung der deutszchen Kanzlerin Merkel deutlich, wenn sie sagte, dass die Demokratie marktkonform sein muss.

„Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung. FAZ 21.12. 2016

Das führte zu Protesten, die fragten, warum denn nicht vielleicht der Markt demokratiekonform sein müsste. Diese Position können wir dann auch ausdrücken, wenn wir sagen: Der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da. Frau Merkel macht sehr klar, dass ihrer Meinung nach der Mensch für den Markt da sein muss. Dies entspricht ganz den Forderungen der neoliberalen Marktreligion.

Aber nicht nur Frau Merkel. Die Parteibürokraten der republikanischen Partei der USA formulierten im Jahre 1980 eine Erklärung in Vorbereitung der dann folgenden Regierung Reagan, die den Namen Erklärung von Santa Fe führte. Um ihr diesen Namen geben zu können, versammelten sie sich in einer Stadt in den USA, die Santa Fe heisst. Die Erklärung ist tatsächlich eine Glaubenserklärung der neoliberalen Religion des Marktes und nennt sich auch so, auch wenn man vermeidet, diesen Namen zu ledgitimieren. Diese Glaubenserklärung wird folgendermassen ausgedrückt:

"Bedauerlicherweise haben marxistisch-leninistische Kräfte die Kirche als politische Waffe gegen das Privateigentum und den produktiven Kapitalismus benutzt, indem sie die gläubige Gemeinde mit Ideen infiltrieren, die eher kommunistisch als christlich sind." Erklärung von Santa Fe 1980

Wieder geht es darum, dass der Mensch für den Markt ist. Dies wird dadurch ausgedrückt, dass sich die Erklärung auf  „Privateigentum und den produktiven Kapitalismus“ bezieht die hier als das wahre Christentum gepriesen werden.

So wird die Parteibürokratie Reagans und dahinter ebenfalls der CIA zur maximalen Autorität auf dem Gebiet der Theologie. Er verteidigt das Christentum, aber nur unter der Bedingung, dass es sich auf diese Religion des Marktes und den Kapitalismus gründet. Wenn nicht, hat der CIA seine eigene Theologie, die selbst das Christentum  dazu verurteilt, so unmenschlich behandelt zu werden wie man es mit den Kommunisten tut.

Die Marktreligion wird zum Wahrheitskriterium für alle christliche Religion, die nur wahr sein kann, wenn sie mit den grundlegenden Aussagen der Marktreligion übereinstimmt. Eine Diskussion mit der Theologie ist unnötig, in Wirklichkeit aber auch unmöglich. Auf jeden Fall gilt: der wahre Gott ist der Warengott. Analog zum mittelalterlichen Prinzip „Extra ecclesiam nulla salus“ – „Ausserhalb der Kirche kein Heil“ - gilt jetzt: „Ausserhalb des Marktes kein Heil.“

Aber bereits vorher kam Rockefeller, der US-Vizepräsident unter der Regierung Nixon, im Verlaufe einer Reise durch Lateinamerika im Jahres 1969 zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. In seiner Erklärung kam er zu dem Ergebnis, dass die Befreiungstheologie eine Bedrohung für die Sicherheit der USA sei.

Das Ergebnis war katastrophal. Von dieser Reise Rockefellers an fand eine der grossen Christenverfolgungen unserer Geschichte statt. Tausende von Christen wurden ermordet, viele davon zu Tode gefoltert. Nonnen wurden vergewaltigt, viele Priester getötet. Es wurden sogar mehrere  Bischöfe umgebracht. Eine der letzten Aktionen dieser Verfolgung war die Ermordung einer ganzen Gruppe von Jesuiten in San Salvador im Jahre 1989. Es wurden 6 Jesuiten und zwei angestellte Frauen ermordet. Die Verantwortung für diese Verfolgungen liegen sowohl bei der US-Regierung wie auch bei den Regierungen der betroffenen Länder, die in ihrer Mehrheit totalitäre Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit waren. Es handelt sich um Märtyrer, die gleichzeitig von der neoliberalen Religion des Marktes her gerechtfertigt wurden. Aber diesen Märtyrern gegenüber spaltete sich das Christentum selbst. Ein grosser Teil unterstützte diese Christenverfolgung. Aufs neue erfüllte sich ein Jesuswort, das besagt: es kommt sogar die Stunde, wo jeder, der euch tötet, meinen wird, Gott einen Dienst zu erweisen. Joh 16,2

Diese Konflikte drückten sich auch auf eher theoretische Weise aus. Die Zentralität des Menschen als höchstes Wesen für den Menschen erschien dann in einer besonderen Form: der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da.  Man erkennt sofort, dass es sich um einen Ausdruck handelt, der ebenfalls Jahrtausende alt ist. Dies zeigt ein Jesuswort, das sagt: der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da. Statt Sabbat können wir auch sagen Sonntag, und statt Sonntag können wir auch sagen Tag des Herrn. Dann verwandelt sich etwas das Jesuswort. Es sagt jetzt, der Mensch ist nicht für den Tag des Herrn da, sondern der Tag des Herrn ist für den Menschen da. Ich nehme an, dass Jesus bereits diese Bedeutung des Satzes gegenwärtig hatte. Der Satz sagt dann natürlich auch: Gott ist Mensch geworden. Der Satz zeigt dann, dass er eine ganz radikale Kritik der Autoritäten einschließlich der Autorität der Götter enthält.

Aber in der Geschichte des Christentums sich diese Kritik an den Autoritäten nicht sichtbar gemacht. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die Christianisierung des Imperiums gleichzeitig eine Imperialisierung des Christentums war. Das Christentum wurde mit dem konstantinischen Zeitalter die Religion der Autoritäten. Daraus folgte dann, dass man den autoritätskritischen Inhalt der Wortes Jesus über den Sabbat nicht entwickelte, sondern eher unterdrückte. Eine neue Entwicklung kann anscheinend erst heute stattfinden.

Aber das marxsche Denken und auch nicht der daraus entstehende Marxismus haben diese Argumentation aufgenommen oder weitergeführt. Die Gründe dafür sind wichtig zu diskutieren, denn sie zeigen einen Mangel der vorhergehenden marxschen Argumentation selbst an.

Das Scheitern des Projekts der Abschaffung der Warenbeziehungen.

Für diese marxsche Argumentation hat es keinen Sinn, eine, wenn auch konfliktgeladene, Zusammenarbeit mit dem Markt zu entwickeln, da es ja in Wirklichkeit nach Meinung von Marx um seine Abschaffung geht. Man muss daher Anstrengungen entwickeln, um den Markt abzuschaffen. Vom Markt auszugehen, um ihn zu intervenieren, scheint dann ein zu bekämpfender falscher Reformismus zu sein. Ich glaube, dass diese Haltung für die sozialistische Bewegung enormen Schaden hinterlassen hat. Aber sie ist heute weitgehend überwunden, da die Unmöglichkeit der Überwindung der Marktbeziehungen selbst einfach eine Erfahrung der Geschichte dieser Bewegungen ist. Man muss daher jetzt eine Form der Praxis entwickeln, die in jedem Moment davon ausgeht, dass sich die Warenbeziehungen zwar verändern lassen, aber eben nicht abgeschafft werden können. Es gibt inzwischen viele auch theoretische Entwicklungen in dieser Richtung.

