Karl Marx erarbeitet nicht zuerst seine Religionskritik, um danach zur Ideologiekritik überzugehen. Marx verfasst vielmehr gleich zu Beginn seine erste Religionskritik als Kritik am Kapitalismus als Religion. Diese Religionskritik ist von Anfang an bereits Ideologiekritik. Darin folgt ihm später Walter Benjamin.
Jene Religion, die der Kapitalismus darstellt, beschreibt und kritisiert Marx in seiner Fetischismustheorie. Das Kapitel im ersten Band des "Kapital", das sich mit dem Fetischismus befasst, gibt jedoch nur einen kleinen Teil dessen wider, was die Fetischismustheorie des "Kapitals" insgesamt ausmacht. Diese Theorie durchzieht alle Bände des "Kapital" und andere Schriften von Karl Marx. Darauf habe ich bereits in meinem ersten Buch "Die ideologischen Waffen des Todes" aufmerksam gemacht. Jene Kritik am Kapitalismus als Religion durchzieht die gesamte Ideologiekritik von Marx, eben deshalb, weil für Marx alle Religionskritik sich zugleich als Ideologiekritik versteht und alle Ideologiekritik immer auch Religionskritik sein muss.
"Der Waren-Gott ist der wahre Gott"[1]. Dieser wahre Gott, der Gott "Markt", ist zugleich der Gott "Geld". Die hier zitierten Autoren bekennen sich ganz offen zu ihm. Das ist jedoch nicht die Regel. Die Regel vielmehr gebietet, diesen Glauben zu leben, ohne sich zu ihm zu bekennen. Auch wenn man Kuckuckseier verbreitet, versteckt man darin doch die Religion.
Walter Benjamin übernahm die Marx'sche Kritik und gab der Religionskritik wieder ihren Platz in der Ideologiekritik zurück. Ähnlich agierte Rosa Luxemburg. Sie verknüpfte die Religionskritik beharrlich mit der Ideologiekritik. Das wird an ihren Artikeln über das Christentum offensichtlich. Diese beiden Autoren sind jedoch bedauerlicherweise nur die Ausnahme geblieben.
Althusser dagegen behauptete, dass die Fetischismustheorie eine Ideologie sei. In Wahrheit ist sie das jedoch gerade nicht, sondern indem sie Religionskritik ist, ist sie zugleich Ideologiekritik und folglich zentraler Bestandteil der Kapitalismuskritik. Eben dieser Zusammenhang wird heutzutage unübersehbar. Wir haben es im Kapitalismus mit einem Glauben zu tun.
Daraus folgt, dass die Fetischismuskritik zugleich Götzenkritik ist. Als Götzenkritik greift sie die Religionskritik des frühen Marx auf. Als Götzenkritik ist sie Kritik an den falschen Göttern. Aber sie beruft sich dafür nicht auf irgendeinen "wahren Gott". Sie kritisiert die falschen Götter vielmehr ausgehend von der These, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Auf der Grundlage dieses Kriteriums wird jeder Gott zum falschen Gott, der nicht zulässt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Ein Gott dagegen, der dieses Kriterium akzeptiert, ist weder ein falscher Gott noch ein Fetisch. Marx führt dieses Argument nicht näher aus, weil er davon überzeugt ist, dass die Religion ausstirbt, sobald sie die These übernimmt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Daran wird deutlich, dass die Religionskritik von Karl Marx zwar die falschen Götter kritisiert, aber ihrer eigenen Logik entsprechend keineswegs von irgendeinem dogmatischen Atheismus bestimmt ist. Wenn Marx vom Atheismus redet, spricht er von ihm im Sinne einer Hypothese. Deshalb haben wir es bei Marx niemals mit einem aggressiven Atheismus zu tun. Überraschenderweise kann man nun zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Position, die der gegenwärtige Papst in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" formuliert, mit der Religionskritik von Marx sogar kompatibel ist. Selbst wenn der Papst nicht die gleichen Worte wie Marx verwendet, behauptet auch er, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.
In der jüdischen Tradition ist der Gründungsmord ein Brudermord (Kain tötet Abel). Wenn man jedoch bedenkt, dass alle Menschen Geschwister sind, wird durch die jüdische Tradition ein Gründungsmythos von universaler Bedeutung formuliert. Hier wird der Konflikt zwischen Kain, dem Gründer von Städten und Zivilisationen, und Abel, dem Angehörigen eines Nomadenstammes in der Wüste, dargestellt. Kain opfert Früchte, Abel Tierfleisch.
Indem Gott das Opfer des Abel bevorzugt, trifft er eine Option für die einfachere, aber dem Menschen gemäßere Kultur. Er trifft die Option für den armen, den bedrohten, den verfolgten Menschen. Kains Kultur dagegen, die Kultur von Städten und Zivilisationen, gründet auf einem Brudermord. In der Geschichte von Kain und Abel wird nicht ein gelegentlicher, vereinzelter Mord geschildert, sondern ein gesellschaftlich-institutionalisierter Mord. Es geht auch gerade um Ausbeutung.
In der jüdischen Bibel ist die ursprüngliche Sünde der Mord, den ein Mensch an seinem Bruder begeht. Das, was Adam und Eva begehen, als sie von der Frucht des verbotenen Baumes essen, wird im biblischen Text nicht ein einziges Mal als Sünde bezeichnet, die Tat des Kain dagegen wohl.
Der Text in Gen 4,4b-16 lautet:
Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer,
5 aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich.
6 Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick?
7 Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, / doch du werde Herr über ihn!
8 Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.
9 Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?
10 Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.
11 So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen.
12 Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.
13 Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte.
14 Du hast mich heute vom Ackerland verjagt und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und wer mich findet, wird mich erschlagen.
15 Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde.
16 Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden.
Auf diese Weise wird eine Sünde konstituiert - das heißt ein Verbrechen - , ohne dass es zuvor ein Gesetz gegeben hätte. Als Kain seinen Bruder umbringt, existiert noch kein Gesetz. Und wenn Gott Kain als Verbrecher und Mörder betrachtet, ist die Grundlage dafür nicht die Verletzung irgendeines Gesetzes. Der Gott, von dem in dieser Geschichte die Rede ist, beansprucht keine Anerkennung seiner Autorität als eines Gesetzgebers, der wegen der Verletzung eines Gesetzes eine Strafe erlässt. Der Mord ist ein Verbrechen, selbst wenn kein Gesetz ihn verbietet. Eben das berücksichtigt Gott. Er verflucht Kain, aber er fällt kein Gerichtsurteil: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein". Später wird ein Gesetzestext dekretieren: Wer einen Mord begeht, erhält die Höchststrafe, das heißt, er wird getötet, weil er ein Gesetz verletzt hat, das den Mord verbietet. Das ist hier in der Bibel nicht der Fall. Kain hat kein Gesetz verletzt, weil es noch gar kein Gesetz gab, das den Mord hätte verbieten können. Aber Kain beging ein Verbrechen und wird deshalb zu einem ruhelos herumirrenden Vagabunden ohne festen Wohnsitz. Wer jedoch Kain tötet, der wird siebenfach von Gott bestraft. Zur Warnung für jedermann macht Gott darum dem Kain ein Zeichen. Auf diese Weise macht Gott den Brudermord zum Gründungsmord, aus dem die Verpflichtung erwächst, ein entsprechendes Gesetz zu verkünden.
Das Verbrechen, das Kain begeht, unterscheidet sich erheblich von der Tat, die Adam und Eva begehen, als sie die Anordnung Gottes verletzen, nicht vom verbotenen Baum zu essen. Eine Vorschrift ist kein Gesetz, und deren Verletzung kein Verbrechen. Deshalb ist im Text selbst auch nicht von der Sünde die Rede. Der biblische Text erkennt die Ur-Sünde des Menschen in der Mordtat des Kain. Vom verbotenen Baum zu essen, wird nicht als Sünde bezeichnet, sondern hat die Vertreibung aus dem Paradies zur Folge. Das ist keine Bestrafung, sondern die Konsequenz einer Tat. Wenn man so will, könnte man sagen: Die Vertreibung aus dem Paradies hat ihren Grund in der Einsicht, nicht in einem Paradies zu leben. In diesem Sinne könnte man die Vertreibung sogar als Befreiung von einer Illusion bezeichnen. So jedenfalls deutet Hegel die Geschichte, wenn er behauptet "Das Paradies ist ein Park, wo nur die Tiere und nicht die Menschen bleiben können."[2]
Im biblischen Text wird die Ur-Sünde folgendermaßen beschrieben:
6 Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick?
7 Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, /doch du werde Herr über ihn! 8 Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. (Gen 4,6-8)
Der Gründungsmord der jüdischen Tradition ist also kein Vatermord. Der Vatermord wird in anderen Gesellschaften zum Gründungsmord. Und für die jüdische Tradition wird auch der Vatermord erst in späteren Phasen zu einem Problem, das jedoch keinen Gründungscharakter besitzt. Er hat keine solch entscheidende Bedeutung wie die Geschichte von Kain und Abel. Diese ist der Gründungsmythos für die jüdische Tradition.
Im Folgenden zitiere ich einige Aussagen von Sigmund Freud, in denen er sich auf die Gründung und die Geschichte des Christentums bezieht:
Beachtenswert ist, in welcher Weise die neue Religion sich mit der alten Ambivalemz im Vaterverhältnis auseinandersetzte. Ihr Hauptinhalt war zwar die Versöhnung mit Gottvater, die Sühne des an ihm begangenen Verbrechens, aber die andere Seite der Gefühlsbeziehung zeigte sich darin, dass der Sohn, der die Sühne auf sich genommen, selbst Gott wurde neben dem Vater und eigentlich an Stelle des Vaters. Aus einer Vaterreligion hervorgegangen, wurde das Christentum eine Sohnesreligion. Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen, ist es nicht entgangen.[3]
[...]
Nur ein Teil des jüdischen Volkes nahm die neue Lehre an. Jene, die sich dessen verweigerten, heißen noch heute Juden. Sie sind durch diese Scheidung noch schärfer von den anderen abgesondert als vorher. Sie mussten von der neuen Religionsgemeinschaft, die außer Juden, Ägypter, Griechen, Syrer, Römer und endlich auch Germanen aufgenommen hat, den Vorwurf hören, dass sie Gott ermordet haben. Unverkürzt würde dieser Vorwurf lauten: Sie wollen es nicht wahrhaben, dass sie Gott gemordet haben, während wir es zugeben und von dieser Schuld gereinigt worden sind.[4]
[...]
Man sieht dann leicht ein, wie viel Wahrheit hinter diesem Vorwurf steckt. Warum es den Juden unmöglich gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt, wäre Gegenstand einer besonderen Untersuchung. Sie haben damit gewissermaßen eine tragische Schuld auf sich geladen; man hat sie dafür schwer büßen lassen.[5]
Die hier erkennbare Denkweise Freuds halte ich für unglaublich tragisch. Die Texte stammen aus der 1939 publizierten Monographie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion". Es handelt sich um sein letztes Buch. Die ausgewählten Zitate finden sich auf der letzten Seite dieses Buches. Seit 1938 lebt Freud praktisch im Asyl in London. Er konnte der Verfolgung durch die Nazis entkommen. Aber er ist unfähig, seine eigenen Verfolger zu kritisieren. Eine solche Kritik müsste ihn ja dazu veranlassen, auch seine eigene Psychologie zu kritisieren. Aber dazu ist er nicht bereit, möglicherweise auch nicht in der Lage. Hier gewinnt der Ödipus-Komplex in der Deutung von Freud ein erschreckendes Ausmaß.
Freud bietet dem Antisemitismus, unter dem er selbst leidet, eine - wenn auch mythische - Legitimation. Aber seine Argumentation ist korrekt, solange wir sie unter dem von Freud selbst erarbeiteten Kriterium betrachten. Darin bleibt Freud sich bewundernswert konsequent treu. Er unterschlägt nichts und spricht aus, was sich aus seinem Denken ergibt. Damit bleibt er der Wissenschaftsethik treu, die er in seinem ganzen Leben praktiziert hat. Wenn wir jedoch die angedeuteten Konsequenzen betrachten, können wir der schwerwiegenden Frage nicht ausweichen: Warum bringt ihn ein solches Fazit nicht dazu, seine eigene Theorie in Frage zu stellen?
Mehr noch: Hätte ein solches Fazit nicht eine seriöse Debatte unter allen Freudianern auslösen müssen? Nirgendwo habe ich dieses Problem auch nur erwähnt gefunden. Wie bereits gesagt, erscheint der Text an einem ganz besonderen Ort, nämlich auf der letzten Seite seines letzten Buches. Daraus muss man den Schluss ziehen, dass Freud selbst mit diesem Fazit einen Schlussstrich unter sein Denken zieht, eine Art Testament formuliert. In der Logik seines eigenen Denkens spricht Freud sich selbst das Urteil und gibt seinen Verfolgern Recht. Hier kann ich Freud überhaupt nicht mehr verstehen.