Die marxsche Kommunismusvorstellung, die Marx 1844 in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausführt, verwandelt sich hierdurch in eine transzendentale Vorstellung. Sie wird keineswegs überflüssig, aber sie verwandelt sich in einen Horizont, den man gegenwärtig machen, aber nicht verwirklichen kann. Er definiert Grundwerte, die immer nur in jedem Moment neu innerhalb der Institutionen Markt und Staat angenähert werden können. Er ist ein transzendentaler Kern der Immanenz.  Man könnte diesen Begriff dann auch den himmlischen Kern des Irdischen nennen.

Diese Überzeugung der Machbarkeit selbst der Kommunismusvorstellungen hat ganz offensichtlich die ganze sozialistische Bewegung sehr geschwächt. Es handelt sich allerdings um einen Mythos von Machbarkeitsvorstellungen, die die gesamte Moderne beherrscht haben. Diese Art absoluter Machbarkeit ist heute nicht mehr im marxistischen Danken die herrschende Vorstellung und damit weitgehend überwunden. In unserer Gesellschaft sind aber diese Art Machbarkeitsmythen immer noch herrschend, und zwar gerade im Neoliberalismus und seinem Grundmythos vom Automatismus des Marktes und seiner Selbstregulierung. Dies ist einer der Gründe seiner absoluten Gefährlichkeit. Die Neoliberalen haben nicht die Idee von einer Kritik ihrer eigenen utopischen Vernunft, die heute gerade gegenüber diesem Neoliberalismus nötig wäre.[3] Es handelt sich um das, was Kant in einem anderen Zusammenhang eine „transzendentale Illusion“ nennt.

In der deutschen Linkspartei sind Vorstellungen entstanden, die unter diesem Gesichtspunkt entwickelt werden. Eine wichtige Rolle hat dabei die Abgeordnete Sarah Wagenknecht gespielt. Es wurde klar, dass eine Alternative zu unserem herrschenden verwilderten Kapitalismus nicht mehr  Abschaffung der Warenbeziehungen und eine allgemeine Planwirtschaft sein kann, sondern heute eine systematische Intervention in den Markt und die Märkte sein muss. Dies führte dann natürlich zu einem neuen Interesse daran, wie sich die Intervention der Märkte im Kapitalismus entwickelt hat. Damit aber trat diejenige Periode des Kapitalismus in die Diskussion ein, in der selbst der Kapitalismus  eine systematische Intervention der Märkte entwickelt hat. Dies war zweifellos die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Man diskutierte daher gerade in der Linken wieder die Bedeutung des wichtigsten Wirtschaftstheoretikers der Intervention der Märkte, der Walter Eucken war. (1891 – 1950) Darüberhinaus natürlich die Wirtschaftspolitiker die die Form dieser Organisation der Wirtschaft in diesen Jahrzehnten durchsetzten. Es handelt sich insbesondere um den Minister Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, der sein bedeutendster Mitarbeiter war. Es ist im modernen Kapitalismus die erfolgreichste Periode einer wirtschaftlichen Entwicklung mit hohen Wachstumsraten und einer gleichzeitigen schnellen Entwicklung eines bedeutenden Sozialstaats. Dies trat jetzt in die Diskussion ein. Es handelte sich nicht etwa darum, jetzt die damalige Politik zu kopieren oder als Modell zu benutzen, sondern darum, jede weitere politische Alternative im Sinne einer solchen Politik der systematischen Interventionen in den Markt zu begründen. Heute handelt es sich sehr häufig um andere Interventionen die heute notwendig sind, wie z.B. um eine Neuorientierung in allem, was mit der Politik des Wirtschaftswachstums zu geschehen hat.

Seit dem Ende der siebziger Jahre definierte sich der Kapitalismus aufs neue als wilder Kapitalismus. Die Rückkehr dieses Kapitalismus begann mit dem Militärputsch in Chile 1973 und der Entwicklung der totalitären Regime der Nationalen Sicherheit sowohl in Chile wie auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas. Darauf folgte die Neudefinition des Kapitalismus durch Margret Thatcher in England und dann durch Reagan 1980 in den USA. Dies führte dann zu dem was man den Konsens von Washington und dann die Politik der Globalisierung nannte, die heute weltweit in eine Krise des Gesamtsystems umschlägt.

Dies führte in dieser Zeit zu einer weitgehenden Neudefinition der politischen Parteien, die in Deutschland und Europa die Politik der systematischen Intervention in den Markt betrieben hatten, insbesondere der christdemokratischen und der sozialdemokratischen Parteien. In Deutschland verwandelt sich die Christdemokratie grundlegend. Ihr Name „christlich“ verwandelte sich in eine Art von Gotteslästerung. Heute könnte kein Politiker der Christdemokraten noch eine Wirtschaftspolitik vorschlagen, wie sie Erhard durchgesetzt hatte.[4] Er würde als extremer Linker erklärt und angefeindet werden. Fast dasselbe geschah in der Sozialdemokratie. Das Dogma der neoliberalen Religion des Marktes schluckte alles.

Eine solche Veränderung musste natürlich Konsequenzen haben für die Marxsche Religionskritik, die ja Teil des gesamten marxschen Denkens ist. Man muss sich hier erinnern, dass der Atheismus von Marx kein metaphysischer oder dogmatischer Atheismus ist, wie er dann später, nach dem I. Weltkrieg, in den sozialistischen Ländern üblich wurde. Für Marx gibt es auch keinen Zweifel daran, dass, wenn man die Existenz Gottes nicht beweisen kann, man seine Inexistenz genauso wenig beweisen kann.

Die Religionskritik von Marx, ebenso wie die Religionskritik von Feuerbach, ist eine Kritik der Selbstentfremdung, für die die Religion ein Ergebnis dieser Selbstentfremdung ist. Bei Marx tritt später an die Stelle der Selbstentfremdung  der Fetischcharakter. Daher gilt dann auch jede religiöse Ethik – jeder Sinai – als heteronome Ethik, an deren Stelle eine autonome Ethik treten muss. Hieraus folgt dann, dass Marx als Ergebnis der Überwindung der Selbstentfremdung, die er vom Sozialismus erwartet, das Absterben der Religion erwartet. Marx will die Warenproduktion abschaffen, nicht aber die Religion. Er geht vielmehr davon aus, dass mit der Abschaffung der Warenproduktion das Absterben der Religion eingeleitet wird. Er wehrt sich daher, zusammen mit Engels, gegen Vorschläge, den Eintritt in die Sozialdemokratische Partei davon abhängen zu machen, dass die eintretende Person Atheist ist. Diese Atheismuserklärung wird erst sehr viel später nach dem Tod von Marx und Engels in vielen sozialistischen Parteien gefordert.