Der Gründungsmord für Freud ist offenkundig der Vatermord. Das ist für ihn Ausgangspunkt, von dem aus er das gesellschaftliche Über-Ich versteht. In seinem Aufsatz "Das Unbehagen in der Kultur" greift er dafür auf zwei Beispiele zurück, auf sein eigenes Konstrukt des ursprünglichen Vatermordes durch die Ur-Horde und auf die Gestalt Jesu.
Freud wählt einen anderen Gründungsmord als die jüdische Tradition. Für ihn ist es nicht der Brudermord, sondern der Vatermord. Diese These ist zu diskutieren, weil Freud die jüdische Tradition aus der Perspektive kritisiert, mit der er die gesamte menschliche Gesellschaft betrachtet, nämlich unter dem Aspekt eines Vatermordes, den alle Brüder gemeinsam begangen haben. Freud entwickelt diese These in seinem Buch "Totem und Tabu". Darin kreiert er einen Mythos, der den Vatermord als Grundlage der menschlichen Gesellschaft darstellt. Auf dieser Basis kritisiert er danach auch die gesamte jüdische Tradition.
Freud konstruiert die Vorstellung von einer menschlichen Ur-Horde.
Im Jahre 1912 habe ich die Vermutung von Ch. Darwin aufgenommen, dass die Urform der menschlichen Gesellschaft die von einem starken Männchen unumschränkt beherrschte Horde war. Ich habe darzulegen versucht, dass die Schicksale dieser Horde unzerstörbare Spuren in der menschlichen Erbgeschichte hinterlassen haben, speziell, dass die Entwicklung des Totemismus, der die Anfänge von Religion, Sittlichkeit und sozialer Gliederung in sich fasst, mit der gewaltsamen Tötung des Oberhauptes und der Umwandlung der Vaterhorde in eine Brüdergemeinde zusammenhängt.1) Es ist dies zwar nur eine Hypothese wie so viele andere, mit denen die Prähistoriker das Dunkel der Urzeit aufzuhellen versuchen — eine »just-so story« nannte sie witzig ein nicht unliebenswürdiger englischer Kritiker —, aber ich meine, es ist ehrenvoll für eine solche Hypothese, wenn sie sich geeignet zeigt, Zusammenhang und Verständnis auf immer neuen Gebieten zu schaffen.[6]
Die Urhorde wird von einem Vater beherrscht, der als legitimer Despot gilt. Dieser monopolisiert sogar die sexuellen Beziehungen. Gegen ihn erheben sich seine Söhne, bringen ihn um und verzehren ihn. Dieser kannibalische Akt weckt ihr Schuldgefühl. Sie empfinden Reue und entsagen allem, was sie erreichen wollten, insofern sie auch die Frauen freigeben, die sie durch ihr Handeln erobern wollten. Aus diesem Verhalten werden das Inzestverbot und die Exogamie hergeleitet, aber sie bleiben Gesetz des Vaters, weil sie aus dem Bußakt für den ursprünglichen Vatermord hervorgehen.
So entsteht die menschliche Gesellschaft und mit ihr das Gesetz im weitesten Sinne, also einschließlich der Gesetze zur Teilhabe am Sozialprodukt. In der Tat, gilt auch für den Vatermord, dass durch ihn kein Gesetz verletzt wird aus dem einfachen Grund, dass es noch kein Gesetz gab. Das Gesetz entsteht erst aus dem Bußakt für das Verbrechen des Vatermordes. Das daraus resultierende Gesetz legitimiert Autorität, jetzt aber auf legalem Wege. Das Gesetz stützt die Autorität des - gesellschaftlichen und individuellen - Über-Ich. Das dahinter sich verbergende Vaterbild wird dann sogar auch bestimmend für das Gottesbild. Vatermord und Gottesmord gehören zusammen, zumindest nach Freuds These im Buch über Moses.
Die voran stehende Interpretation beschreibt den kategorialen Rahmen, der nach Freud alle Wahrnehmung menschlicher bzw. gesellschaftlicher Realität bestimmt. Wir hatten zuvor festgestellt, dass die jüdische Tradition von Anfang an durch Kain den Brudermord als Gründungsmord betrachtet. Freud dagegen behauptet den Vatermord als Gründungsmord. Er behandelt den Brudermord nicht einmal, sondern erkennt überall den Vatermord.
Deshalb vermutet Freud auch, dass sich hinter den biblischen Szenen vom Paradies ein Vatermord verbirgt. Darüber hinaus glaubt er auch bei Moses Indizien für den Vatermord entdecken zu können. In der Bibel lassen sich wirklich Stellen ausmachen, an denen auf einen solchen Vatermord hingewiesen wird, ohne ausdrückliche Belege dafür anzubieten. Diese Indizien können jedoch nicht die Bedeutung des Brudermords als kategoriale Bestimmung aufheben. Obwohl es hier um ein Spezifikum der jüdischen Kultur geht, so dass sogar der Vatermord im Licht des Brudermordes gedeutet wird, hat Freud dafür keinen Blick und behandelt das Thema auch nicht.
Freud sagt zum Antisemitismus:
Unverkürzt würde diese Vorwurf lauten: Sie wollen es nicht wahrhaben, dass sie Gott gemordet haben, während wir es zugeben und von dieser Schuld gereinigt worden sind...
Man sieht dann leicht ein, wie viel Wahrheit hinter diesem Vorwurf steckt. Warum es den Juden unmöglich gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt, wäre Gegenstand einer besonderen Untersuchung. Sie haben damit gewissermaßen eine tragische Schuld auf sich geladen; man hat sie dafür schwer büßen lassen.[7]
Der Antisemitismus des XX. Jahrhunderts aber erhebt in Wahrheit den Vorwurf, dass die Juden den Brudermord in die Mitte rücken und von hier aus die gesamte menschliche Gesellschaft deuten. Das ist nicht nur aus der Sicht des Antisemitismus, sondern aus der Sicht der gesamten bürgerlichen Gesellschaft der Moderne die Schuld, die sie auf sich geladen haben. Und diese Sicht übernimmt Freud. Die Todsünde, die die bürgerliche Gesellschaft an den Juden rächt, besteht darin, den Brudermord zum Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Analyse zu machen. Denn mit dieser Analyse verbindet sich die Forderung nach einer anderen Gesellschaft, nach einer anderen Welt auf der Erde selbst.