Das Ergebnis, das folgt, ist, dass die marxsche Religionskritik ihre Dimension ändert. Als Ergebnis der Erfahrungen des Sozialismus im XX. Jahrhunderts wird gerade das, was Marx an der Religion kritisiert,  zu einem Gegner, der nicht abschaffbar ist. Es handelt sich um das, was Marx zuerst die Selbstentfremdung und später den Fetischismus der Ware nennt. Die marxsche Religionskritik kann nicht mehr einfach antireligiös bleiben, sondern muss selbst in der Religionsgeschichte die vielen religiösen Auseinandersetzungen mit eben diesen religiösen Phänomenen der irdischen Götter entdecken, die nicht absterben und auch nicht absterben werden.. Es ist jetzt die marxsche Religionskritik selbst, die dies fordert. Sie ist gerade nicht widerlegt,  aber sie ist neu interpretiert. In dieser Form aber wird ihre Gültigkeit gerade bestätigt. Und es zeigt sich, dass sie das Ergebnis einer Jahrtausende langen Geschichte der Idolatriekritik ist, die nicht nur, aber weitgehend von der jüdisch-christlichen Tradition herkommt. Es handelt sich allerdings um eine Tradition, die ganz ausserordentlich oft in dieser Geschichte unterbrochen wurde, und sehr häufig schlechterdings als häretisch betrachtet wurde und wird. Sie wurde faktisch von Marx wiederentdeckt und in unsere moderne Gesellschaft eingeführt in einer völlig neuen Breite ihrer Geltung. Und ich bin überzeugt, dass sie gerade heute wieder notwendig wird als eines der grundlegenden Elemente eines möglichen und notwendigen Übergangs zur Transmodernität, wie es Henrique Dussel nennt. Diese Religionskritik ist, wie wir gesehen haben, nicht etwa widerlegt, sondern ganz im Gegenteil heute in ihrer Geltung bestätigt.

In dieser ihrer heutigen Form führt daher diese marxsche Religionskritik zur Bestätigung der Aussage, die wir vorher bereits vorgestellt haben:

„Der Mensch ist nicht für den Markt da, sondern der Markt ist für den Menschen da.“

Dies gilt nicht nur für den Markt sondern ganz ebenso für das Geld und das Kapital. Es handelt sich wiederum um eine universale Forderung. Da heute der Markt die höchste strukturierende Institution der Weltgesellschaft ist, muss diese Forderung eine Grundforderung jeder menschlichen Ordnung heute sein.  Diese universale Forderung tritt neben die vorher entwickelte Forderung danach, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.[5]

Dies gilt über alle Religionen und auch über die Religion selbst hinaus. Man sieht sehr leicht die grosse Nähe, die diese Universalität der Forderungen hat mit dem, was im Mittelalter als aristotelisch-thomistisches Naturrecht vorgestellt wurde. Aber dieses Naturrecht hatte noch nicht den Grad von Universalismus, den die hier auf der Basis des marxschen Denkens entwickelten heute anliegenden universalen strukturierenden Forderungen der Freiheit haben. Heute ergibt sich daraus ein Humanismus der Praxis, der universal ist.

Die Freie Entwicklung aller

Im kommunistischen Manifest führt Marx dann einen Begriff ein, der all diese bisher erwähnten marxschen Vorstellungen – die universalistischen Vorstellungen denen gemäss der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist wie auch die Forderung, dass der Mensch nicht für den Markt da ist, sondern der Markt für den Menschen – in einer Synthese zusammenfasst. Er sagt:

“An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.”[6]

Diese Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist, setzt die Gültigkeit der vorherigen universalistischen Vorstellungen der menschlichen Gesellschaft schlechterdings voraus und impliziert sie. Man kann daher nicht die Aussagen von Marx aus dem Jahre 1844 einfach als Aussagen des jungen Marx abtun, der noch nicht „Marxist“ ist, wie dies etwa Althusser tut. Es ist derselbe Althusser, der dann die spätere marxsche Fetischismustheorie  einfach als „Ideologie“ abtut und der dann behauptet: Der Marxismus ist kein Humanismus. Daher bestehen wir hier darauf, dass Marx einen neuen Humanismus der Praxis konstituiert.

Der Brudermord als Gründungsmord

Die humanistische Seite allen marxschen Argumentierens erscheint dann bei Marx an einer sehr bezeichnenden Stelle, nämlich am Schluss der von ihm selbst betreuten ersten Edition des "Kapitals" aus dem Jahre 1867. Zu dieser Zeit umfasst das Buch nur einen einzigen Band. Erst nach dem Tode von Marx fügt Friedrich Engels nicht veröffentlichte Manuskripte von Marx hinzu und erweitert dadurch "Das Kapital" auf drei Bände. Ich zitiere hier jetzt den Text, der sich am Ende dieser ersten Edition des Kapitals findet. Diese Edition umfasst 25 Kapitel, aber die Kapitel 24 und 25 stellen nur einen Anhang zur Geschichte des Kapitalismus dar, insbesondere zur sogenannten "ursprünglichen Akkumulation". Mit dem Kapitel 23 schließt Marx also seine Kritik der politischen Ökonomie eigentlich ab. Das Zitat, das mich hier interessiert, umfasst die letzten Sätze, mit denen Marx seine Hauptanalyse im Kapitel 23 beschließt. Es lässt sich also nicht übersehen, dass der Ort, an dem das Zitat zu finden ist, nämlich der Schlussabschnitt der theoretischen Analyse im wichtigsten Werk, das Marx noch persönlich editiert, eine höchst symbolische Bedeutung besitzt.

Marx schreibt hier:

"Und gegenüber der alten Seekönigin erhebt sich drohend und drohender die junge Riesenrepublik: 'Acerba fata Romanos agunt, Scelusque fraternae necis'."

Marx selbst übersetzt das lateinische Horaz-Zitat nicht ins Deutsche. Spätere Fehlübersetzungen haben nur Verwirrung hervorgerufen. Richtig übersetzt müsste das Zitat lauten:  "Bitteres Verhängnis treibt die Römer um: die Missetat des Brudermords". Wenn wir aus dem Horaz-Gedicht zwei weitere Zeilen hinzufügen, die Marx nicht erwähnt, wird unsere Übersetzung bestätigt:

 "ut inmerentis fluxit in terram Remi sacer nepotibus crúor”.

"Und übers Haupt der Enkel kommt des Remus Blut, das schuldlos einst zur Erde floss."

Während Horaz im ersten Satz vom bitteren Verhängnis sprach, macht er hier im zweiten Satz einen Fluch für die Nachkommen daraus.