Freud erkennt nicht, dass es der Brudermord ist, der das jüdische Weltverständnis bestimmt.
Freud erwähnt Kain nicht einmal, ebenso wenig Abraham. Wenn Freud von der "Sünde" im Paradies spricht, versteht er darunter das Essen vom verbotenen Baum und unterstellt, dass es hier um einen getarnten, verschwiegenen Vatermord gehe. Er nimmt nicht einmal wahr, dass der Genesis-Text gar nicht von einer Sünde im Paradies spricht. Der Genesis-Text erkennt die Ur-Sünde des Menschen in der Ermordung des Abel durch seinen Bruder Kain. Später findet Freud bei der Lektüre des Textes über das Leben des Mose Hinweise darauf, dass Mose möglicherweise ermordet wurde und dass dies wirklich ein verschwiegener und getarnter Vatermord gewesen sein könnte. Selbst wenn Freud, wie ich glaube, in diesem Fall Recht hat, kann er die Indizien nicht als Gegenargument gegen den Brudermord geltend machen. Der Brudermord behält auf alle Fälle seine entscheidende Bedeutung. Ein späterer Vatermord kann sich daraus ergeben, aber das wäre in jedem Fall ein späterer Vater. Der maßgebliche Vater für die Juden ist Abraham. Und Abraham hat seinen Sohn nicht umgebracht, obwohl Gott (den der biblische Text nicht Yahwe nennt) es von ihm verlangte. Es bleibt offen, von welchem Gott bei dieser Gelegenheit die Rede ist. Es kann der Gott Baal sein oder Gott Mammon oder ein beliebiger anderer Gott, der das Sohnesopfer verlangte. In der Genesis-Erzählung anerkennt Gott selbst, dass Abraham Recht tut, seinen Sohn nicht zu töten.[8] Abraham wird nicht zum Mörder. Nachdem er sich geweigert hatte, seinen Sohn zu töten, und damit dem Befehl Gottes zuwider gehandelt hatte, erscheint Gott Jahwe selbst, zollt ihm Anerkennung und macht ihm ein Versprechen. Infolgedessen hat der Sohn keinen Grund, diesen Vater umzubringen. Weil Freud einen solchen Vater wie Abraham in seiner Deutung der Mosesgeschichte nicht unterbringen kann, lässt er Abraham außer acht. Jesus bietet dafür bereits selbst den Schlüssel:
Wenn ihr Kinder Abrahams wärt, würdet ihr so handeln wie Abraham. Jetzt aber wollt ihr mich töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit verkündet hat, die Wahrheit, die ich von Gott gehört habe. So hat Abraham nicht gehandelt. (Joh 8, 39-40)
Für den Evangelisten Johannes zählt allein, dass Abraham nicht getötet hat. Durch dieses Verhalten bedingt werden sogar Vater und Sohn, Abraham und Isaak, zu Brüdern. Indem Abraham nicht tötet, begeht er auch keinen Brudermord.
Jesus spricht nur davon, dass Abraham nicht getötet hat. Er spricht nicht über das, was die Tradition häufig dem Abraham unterstellt hat. Diese verdächtigte Abraham, entschieden und bereit gewesen zu sein, seinen Sohn zu töten; Gott jedoch habe sich mit diesem "guten Willen" Abrahams zufrieden gegeben und durch den Engel angeordnet, das Menschenopfer nicht auszuführen.
Zweifellos repräsentiert der Engel, der im Mythos erscheint, das Gewissen des Abraham. Wenn ein Engel erschienen wäre, der Abraham befohlen hätte, seinen Sohn umzubringen, hätte Abraham ihn zurückgeschickt, weil ihm klar war, dass dies nicht Gottes Wille sein könnte. Deshalb tritt am Ende dieses Mythos vom verweigerten Menschenopfer Gott mit dem Namen Jahwe auf. Am Beginn der Geschichte ist zwar von Gott die Rede, der die Opferung des Sohnes anordnet, aber ohne den Namen Jahwe, so das jeglicher Gott damit gemeint gewesen sein kann, wie wir bereits angemerkt haben.
Dieser Mythos vom Menschenopfer, das Abraham verweigert, kann als Beweisstück dafür gelten, dass eine Entscheidung nicht schon allein aus dem Grunde gültig ist, weil Gott gesprochen und den entsprechenden Befehl erteilt hat. Ich selbst bin für mein Handeln verantwortlich, selbst wenn ich die Stimme Gottes gehört habe, die mir eine bestimmte Handlung befahl. Wenn George W. Bush behauptet, Gott habe ihm befohlen, den Irak anzugreifen und Krieg gegen den Irak zu führen, dann ist immer noch George Bush für den Krieg verantwortlich und nicht irgendein Gott. Wir selbst sind verantwortlich für das, was wir als Gottes Willen bezeichnen. So einfach ist das. Anfangs unterwirft Abraham sich dem Gott, der will, dass er seinen Sohn opfert. Und als er dabei ist, das Menschenopfer auszuführen, wird er sich dessen gewahr, dass er ein Verbrechen begeht. Und wenn es ein Verbrechen ist, kann es Gottes Wille nicht sein, wird er es zumindest nicht gutheißen. Niemals ist ein Verbrechen kein Verbrechen mehr, weil man glaubt, Gott habe den Befehl dazu gegeben. Diese Überzeugung wächst in Abraham, so dass er das Menschenopfer nicht ausführt. Dass ein Engel dem Abraham dies sagt, ändert daran nichts. Einen Engel, der das Gegenteil vertreten hätte, hätte der "bekehrte" Abraham nicht respektiert. In Deutschland gibt es einen Witz, der besagt: Deutschland hat einen Gott, dessen Wille es sei, dass alles was Deutschlands Nachbarn gehöre, legitimes Eigentum der Deutschen sei. Wenn die Deutschen einer solchen Stimme Gottes Folge leisteten, wären sie Diebe. Eine solche Behauptung darf man nicht einmal ernst nehmen z.B. dadurch, dass man die Frage diskutiert, ob es wohl Gott sei, dessen Willen die Deutschen ausführen, wenn sie ihre Nachbarn erobern. Wenn ein Gott so etwas sagt, handelt es sich um einen falschen Gott.
Deshalb ist ein Gebot oder Gesetz nicht bereits dadurch legitim, dass man ihm unterstellt, Gott habe es erlassen. Wer eine bestimmte Anordnung seines Gottes ausführt, bleibt stets selbst verantwortlich für das, was er tut, ohne dafür Gott belangen zu können. Diese Überzeugung vertritt Feuerbach, und Marx folgt ihm darin.
Nehmen wir als Beispiel die messianische Verheißung: Wer diese Verheißung weitersagt, verkündet den Willen Gottes. Nicht weil er dafür eine besondere Salbung erhalten hat, verkündet er den Willen Gottes, sondern weil das, was er verkündet, etwas Göttliches ist, oder mit anderen Worten: etwas, das den Menschen humanisiert, etwas, das dem Menschsein entspricht, nämlich dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Wenn Jesaja oder Jesus so reden und behaupten, als Gesalbte Gottes zu sprechen, haben sie Recht. Aber nicht weil sie Jesaja oder Jesus sind, haben sie Recht, sondern weil das, was sie sagen, dem menschlichen Leben dient und deshalb gesagt werden muss. Was Jesaja oder Jesus sagen, gilt nicht deshalb, weil sie es sind, die das sagen; es gewinnt vielmehr Geltung dadurch, dass jemand, der sie hört, sich davon überzeugen lässt, dass genau dies jetzt gesagt werden muss.
Diese Überlegungen können uns jetzt behilflich sein, den Unterschied zu verstehen zwischen dem, was Freud sagen will, wenn er vom Vatermord spricht, und dem, was demgegenüber die jüdische Tradition sagt.
Freud entwickelt ein Vaterbild, das nach seiner Überzeugung bereits in der frühen Menschheitsgeschichte existierte. Für diese historischen Bezüge knüpft er u.a. an den König Ödipus von Sophokles an. Darauf will ich kurz eingehen, um die verschiedenen Ebenen in Freuds Thesen deutlicher hervorzuheben.
Im König Ödipus verläuft die Handlung folgendermaßen:
1. Der Vater Laios tötet seinen Sohn Ödipus, auch wenn der Sohn entkommt, ohne dass der Vater dies bemerkt.
2. Der Sohn tötet seinen Vater.
3. Der Sohn Ödipus wird König und damit Repräsentant des Gesetzes. Für Freud hat das Gesetz seinen Ursprung hauptsächlich im Inzestverbot und in der Exogamie. Aus diesen Gesetzen entwickelt sich die Verfassung einer diversifizierten Gesellschaft, also das Gefüge von gesetzlichen Systemen. Ein Beispiel dafür ist der Dekalog, ein anderes das Römische Recht.
4. Die Söhne dieses Vaters Ödipus geraten in Streit miteinander; die beiden Söhne Eteokles und Polyneikes bringen sich gegenseitig um.
Dieser Mordrausch zwischen Vätern und Söhnen findet sich häufiger in der griechischen Sagenwelt. U.a. wird Zeus nur deshalb Erster auf dem Olymp, weil er seinen Vater Chronos umbringt. Zeus kommt zur Welt, ohne dass sein Vater davon Kenntnis erhält, denn man wusste, dieser würde das Kind umbringen, weil er fürchtete, von seinem Sohn umgebracht zu werden usw. Stets handelt es sich um ein Vaterbild, das davon gekennzeichnet ist, dass Vater und Sohn sich gegenseitig umbringen aus der Furcht, der eine wolle den anderen beseitigen. Wenn der Vater sich durchsetzt, ist er stets der Garant des Gesetzes; wird der Vater umgebracht, wird auch das Gesetz beseitigt. Der Vater symbolisiert das Über-Ich des Individuums und repräsentiert zugleich das gesamte, vom Individuum unabhängige Gesetzessystem. Er nimmt also auch den Platz des gesellschaftlichen Über-Ichs ein, von dem Freud im "Unbehagen in der Kultur" spricht. (Hier erwähnt Freud als periodisches Über-Ich den Urvater der Urhorde und Jesus, den er jedoch als Gesetzgeber-Gott versteht.)
Von diesem Vaterbild der griechisch-römischen Tradition geht Freud aus. Es ist ein Beispiel für jene Tradition, deren Gründungsmord der Vatermord ist und aus dessen Verweigerung wiederum sich das Individuum und die menschliche Gesellschaft konstituieren. Das von Abraham repräsentierte Vaterbild unterscheidet sich davon ganz erheblich. Wenn wir die entscheidenden Züge des oben dargestellten Vaterbildes mit den Zügen des von Abraham vertretenen Vaterbildes, den die Juden als ihren Vater verehren, vergleichen, kommen wir zu folgendem Resultat:
Die Gestalt des Vater Abraham verkörpert das strikte Gegenteil zum Vaterbild der griechisch-römischen Tradition, das Freud übernimmt und dann auf Mose überträgt. Freud erklärt Mose zum Vater des jüdischen Volkes, obwohl ihm eindeutig bekannt ist, dass für die jüdische Tradition Abraham der Vater ist. Freud erwähnt Abraham nicht einmal und erklärt oder rechtfertigt meines Wissens auch nicht, warum er so massiv in die jüdische Tradition eingreift. (Dabei heißt ausgerechnet doch einer seiner engsten, ebenfalls jüdischen Mitarbeiter "Karl Abraham"). Aber aus Freuds Perspektive verfügt gerade Moses und nicht Abraham, über die Züge, die ihn dem Vaterbild der griechisch-römischen Tradition so ähnlich sein lassen. Moses ist in der Tat ein Vater, der ein Gesetz durchsetzt, das er für das Gesetz Gottes hält. Kurz bevor Mose dem Volk das Gesetz übergeben will, schafft sich das jüdische Volk einen anderen Gott, der nicht des Moses Gott ist und dessen Gesetz sich von dem des Mose erheblich unterscheidet. Darauf setzt Mose sein Gesetz mit Feuer und Schwert durch. Er beauftragt die "Söhne Levis" dreitausend Juden zu töten, die das Goldene Kalb verehrt haben.[9] (2 Mose 32,25-29). Hält man Mose für den Vater des Volkes, wird hier die Ermordung des Sohnes geschildert. Folglich behauptet Freud mit einigem Recht, dass dieses Volk seinen Vater Mose später umbringen wird.
Diesen Symptomen zum Trotz halten die Juden weiterhin Abraham für ihren Vater und verlieren diese Katastrophe des Vater Moses aus dem Gedächtnis. Sie übernehmen jedoch das Gesetz, das Mose ihnen präsentierte, als Gottes Gesetz, als Gesetz des Gottes Jahwe. Sie annullieren das Gesetz nicht, halten es aber auch nicht für das Gesetz des Vaters, selbst wenn es von Gott stammt. Das heißt: Sie beseitigen zwar den Gott des Gesetzes nicht, aber gesellen ihm an bevorzugter Stelle den Vater Abraham und seinen Gott zur Seite.