Marx greift diesen Gedanken von Horaz auf, um den Brudermord aufzudecken. Aber er denkt erheblich weiter, als es Horaz wahrscheinlich im Sinne hatte. Horaz bezieht sich auf Romulus und Remus und verweist damit auf den römischen Bürgerkrieg, den er gerade erlebt. Horaz grenzt den Begriff des Bruders auf Volkszugehörigkeit ein, für ihn also auf das römische Volk. Damit wird der Mord an einem Römer zum Brudermord, während die Ermordung eines Galliers oder eines Germanen kein Brudermord ist. Demgegenüber entgrenzt Marx den Begriff des Bruders, weil er zweifellos alle Menschen als Brüder (und Schwestern) betrachtet, und deshalb jeden Mord als Brudermord denunziert. Diesen universalen Bruderbegriff unterstellt nun Marx auch dem Horaz. In unserer abendländischen Tradition beziehen wir uns beim Gedanken an den Brudermord eher auf den Mythos von Kain und Abel. Wir können also jetzt auch den Schluss daraus ziehen, dass Marx den Horaz-Text im Licht des Mythos von Kain und Abel deutet. Oder anders gesagt: im Licht des universalen Brudermords, der in unserer Tradition üblicherweise im Mythos von Kain und Abel dargestellt wird.

Marx spricht also vom Brudermord, verwendet jedoch den Text von Horaz, um den Brudermord zu deuten. Dieses wichtige Ergebnis gilt es festzuhalten. Es beweist, dass Marx die menschliche Gesellschaft anklagt, auf dem Brudermord als Gründungsmord aufgebaut zu sein und daher unter einem Fluch steht. Darüber hinaus beweist die Einordnung dieser Anklage am Ende seines Hauptwerkes "Das Kapital", dass er sein ganzes Denken und Werk aus der Sicht der Anklage des Brudermords als Gründungsmord gedeutet wissen will. Also müssen auch wir das Werk im Licht der kulturellen Tradition des Judentums deuten. Diese Deutung steht im offenen Konflikt zu der Interpretation, mit der Freud die okzidentale Gesellschaft deutet, wenn er ihr den Vatermord als Gründungsmord unterstellt.

Freud lässt in seiner Analyse die Tradition des Judentums und deren Deutung vom Gründungsmord vollständig beiseite. Deshalb kennt Freud eben auch keinen Vater Abraham, der die jüdische Form ist, den Vater zu denken. Stattdessen u8nterstekllt Freud der jüdischen Tradition den Moses als Vater, was für die ursprüngliche jüdische Position einfach nicht stimmt. Da ist Abraham der Vater, und der Brudermord der Gründungsmord, der überwunden werden muss.

Marx bezieht sich nur indirekt auf Kain, und zwar weil er sich nicht, wie ich vermute, nur an eine bestimmte Tradition gebunden wissen möchte, und weil er auch Imperium bzw. Herrschaft mitbedenken möchte, die zwar ihrerseits auch den Brudermord beklagen, aber ihn zugleich begehen, indem sie jeden Brudermord mit einem neuen Brudermord verfolgen, um einen angeblichen Vatermord zu beenden, den Freud als den ursprünglichen Gründungsmord ansieht. Das spielt bereits vor Freud`s Zeiten eine Rolle[7]. Auffällig jedoch ist, dass Herbert Marcuse diesen Zusammenhang nicht erkennt, wenn er Psychoanalyse und Marxismus miteinander in Verbindung bringen will. Ebenso wenig Erich Fromm, während Marx ihn klar zu erkennen scheint. Er will wirklich ein mündiger Mensch in einer mündigen Welt sein. Aber ebenso auffällig ist, dass Pinochet nach dem Militärputsch in Chile behauptete, dass alle Subversiven Vatermörder seien.

Interessant ist ferner, dass Marx im obigen Zitat "die alte Seekönigin" ( in der Antike Rom, zu Marx Lebzeiten England, für uns heute die USA) und die "junge Riesenrepublik" gegeneinander stellt. In der "jungen Riesenrepublik" erkennt er die von unten her organisierte Zivilgesellschaft, die sich aber nur dann als Republik konstituieren kann, wenn sie den Brudermord und seine Überwindung als ihren Gründungsmythos übernimmt. Nur darum handelt es sich um Emanzipationsbewegungen.

Hier wird der marxsche Humanismus völlig offensichtlich, und es zeigt sich ebenfalls, dass es sich nicht einfach um einen Humanismus der schönen Gefühle handelt, sondern um einen Humanismus der Praxis. Es ist nicht nur die neunte von Beethoven, die hier anklingt.

Kann es für die marxsche Religionskritik einen Gott geben, der kein falscher Gott ist?

Wir können jetzt weiter ausgehen vom marxschen Begriff der “Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“. Es handelt sich, wie wir bereits gesehen haben, um die synthetische Zusammenfassung dessen, was die vorher aufgezeigten universalen Forderungen eines Humanismus der Praxis beinhalten.  Es handelt sich jetzt um die ganze Menschheit, die aus allen individuellen Menschen in Zeit und Raum besteht. Die freie Entwicklung aller ist nur möglich, wenn die freie Entwicklung eines jeden gesichert ist.

Dieses Handeln als Handeln der Menschheit wird bei Marx mit der Selbstverwirklichung verbunden. Darum kann es bei Marx heißen: Die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller. Dies heißt: Die freie Entwicklung aller ist nur möglich, wenn die freie Entwicklung eines jeden gesichert ist. Dies ist dann das: ich bin, wenn du bist. Oder: Ich kann mich frei entwickeln, wenn alle sich frei entwickeln können. Die freie Entwicklung einiger auf Kosten anderer macht die freie Entwicklung aller unmöglich. Das gilt auch und gerade, wenn sie auf dem freien Markt geschieht. Der freie Markt unterdrückt die freie Entwicklung eines Teils, sodass alle unfrei sind. (auch die, die glauben, sich frei zu entwickeln). Selbst der Besitzer von Sklaven glaubt derjenige zu sein, der frei ist. Er beweist seine Freiheit dadurch, dass er auf seine Sklaven hinweist. Aber das beweist gerade seine Unfreiheit. Er wird erst Mensch, wenn er die Sklaven befreit. Auch das ist das: Ich bin wenn du bist. Seinen Sklaven zu befreien, ist dann Selbstverwirklichung, die gleichzeitig Selbstverwirklichung des andern ist. Die Selbstverwirklichung des befreiten Sklaven kann nur vollständig sein, wenn auch der Sklavenbesitzer seine Selbstverwirklichung in der Befreiung seines Sklaven findet. Wenn man in der US-Geschichte irgendetwas zeigen kann, so ist es dies. Heute kommen die Sklavenhalter zurück, die keine Sklaven mehr haben, dies aber als Unrecht ansehen, da es angeblich ihre Freiheit beschränkt. Selbst Milton Friedman hielt ja die Sklavenbefreiung für ein Unrecht, weil sie eine illegitime staatliche Intervention in den freien Markt ist.

Dies aber impliziert das Thema, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.