Wenn wir von der Vatergestalt des Abraham ausgehen, wird uns sehr schnell deutlich, dass dieser Vater Abraham nicht ohne weiteres den Vater der griechisch-römischen Tradition ersetzen kann. Die Vatergestalt des Abraham ist eine kritische Gestalt. Sie spiegelt nicht das, was ist, sondern projiziert, was sein sollte. Man könnte sogar behaupten, dass diese Gestalt eine utopische Figur ist. Nach einem solchen Vater Abraham muss man stets verlangen, man ist sich seiner nie ein für allemal sicher. Der griechisch-römische Gott dagegen ist ein sterblicher Gott, wie man ihn bei Hobbes finden kann. Er wird zwar getötet, aber unmittelbar darauf gleich wieder eingesetzt, zum Leben erweckt.
Hobbes reflektiert über diesen sterblichen Gott in dem Moment, in dem er in der Gestalt des geköpften englischen Königs gestorben ist. Kurze Zeit später ersteht er - leicht verändert - in Cromwell und John Locke wieder auf. Diese Art Kontinuität wird von Marx als Thermidor bezeichnet. Der Thermidor ist ebenso beständig wie der Aufstand gegen den sterblichen Vater-Gott.
Die Vatergestalt des Abraham ist nie vollkommen realisiert, aber dennoch als Abwesender - mal mehr, mal weniger - stets präsent. Zur Rechtfertigung der Kritik am Brudermord bleibt er eine kritische Referenz im Widerstand gegen den anderen Vater. Abraham ist nicht der Vater von Macht und Gesetz, sondern der Vater, der aufsteht gegen den Brudermord. Der sterbliche Vater-Gott rechtfertigt den Klassenkampf von oben. Vater Abraham leistet von unten aus Widerstand gegen diesen Klassenkampf. Er ist der Vater des kritischen Denkens, das sich mit dem ermordeten Bruder bzw. mit der ermordeten Schwester bzw. Mutter identifiziert. [Nojo1]
Das kritische Denken nimmt seinen Ausgangspunkt beim ermordeten Mitmenschen. Es betrachtet diesen Mord insofern als Gründungsmord, weil es sich dagegen als Gegenbewegung des kritischen Denkens konstituiert. Wann vom Geschwistermord, der stets wieder begangen wird, geredet werden muss, macht Bertolt Brecht deutlich:
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“[10]
Das entscheidende Urteil steckt in diesem Satz: "Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten." Für das kritische Denken handelt es sich um Tötungsformen, die das Gesetz nicht verbietet bzw. häufig sogar nicht verbieten kann, aber legalisiert.
Vor allem möchte ich zwei Prinzipien der Gerechtigkeit anführen, die eine lange Geschichte hinter sich haben und gerade heute wieder brennend aktuell sind. Beide stammen aus der kulturellen Tradition des Judentums und seiner Kritik am Brudermord.
In beiden Prinzipien geht es um einen Konflikt zwischen der Erfüllung eines Gesetzes und einer gerechten Bezahlung. Die Gerechtigkeit, die hier gefordert wird, hat ihren Maßstab darin, das Leben zu sichern und den Geschwistermord zu verhindern.
Der Gründungsmord ist der Brudermord. Ihn zu verhindern, hat Vorrang vor jeder Gesetzeserfüllung. Der Apostel Paulus bestätigt dieses Prinzip, wenn er sagt:
"Die Kraft des [Verbrechens] ist das Gesetz"[11] 1 Kor 15,56.
Die Verurteilung des Bruder-/Geschwistermordes führt also zu einem allgemeingültigen Gerechtigkeitsprinzip, das wir folgendermaßen formulieren könnten: Jede Anwendung des Gesetzes ist danach zu beurteilen, ob es sich möglicherweise um eine Begünstigung des Bruder-/Geschwistermordes im Namen des Gesetzes handelt. Es geht also nicht darum, das Gesetz abzuschaffen, sondern es ständig einem Unterscheidungsprozess zu unterwerfen, also dem Kriterium, ob ein bestimmtes Gesetzeshandeln den drohenden Bruder-/Geschwistermord begünstigt oder behindert. Dieses Kriterium bringt das von Freud praktizierte Gesetzesverständnis nicht zum Verschwinden. Die Triebunterdrückung ist stets notwendig. Sie provoziert immer wieder einen Konflikt zwischen Trieb und Gesetz. Das Gesetz unterdrückt den Trieb und lenkt ihn auf ein anderes Gebiet um, das besser mit dem Leben des Menschen in Einklang zu bringen ist. Dieser Prozess verändert die Triebe und sublimiert sie. Das fördert die Anpassung an Macht und Gesetz. Aber die Freiheit besteht darin, angesichts des Bruder-/Geschwistermordes in Erfüllung des Gesetzes über das Gesetz zu urteilen. Für diese Freiheit hat Freud kein Verständnis.
Es liegt in der Logik des drohenden Bruder-/Geschwistermordes in Erfüllung des Gesetzes, dass daraus auch eine Logik erwächst, die dem Zerfall der menschlichen Gesellschaft Vorschub leistet. Letztlich ist der Neoliberalismus eine Ideologie des kollektiven Selbstmordes, der aus dem uneingeschränkten Bruder-/Geschwistermord hervorgeht. Der kollektive Brudermord endet im kollektiven Selbstmord. Diese krankhafte Rationalität hat sich global verbreitet und taucht in allen Lebensbereichen der Gesellschaft auf. Die irrationale Rationalität des heutigen Systems dringt in alle Bereiche ein, in die Familie, in den Markt, in andere Institutionen und seit Mitte der 90er Jahre des 20. Jhdts. auch in die Kriege, die im Nahen Osten und in Afrika gegen das imperiale System geführt werden. Dieses Phänomen ist nicht "islamisch", sondern typisch modern. Die ersten Selbstmord-Attentate geschahen Ende der 70er Jahre in den USA. Sie spiegeln die Irrationalität der Rationalität unseres Systems wieder. Unsere Rationalität selbst ist irrational geworden. Die Rationalität des Brudermords provoziert die Irrationalität.
Gegen diesen Prozess erhebt sich eine Bewegung, die eine andere Rationalität verwirklichen und auch mit Konflikten anders umgehen will, wenn sie nach dem Leitwort handelt: Ich bin, wenn du bist. Diese Einstellung kanalisiert und limitiert die Destruktivkräfte des gegenteiligen Prinzips, des Prinzips des grenzenlosen Wettbewerbs, das nach dem Leitwort wirkt: Ich lebe, wenn ich dich besiege. Das beginnt bereits in der Antike: Meine Freiheit ist dann garantiert, wenn ich Sklaven habe. Freisein heißt Sklaven haben[12]: der Sklave, den ich besitze, ist der Beweis meiner Freiheit.
Freud kritisiert das Christentums, ohne es zu verstehen. Das Christentum entsteht als eine "Religion" von Geschwistern, die sich alle als Söhne und Töchter Gottes begreifen. Für sie ist die Hinrichtung Jesu am Kreuz in erster Linie ein Brudermord, aber keineswegs ein Gottesmord oder Ähnliches. Eben dieses Faktum begreift Freud nicht.
Er behauptet, dass "…der Sohn, der die Sühne auf sich genommen, selbst Gott wurde neben dem Vater und eigentlich an Stelle des Vaters. Aus einer Vaterreligion hervorgegangen, wurde das Christentum eine Sohnesreligion. Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen, ist es nicht entgangen[13].
Der Jesus des frühen Christentums hatte keineswegs einen zuvor geschehenen Vatermord zu sühnen. Er erleidet selbst die Ermordung, weil er stets darauf verwiesen hatte, dass der Brudermord der Gründungsmord jener Gesellschaft sei, in der er lebe.
Hier verwechselt Freud etwas. Das Christentum entstand als Sohnesreligion, als Religion des Menschensohnes. Sicherlich war Jesus auch Sohn Gottes, aber so, wie alle Menschen tatsächlich oder potentiell Söhne und Töchter Gottes sind. Jedoch die im dritten und vierten Jahrhundert amtlich (insbesondere von Konstantin und Augustinus) durchgesetzte offizielle Theologie formierte das Christentum neu zu einer Vaterreligion, als sie behauptete, Jesus sei der einzige Sohn Gottes, den der Vater dazu beauftragt habe, den Sühnetod für das Verbrechen zu sterben, das die Menschen am Vater begangen haben. Damit schien das Christentum wiederum eine Vaterreligion zu sein und der Tod Jesu kein Brudermord, sondern ein Vatermord, der nur an seinem Sohn begangen wurde. Auf dieses Christentum bezogen mag Freud Recht haben, wie mir scheint.
Das Christentum verändert sich eben in dem Moment, in dem es im Laufe des III. und IV. Jahrhunderts das Imperium christianisiert. Um das Imperium christianisieren zu können, musste es zuerst sich selbst imperialisieren. Eine solche Imperialisierung des Christentums verlangte jedoch, dass es den Vatermord statt des Brudermordes als Gründungsmord definierte. Von da an musste jede Christus-Deutung der Gestalt Jesu das Bild vom "Bruder Jesus" durch das Bild vom "Gottessohn Jesus" ersetzen, durch die zweite Person des dreifaltigen Gottes. Jesus ist Gottes Sohn in der Dreifaltigkeit Gottes. Er zieht einen menschlichen Körper an, wenn er auf die Erde kommen will. Der menschliche Körper ist für ihn so etwas wie ein Sakko, das er sich überzieht. Auf diesen rundum erneuerten Jesus, der wegen des Vatermordes den Sühnetod für die Menschheit stirbt, bezieht sich Freud in seinen Analysen. Für ihn ist die Ermordung Jesu der am einzigen Gottessohn vollzogene Vatermord.
Wenn man unter dieser Voraussetzung den oben zitierten Text von Freud liest, muss man ihn für eine zutreffende Analyse halten. Dann lassen sich leicht folgende Schlussfolgerungen ziehen: Das Über-Ich, zusammengesetzt aus sterblichem Gott und verborgenem Vater, wird zum Über-Ich des Marktsystems. Das Über-Ich erlässt die Gesetze, der sterbliche Gott setzt diese Gesetze durch, es sind die Gesetze des Marktes, die sich tarnen als sterblicher Gott-Vater-Über-Ich-Marktsystem.
Jesus, der den Vater ersetzt, aber sich mit dem Vater identifiziert, wird zum gesellschaftlichen Über-Ich. Eben diese Denkfigur macht sich der Antisemitismus als Legitimationsbasis zu eigen: Der Sohn ist der Stellvertreter des Vaters, als dessen Söhne sich die Juden verstehen; diesen Vater ersetzt das veränderte Christentum durch Jesus und beseitigt ihn faktisch sogar. Aber diese Beseitigung ist kein Vatermord, sondern Jesus ersetzt den Vater nur. Wer jedoch in der Tat beseitigt wird, ohne überhaupt erwähnt zu werden, ist der Vater Abraham. Mit ihm beseitigt der Antisemitismus auch die Vorstellung vom Brudermord als Gründungsmord. Das macht im Kern den Antisemitismus aus.
Nun wird der Vatermord zur Ur-Sünde, der gegenüber sich jeder Mensch verhalten muss. Das Christentum ist in Freud`s Verständnis die institutionalisierte Sühne dieser Schuld, weil es von dieser Schuld erlösen und alle Christen mit dem Vater versöhnen kann. Das Gesetz des Über-Ich hat man ganz einfach zu erfüllen, weil es Gesetz des Vaters ist, des sterblichen Gottes etc., des Vaters mit absoluter Macht, der (im Vater eines jeden Menschen) immer wieder ersteht. Zum schlimmsten Verbrechen wird es nun, die Schuld des Vatermordes nicht einzugestehen.
Dieses Problem wirkt bis heute, wenn es auch durch die Befreiungstheologie neu aufgeworfen wurde. U.a. ist die Warnung gegen und vor Jon Sobrino, dem Jesuiten-Theologen an der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador, ein weiterer Hinweis darauf. Jon Sobrino hatte eine Christologie entwickelt, die wirklich vom Brudermord als Gründungsmord ausging. Sie deutet die Kreuzigung Jesu als Brudermord. Joseph Ratzinger warnte als Papst vor Jon Sobrinos Thesen mit dieser Behauptung:
"Die Beziehung Jesu mit Gott wird nicht korrekt zum Ausdruck gebracht, wenn man sagt, dass er ein Glaubender wie wir war. Im Gegenteil, gerade die innige, direkte und unmittelbare Kenntnis, die er vom Vater hat, erlaubt es ihm, den Menschen das Geheimnis der göttlichen Liebe zu offenbaren. Und nur so kann er uns in diese Liebe einführen."[14]
Zweifellos befindet sich Ratzinger zusammen mit der vatikanischen Glaubenskongregation näher bei Freud als bei Sobrino.