Dieses höchste Wesen ist eben nicht Caligula oder Nero, sondern das Gegenteil davon. Es ist überhaupt kein despotischer Gott, da jetzt der Mensch das höchste Wesen ist und nicht Gott. Schafft man jetzt einen Gott gemäß dem Bild vom Menschen als höchstem Wesen für den Menschen, so ist dieser Gott eben ein Gott, dessen Willen es ist, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Hier wird tatsächlich Gott Mensch, nicht nur im religiösen, sondern ganz ebenso im anthropologischen Sinne.

Dies ist der einzige Gott, der kein falscher Gott ist in der Sicht der Religionskritik von Marx, allerdings auch bereits, obwohl sehr viel weniger entwickelt, in der Religionskritik von Feuerbach. Bei Feuerbach ist die Referenz Spinoza. Falsche Götter sind alle Götter, die das höchste Wesen für den Menschen sein wollen. Sie sind Götter die die Selbstentfremdung des Menschen fordern und verewigen wollen.

Feuerbach sagt über Spinoza:

„Spinozas Philosophie war Religion; er selbst ein Charakter. Nicht stand bei ihm, wie bei unzähligen anderen, der Materialismus im Widerspruch mit der Vorstellung eines immateriellen, antimaterialistischen Gottes, der konsequent auch nur antimaterialistische, himmlische  Tendenzen und Beschäftigungen dem Menschen zur Pflicht macht; denn Gott ist nichts anderes als das Ur- und Vorbild des Menschen: wie und was Gott ist, so und das soll, so und das will der Mensch sein und hofft er wenigstens einst zu werden. Aber nur, wo die Theorie nicht die Praxis, die Praxis nicht die Theorie verleugnet, ist  Charakter, Wahrheit und Religion. Spinoza ist der Moses der modernen Freigeister und Materialisten“. 

Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Gesammelte Werke Hrsg. v. Schuffenhauer, Werner Bd. 5 zitiert nach:

http://www.anova.at/1sitemap/Philosophie/23-Feuerbach,%20Ludwig%20-%20Gesammelte%20Texte.pdf

S. 823/824

Die Argumentation Feuerbachs ist sehr anders als es die Argumentation der Religionskritik vor allem im XVIII. Jahrhundert in der Zeit der Aufklärung war. Man fragte in dieser Zeit  danach ob es einen Gott gibt oder nicht. Die Religion – vor allem die christliche – wurde als Antwort darauf im extremsten Fall als Herren- und Priesterbetrug angesehen. Die Religionskritik war daher vor allem und in den meisten Fällen atheistisch und glaubte damit die wesentlichen Fragen beantwortet zu haben.

Für Feuerbach ist die Frage, ob es Gott gibt oder nicht, einfach irrelevant, obwohl er seine Existenz durchaus leugnet. Aber was schon Feuerbach zentral interessiert und bei Marx weitergeführt wird ist die Frage nach dem menschlichen Subjekt der Religion gegenüber. Ob Gott existiert oder nicht, ändert nichts an der Frage, ob er ein falscher Gott ist oder nicht. Und er ist für Feuerbach immer dann ein falscher Gott, wenn er den Menschen von sich selbst entfremdet. Das sieht er als das Problem an: ob der Mensch sich in der Religion sich selbst entfremdet oder möglicherweise auch nicht. In diesem Zusammenhang zitiert er dann Spinoza. Gemäß Feuerbach steht der Gott Spinozas nicht im Konflikt mit der Überwindung der menschlichen Selbstentfremdung. Feuerbach feiert ihn jetzt sogar: Spinoza ist der Moses der modernen Freigeister und Materialisten. Er sieht also de christlichen Gott als falschen Gott an, während der Gott Spinozas kein falscher Gott ist. Der Gott Spinozas steht auf der Seite des Menschen in seinem Bemühen, seine Selbstentfremdung zu überwinden. Er ist kein Hindernis für die Selbstverwirklichung des Menschen als Menschen. Er kann sogar hilfreich sein. Das heißt, dass das Kriterium zur Unterscheidung der Götter die Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen ist.

Aber dieser Gott, der kein falscher Gott ist, ist nicht etwa der wahre Gott. Für den Menschen kann es keinen wahren Gott geben ganz so wie es Bonhoeffer sagt: Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.[8] Ein Gott, den es gibt, setzt die Endlichkeit Gottes voraus. Wie Buddha sagte, als man ihn  fragte, ob es Gott gibt. Er antwortete: Dass es Gott gibt, ist falsch. Aber dass es Gott nicht gibt, ist auch falsch (Die buddhistische Frage Mu). Die Vorstellung des wahren Gottes geht über die Vorstellung eines Gottes, der kein falscher Gott ist, hinaus. Den Gott, der kein falscher Gott ist, kann es jedenfalls geben. Aber nicht den wahren Gott. Die Katastrophe der Eroberung Amerikas fand statt im Namen des „wahren Gottes“. Auch hier galt: „Der wahre Gott ist der Warengott.“ Dies sah schon Bartolome de Las Casas sehr klar und ging dagegen an. Er erkennt bereits, dass die Kritik der Idolatrie im Namen des Menschen geschehen muss und niemals im Namen eines wahren Gottes. Dies bedeutet: sie muss geschehen im Namen des Menschen als höchstem Wesen für den Menschen.[9]

Es ist interessant, dass auch Hannah Arendt bereits einen solchen Gesichtspunkt in Dus Scotus, dem mittelalterlichen Philosophen und Theologen erkennt. Sie gibt die Meinung des Duns Scotus folgendermassen wieder:

„Das  Wunder des menschlichen Geistes besteht darin, dass er vermittels des Willens alles transzendieren kann (“voluntas transcendit omne creatum”, wie Olivi sagte) und das ist das Zeichen dessen, dass der Mensch nach Gottes Bild geschaffen wurde. Die biblische Vorstellung, Gott habe ihm (dem Menschen) seine Bevorzugung dadurch erwiesen, dass er ihn  über alle Werke seiner Hände setzte (Psalm 8), würde ihn lediglich zum Höchsten unter allem Geschaffenen machen, aber nicht von ihm absolut unterscheiden. Wenn das wollende Ich in seiner höchsten Äusserung sagt: “Amo: volo ut sis”, “Ich liebe dich, ich möchte dass du bist” – und nicht: “Ich möchte dich haben” oder “Ich möchte dich beherrschen”-, so zeigt es sich der Liebe fähig, mit der Gott offenbar die Menschen liebt, die er nur schuf, weil er wollte, dass sie existieren, und die er liebt, ohne sie zu begehren“.[10]

Dieses volo ut sis – ich will dass du bis – kann man auch übersetzen: Ich will dass du du bist. Dann wird es sehr klar, dass jeder Gott, der das nicht akzeptiert, ein falscher Gott ist. Das geht schon bei Duns Scotus in dieser Richtung, die dann bei  Las Casas wieder auftaucht und dann auch von Feuerbach und Marx weitergeführt werden wird.

Duns Scotus  stellt einen Gott vor, der Yahwe nahe ist, ganz anders als der Gott des Thomas, der aus der aristotelischen Metaphysik entwickelt wurde und der eine entsprechende Gotteskonstruktion von Augustinus weiterführte. Der Gott des Duns Scotus steht dem Gott Jahwe sehr viel näher als diesem metaphysischen Gott, obwohl er auch verschieden ist vom klassischen Jahwe.

 Dieser Gott des Thomas dominiert das ganze Mittelalter und ist auch heute noch in allem konservativem Christentum dominant. Dieser Gott ist eher so etwas wie ein legitimer Despot, der eine ewige Hölle verwaltet.  Dieses Gottesbild ist heute weitgehend zusammengebrochen. Das was Hannah Arendt spürt, ist, dass heute das Gottesbild, das auch Duns Scotus hat, die Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Es ist das Gottesbild, das in den ersten christlichen Jahrhunderten vorherrscht und auch bei Jesus und Paulus dominant ist. Es ist aber gleichzeitig noch gegenwärtig in der "apokatastasis"  (eine Allversöhnung) des Origenes im III. Jahrhundert. Dieser Allversöhnung zufolge sollen alle Kreaturen, sogar der Teufel, erneut von Gott im Sinne einer ‚Wiedereinbringung Aller‘ in den Schöpfungskreislauf aufgenommen werden. Dieses Gottesbild hat seit Beginn des Mittelalters immer unter Häresieverdacht gestanden, obwohl es nie völlig verschwand.

Dieses Gottesbild von Duns Scotus enthält etwas, was unsere heutige Ideologie kaum erträgt.  Es ist der Aufruf, wie Gott zu sein. Nicht nur Gott soll dieses  volo ut sis aussprechen, sondern, so wie Gott, soll es jeder aussprechen gegenüber jedem. Das wie Gott sein wird zur Erklärung der Würde des Menschen.  Auch dies ist natürlich nicht von Duns Scotus einfach erfunden, sondern schreibt sich in eine Tradition ein.

Der Name Michael des zentralen Engels der Apokalyptik heisst, in unsere Sprache übersetzt: Wer ist wie Gott? Die Antwort ist sehr einfach. Sie ist: alle. Alle sind wie Gott, auch die Sklaven, die Frauen, alle Nationen.  Kurz nach dem Auftreten des Erzengels Michael tritt dann in der Apokalypse das Tier auf, das gerade die Gegenwart des Antichristus ist. Der Text sagt, dass die Anhänger des Tiers vor dem Tier niederknien und rufen: Wer ist wie das Tier? (Apocalipsis , 13)

Der Text sagt, dass sie vor dem Tier niederknien. Aber es ist klar, dass für sie das Tier Gott ist und dass sie es nicht etwa Tier nennen. Sie nennen es Gott. Sie fragen folglich genau dasselbe, wie vorher der Erzengel Michael gefragt hatte: Wer ist wie Gott? Aber sie geben eine ganz andere Antwort, die das genaued Gegenteil sagt. Es ist die Antwort der Autorität: Keiner.

Damit dreht sich alles um. Keiner ist wie Gott, keiner ist wie das Tier. Niemand darf wie Gott sein wollen. Es wird dann bald klar, dass es eine Ausnahme gibt. Es ist die Autorität des Kaisers. Der Kaiser und seine Stellvertreter sind die Autorität, die wie Gott ist. Daraus folgt: wer wie Gott sein will, will an die Stelle der herrschenden Autorität treten, will die absolute Macht, will das Chaos, will Despot sein. Gemäß Camus, will er ein neuer Caligula sein.

Das marxsche Denken und das höchste Wesen für den Menschen bei Camus

Sowohl in Goethe wie auch bei Feuerbach schien der Mensch, der das höchste Wesen für den Menschen ist, eine eindeutige Vorstellung von Menschlichkeit. Marx weißt darauf hin, dass es dies nicht ist. Sie kann ebenfalls die Vorstellung einer Unmenschlichkeit des Menschen sein und diese zum Bild haben.[11] Aber in jedem Falle ist dieser Mensch als höchstes Wesen für den Menschen das Bild des

Menschen, in dem sich der Mensch in irgendeiner Form wiedererkennen kann.

Camus zeigt für dieses Problem das entsprechende radikale Unverständnis. Er sagt:

„Der marxistische Atheismus ist absolut. Aber er setzt doch das höchste Wesen auf der Ebene des Menschen wieder ein, „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei (MEW, I, S.385). Unter diesem Gesichtspunkt ist der Sozialismus somit ein Unternehmen zur Vergöttlichung des Menschen und hat einige Merkmale der traditionellen Religionen angenommen“[12]

 

Ich möchte mich hier etwas ausführlicher mit diesem Camus-Zitat auseinandersetzen. Es geht hierbei nicht einfach um eine Meinung von Camus, sondern Camus macht sich hier vielmehr zum Teil einer sehr weitverbreiteten Marx-Kritik, die gleichzeitig die Tendenz fast aller heute noch herrschenden Kritik am Sozialismus wiederspiegelt. Marx ist für diese Kritik schlechterdings eine „Unperson“. Es handelt sich um die antikommunistische Marxkritik.

 

Dies beginnt mit der Behauptung, dass die marxsche Reflektion über den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen ein „Unternehmen zur Vergöttlichung des Menschen“ ist und dabei „Merkmale der traditionellen Religionen“ angenommen habe.

 

Der Text von Marx hingegen sagt genau das Gegenteil. Danach ist für Marx das höchste Wesen für den Menschen gerade nicht Gott, sondern der Mensch. Aber es ist nicht irgendeine menschliche oder göttliche Person, die hier das höchste Wesen darstellt, sondern jeder Mensch, sofern er eben „menschlich“ ist. Alles ist ein Aufruf zum Humanismus und das bedeutet hier: ein Aufruf für den Menschen, menschlich zu werden. Dann entsteht natürlich die Frage: was ist die Menschlichkeit des Menschen für Marx. Camus stellt diese Frage nicht einmal. Wir werden sie aber stellen müssen.

 

Statt diese Frage zu stellen, geht Camus völlig dogmatisch vor. Er sagt einfach, dass Marx den Menschen vergöttlichen will. Er sagt uns aber zumindest hier und in seinem ganzen Buch nicht, was für einen Gott Camus dem Marx unterstellt. Er stellt nicht einmal die Frage, warum er es denn so kritisch ansieht, dass jemand wie Gott sein will, wenn man gar nicht dazu sagt, wie er welcher Gott sein will. Den Gott Napoleons, den Gott Hitlers, den Gott Reagans, den Gott von Befreiungstheologen, den Gott  von Dietrich Bonhoeffer, von Karl Barth oder auch der Befreiungstheologie im allgemeinen, oder einen indischen Gott oder welcher auch sonst immer. Er tut so, als wären alle diese Götter gleich. Camus veröffentlicht das Buch, das wir hier besprechen, im Jahre 1951. Einige Jahre vorher veröffentlichte er ein Theaterstück unter dem Titel „Caligula“, dem Namen eines der grausamsten und perversesten römischen Kaisers. Ich nehme an, dass Camus ebenfalls glaubt, dass Caligula das wurde, was er war, weil er wie Gott sein wollte und als römischer Kaiser wurde er ja auch als Gott angesehen und verehrt. Ich bin überzeugt, Camus scheint anzudeuten wollen, dass Marx in Wirklichkeit hier seine Absicht kundtut, wie Gott zu werden und folglich irgendeine Art von Caligula zur Welt bringen will. Dies entspricht durchaus einer sehr breiten Meinungsmache von Seiten der Rechten. Am Ende seine Buches sagt er dann über die russischen Anarchisten, gegen die sich Kaliayew und seine Brüder ausspricht:

 

„Mangels Besserem haben sie sich vergöttlicht, und ihr Elend begann: diese Götter haben blinde Augen. Kaliayew und seine Brüder auf der ganzen Welt verwerfen im Gegenteil die Göttlichkeit, denn sie weisen die unbegrenzte Macht, den Tod zu geben, von sich. Sie erwählen und geben uns damit ein Beispiel, die einzige Richtschnur, die heute originell ist: leben und sterben lernen und, um Mensch zu sein, sich weigern, Gott zu sein“ S. 344

 

Jetzt stellt er eine Behauptung auf, die überhaupt nicht begründbar ist. Er sagt: man wird Mensch dadurch, dass man sich weigert, Gott zu sein. Wieder stellt er nicht die Frage, um welchen Gott es sich denn handelt. Ganz gleich welcher, immer ist er gemäss Camus ein Gott, der ein Despot ist und dessen Despotie als legitim gilt. Welcher Gott das ist? Es ist immer der gleiche, und jetzt erwähnt er ein bestimmtes Kriterium für das was Gott ist: er hat die unbegrenzte Macht, den Tod zu geben. Diesen Gott konstruiert er so, dass diese Macht, den Tod zu geben, automatisch Willkür impliziert. Gott ist dann ein absolut willkürlicher Despot, der auf absolut willkürliche Weise über Leben und Tod entscheidet. Einen anderen Gott erwähnt er nicht einmal als zumindest theoretische Möglichkeit. Gott ist das und nichts anderes. Und zieht dann den Schluss in Bezug auf die Unperson Marx, dass er ein solches Wesen sein will und es als höchstes Wesen für den Menschen postuliert.

 

Das ist Philosophie mit dem Hammer, die er unter anderem auch bei Nietzsche kennen gelernt hat.

 

Aber alle Argumentation von Camus geht völlig an Marx vorbei. Marx hat überhaupt keinen Gott als Referenz, aber hat dies nicht einmal indirekt. Marx sagt sehr ausdrücklich, was er meint, wenn er davon spricht, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Er sagt es sogar im selben Satz, den Camus hier zitiert. Camus aber verfälscht praktisch diesen Satz, indem er seine zweite Hälfte nicht zitiert. Der gesamte Satz, dessen ersten Teil Camus nur zitiert, wodurch er die besprochene Interpretation dann als möglich darstellt, ist folgender:

 

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[13] 

Marx definiert, was dieses höchste Wesen ist, das der Mensch für den Menschen ist. Es ist nicht irgendein spezifischer Mensch, sondern es ist der Anspruch einem jeden Menschen gegenüber, den kategorischen Imperativ, wie Marx ihn definiert, anzunehmen und daher alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Der Mensch unterstellt sich daher dem Menschen als höchstem Wesen für die Menschen immer dann, wenn er sich auf die Seite derjenigen Menschen stellt, die erniedrigt, geknechtet, verlassen und verachtet sind. Sicher, Camus könnte jetzt einen Gott postulieren, der gerade dies vom Menschen verlangt, weil er selbst als Gott diese Position einnimmt. Dann könnte er behaupten, dass es sich um eine Vergöttlichung des Menschen handelt. Aber diese Vergöttlichung wäre dann ja gerade gleichzeitig die Vermenschlichung, um die es Marx geht. Aber Camus sieht diese mögliche Dimension nicht einmal.

Dies ist der Inhalt des Humanismus, wie Marx ihn vorstellt. Diesen Inhalt unterdrückt Camus , um die Möglichkeit zu haben, Marx zu denunzieren als potentiellen Caligula. Es handelt sich faktisch um eine Fälschung der ausdrücklichen Meinung von Marx. Camus erblindet als Folge seines absoluten Antikommunismus. Er bestätigt schließlich nur, was schon Thomas sagte, wenn er den Antikommunismus die größte Torheit des zwanzigsten Jahrhunderts nennt.

 Allerdings nimmt Camus, wenn er dann über die Perspektiven des Handelns von der Rebellion aus spricht, eine Position ein, die wiederum der Position von Marx außerordentlich ähnlich ist. Für mich ist Camus ein großer Denker, es sei denn, dass er über den Kommunismus oder über das marxsche Denken spricht. Genau dies ist wohl auch der Grund für seinen Konflikt mit Sartre.

Die Offenheit der marxschen Religionskritik

So ergibt sich, dass die marxsche Religionskritik durchaus offen ist. Sie ist eindeutig, was ihre Analyse des universalen Freiheitsbegriffes und des Humanismus der Praxis ist. Ob dieser aber in eine Gottesvorstellung einmündet oder nicht, kann sie nicht  vorentscheiden. Da gibt es die verschiedensten Optionen. Das Ergebnis kann sowohl Atheismus oder auch Gottesglaube sein. Aber in beiden Fällen gibt sie das Entscheidungskriterium, das falsche Götter, aber auch falsche Atheismen unterscheiden muss. Ob si falsch sind oder nicht, hängt von ihrem Standpunkt gegenüber diesem universalen Freiheitsbegriff und dem entsprechenden Humanismus der Praxis ab. Das Wahrheitskriterium muss immer der Mensch sein. Weder Gott noch irgendeine Wissenschaft können es sein. Aber beide laufen darauf hinaus, dass der Mensch dieses Wahrheitskriterium ist. Die Überzeugungskraft der Konzeption einer Gottesvorstellung, die von der marxschen Religionskritik her nicht verurteilt werden kann, ist ganz klar das Ergebnis der Tatsache, dass die Kontingenz der Welt nicht änderbar ist.. Es handelt sich vor allem um die Tatsache, dass transzendentale Vorstellungen (wie der Kommunismus der sozialistischen oder das Reich Gottes der christlichen Tradition)  grundsätzlich nicht verwirklicht werden können und dass der Mensch sterblich ist.

Es ergibt sich dann folgende Vorstellung:

Gott ist von seiner eigenen Schöpfung gefangen genommen und wird noch gefangen gehalten.

Aber psychologisch gilt: Gott ist die Möglichkeit, dass die transzendentalen Vorstellungen des Typs Kommunismus, Reich Gottes, messianisches Reich, die durch menschliches notwendig instrumentales Handeln nicht verwirklicht werden können und immer nur Orientierungen bleiben, letztlich doch möglich sind, wenn Gott diese Macht zurückgewinnt und es eine neue Schöpfung gibt.

Kermani macht dazu eine durchaus treffende Reflektion:

El schadday nennt Hiob (6,14) den Gott, den er für das erlittene Unrecht verantwortlich macht – der dem Menschen Gewalt antut (10,3), ihm wie der Henker den Fuss in den Block schliesst (13,27) und sich überhaupt wie ein Tyrann verhält (19,11,   30,21 ff). Wo in der hebräischen Bibel also die Allmacht Gottes angedeutet ist, geht sie in der Regel gerade nicht mit der Güte einher (so auch in Jes. 13,6; Joel 1,15; Ruth 1,20). Gott kann nicht einfach das Reich der Liebe beginnen lassen; die Durchsetzung seiner Herrschaft  ist abhängig davon, ob die Menschen diese Herrschaft wollen, wie es das jüdische Wort von den 36 Gerechten, auf die Gott warten muss, ausdrückt. Die gute Schöpfung reicht so weit, wie Gott sie geschaffen hat; aber an vielen Stellen und immer wieder kommt die naturgegebene Unordnung, wie sie vor der Schöpfung herrschte, zum Vorschein. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer.“ (1. Mose 1,1f.) Das hebräische Wort für „wüst und leer“ heisst tohuwabohou und bezeichnet unter anderem die Unwirtlichkeit der Wüste. Die Ausleger sprachen von dem Chaos als dem Zustand, in den hinein Gottes Schöpfung geschah. Da in dieser Sicht Gottes Schöpfung noch nicht beendet ist, erstaunt nicht das Chaos oder das Böse, sondern Gottes Eingriff, auf den das Gute zurückzuführen ist.“[14]

Schlussbemerkung

Die Schlüsse, die Marx aus seiner Religionskritik zieht, setzen eben voraus, dass die Kommunismusvorstellung von Marx verwirklichbar ist. Dann folgt eben das Absterben der Religion aus der Verwirklichung des Kommunismus. Stellt sich aber die Kommunismusvorstellung als nicht verwirklichbar heraus, dann ändern sich die Folgerungen, die sich aus der marxschen Religionskritik ableiten. Deshalb ist dies nicht eine Widerlegung der marxschen Religionskritik, sondern eine Veränderung des Urteils über die Wirklichkeit, die in ihr impliziert ist. Wir könnten ein anderes Beispiel nehmen. Nehmen wir an, das im Christentum erwartete Reich Gottes wäre menschlich verwirklichbar. Dann wäre natürlich der christliche Gott, der dieses Ziel des Reiches Gottes vertritt, überflüssig. Der Glaube daran könnte also absterben. Gehen wir aber davon aus, dass es unmöglich ist, dieses Ziel zu verwirklichen, dann bleibt es dabei, dass es falsche irdische Götter gibt, die es leugnen, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, sodass die Möglichkeit einer Gottesvorstellung bleibt, in der ein Gott vorgestellt wird, dessen Wille es ist, dass  der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Dieser Gott wäre dann eben nicht ein falscher Gott. Die Bedingung für diese Argumentation ist, dass man die Religionskritik sowohl von Marx wie auch von Feuerbach wirklich versteht, was leider sehr selten ist. Man sieht dann, dass diese Religionskritik in einer Jahrtausende alten jüdisch-christlichen Kultur  integrierbar ist und tatsächlich ein großer, bedeutender und vielleicht entscheidender Beitrag zu dieser Kultur ist.


[1] Wittgenstein, Ludwig. Vortrag über Ethik. Surkamp. Frankurt a/M, 1989.(Vortrag über Ethik aus dem Jahr 1930)

[2] Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2005 Norbert Arntz gab mir die Idee für die folgende Erweiterung der Analyse der Meinung von Dietrich Bonhoeffer.

[3] Ich habe dazu folgendes Buch geschrieben: Hinkelammert, Franz J,: Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesaellschaftstheorie. Edition Exodus, Luzern. 1994. Dies Buch ist zugänglich: www.pensamientocritico.info

[4] Ich habe in dieser Zeit ein kleines Buch veröffentlicht über diese Veränderung der deutschen Christdemokratie vor allem seit den 60er Jahren: Hinkelammert, Franz J.: Die Radikalisierung der Christdemokraten. Vom parlamentarischen Konservatismus zum Rechtsradikalismus. Rotbuch Verlag Berlin, 1976. Dies Buch ist zugänglich auf der Internetseite www.pensamientocritico.info

[5] Aber es gilt, davon abgeleitet, auch für alle einzelnen Fälle wie z.B.:

„Der Mensch ist nicht für den Fussball da, sondern der Fussball ist für den Menschen da.“ Dies Beispiel soll nur zeigen, dass dieses Prinzip auch auf jede einzelne Institution anwendbar ist. Es ergibt sich allerdings keine universale Religion, wie dies im Fall des Marktes geschieht. Die universale Religion folgt immer dann, wenn man von einer universalen Institution wie dem Markt, aber auch wie dem Staat, ausgeht.

[6] Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei

[7] Zum Beispiel im Drama von Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Da geht es um die Problematik von Vatermord und Sohnesmord.

[8] Siehe Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, Herausgegeben von Hans-Richard Reuter (DBW, Zweiter Band), 32008, 112. In der Ausgabe Theologische Bücherei, Band 5 ist es auf der Seite 95.

[9] S. Gutiérrez, Gustavo: En busca de los pobres de Jesucristo. El pensamiento de Bartolomé de Las Casas.  Instituto Bartolomé de Las Casas. Lima, 1992

[10] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Piper, München Zürich, 2002

(The Life of the Mind. Thinking, The Life of the Mind. Willing. Harcourt Brace Jovanovitch, New York, 1977, 1978)

12. Duns Scotus und der Vorrang des Willens.

S.366/367

[11] Um zu zeigen, dass es sich bei Marx hierum handelt, möchte ich folgendes Zitat bringen:

„Man muss dies Zeug im Detail studieren, um zu sehn, wozu der Bourgeois sich selbst und den Arbeiter macht, wo er die Welt ungeniert nach seinem Bilde modeln kann.“ Das Kapital. Bd.1 Werle, Bd.23. Anm.241 S.779

Hier ist das Wort Bild in diesem Sinne benutzt, als Sicht von den wirklichen Lebensverhältnissen her, die in diesem Fall die des Bourgeois sind. Man kann dann verstehen, welchen Gott  sich dieser Bourgeois schafft, wenn er sich einen himmlischen Gott ausdenkt.

[12] Camus, Albert:  Der Mensch in der Revolte. rororo , Hamburg, 1997  S. 218 (In dieser Ausgabe des Buches von Camus wird Marx nicht wirklich auf deutsch zitiert, sondern es wirdd das ins französische übersetzte Marxzitat einfach ins Deutsche zurückübersetzt. Ich habe dies korrigiert. In der Buchübersetzung hingegen heisst es:  „Die Kritik der Religion mündet in die Lehre ein, wonach der Mensch dem Menschen das höchste Wesen ist.“

[13] MEW, I, S.385

[14]Kermani, Navida: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. Beck, München, 2005 S..124

 

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