Freud konstruiert das Subjekt ausschließlich als ein Individuum, ja mehr noch als ein bürgerliches Individuum. Es handelt als Eigentümer und kalkuliert den seinem Zugriff erreichbaren Teil der Welt. Dieses Individuum hat zwar einen Vater, aber dieser Vater ist das Gesetz, das Gesetz des Marktes, das sich als Über-Ich auswirkt. In der Umgebung dieses Individuums existieren andere Subjekte, die jedoch Objekte seiner Kalkulationen darstellen. Ihnen gegenüber empfindet das Individuum instinktive Triebe, die es auch auslebt, indem es seine Einnahmen, und damit seinen Vorteil insgesamt maximiert.
Das Individuum betrachtet jeden anderen Menschen ausschließlich als zu nutzendes Objekt. Dem widersteht das jüdische Verständnis des Anderen: Es reduziert den anderen Menschen niemals zum Objekt. Der andere Mensch ist vielmehr Bruder/Schwester, mit dem der Mensch das Leben teilt. Diese Grundeinstellung lässt sich in der Formel zusammenfassen: Ich bin, wenn du bist. Insofern ist der andere Mensch zugleich ich selbst, und ich zugleich der andere Mensch. Mein Leben kann nur zur Fülle finden, wenn auch der andere Mensch in einem freien Leben zur Fülle findet. Die Beziehung zum anderen Menschen ist dadurch bestimmt, dass beide einander gegenseitig das Leben ermöglichen.
Das Über-Ich steht damit nicht in Konfrontation mit einem Individuum, sondern mit einem Beziehungsnetz von Individuen, die ihre subjektive Beziehung gegenseitig auf der Überzeugung aufbauen: Ich bin, wenn du bist. Durch ein solches Beziehungsnetz wird das Gesetz zu einer relativen Größe, die dazu dienen soll, das Leben als Beziehung von Subjekten in intersubjektiver Gegenseitigkeit zu sichern. Jede andersgeartete Beziehung wäre Brudermord. Die Verhinderung des Brudermordes hat Vorrang vor jeder gesetzlichen Verpflichtung, daher also auch vor jeglicher singulären Individualität. Von dieser Grundvoraussetzung wird die gesamte Kultur bestimmt, selbst wenn viele ihr nicht gerecht werden. Der Grund-Satz: "Ich bin, wenn du bist" bestimmt den Kern der Existenz jedes einzelnen Menschen, darf also nicht mit dieser oder jener Gesetzesvorschrift verwechselt werden. Dieser Grundsatz stellt vielmehr ein Kriterium zur Beurteilung jeglichen Gesetzes dar. Der Konditionalsatz "...wenn du bist", bezieht sich einerseits auf den anderen Menschen, aber andererseits ebenso auf die den Menschen umgebende Natur. Denn auch nur, wenn sie ist, kann ich sein.
Es existieren jedoch auch noch andere Konstruktionen von Mythen über die ersten Menschen. Die von Milton Friedman zur Rechtfertigung des Neoliberalismus vorgelegte Konstruktion interessiert uns hier besonders.
Friedmann beginnt seine Vorstellung vom Ursprungsmythos, von dem er ausgeht, mit folgenden Worten:
„So würde man beispielsweise ohne große Schwierigkeit volle Zustimmung dafür finden, daß die Freiheit des Menschen, seinen Nachbarn zu ermorden, aufgehoben werden muß, um dem anderen Mann die Freiheit des Lebens zu erhalten.“ Friedman, Milton, Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1984, S. 49
Wenn wir von diesem Text ausgehen, brauchen wir vor allem eine Verbesserung der Übersetzung. Die Übersetzung, um die es sich hier handelt, spricht von der „Freiheit des Menschen, seinen Nachbarn zu ermorden“. Sie übersetzt folglich das englische Wort neighbor mit Nachbar. Im Zusammenhang des Arguments von Friedman ist diese Übersetzung nicht vertretbar. Das Wort neighbor kann sowohl als Bedeutung das Wort der Nachbar wie auch der Nächste haben. Im Zusammenhang allerdings, in dem Friedman spricht, kann es aber nur der Nächste bedeuten. Daher müsste übersetzt werden: „Freiheit des Menschen seinen Nächsten zu ermorden“.
Man erkennt dann, dass eben Friedman die Freiheit erklärt, den Nächsten zu ermorden. Alle unsere bisherige Kultur vertritt allerdings nicht das Recht, den Nächsten zu ermorden, sondern sie fordert, seit ihrem Anfang in der jüdischen Tradition, den Nächsten zu lieben. Als Cain Abel ermordet, wird der Fluch über Cain ausgesprochen. Und Abraham wird gesegnet, weil er nicht seinen Sohn Issak tötet, um ihn zu opfern. Friedman annulliert ganz bewusst diese Tradition. Er spricht dann von der Notwendigkeit diese Freiheit, seinen Nächsten zu töten, zu „opfern“, „um dem anderen Mann die Freiheit des Lebens zu erhalten“.
Dieses Opfer wird dadurch gebracht, dass man ein entsprechendes Gesetz einführt, das eine bestimmte Institution schafft. Das bedeutet, dass er nicht etwa diese Freiheit, den Nächsten zu morden, durch die Nächstenliebe ersetzt, sondern durch die Schaffung einer Institution, die durch Gesetz verwirklicht wird. Diese Institution ist nach Friedman der Markt:
„Die grundlegende Erfordernis ist die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung, um jeden physischen Druck eines Individuums auf ein anderes zu verhindern und dafür zu sorgen, daß die freiwillig geschlossenen Verträge eingehalten werden, um damit dem „Privaten" seine Substanz zu verleihen.“ Friedman, op.cit. S. 35
Auf diese Weise ist es der Warenaustausch, dessen Regeln und Gesetze die Freiheit, den Nächsten zu ermorden, begrenzt. So werden jetzt nach Friedman alle menschlichen Beziehungen durch den Markt kanalisiert, und ausserhalb des Marktes gibt es weder Rechte noch Verpflichtungen. Vor allem gibt es keine Menschenrechte, zu deren Verwirklichung der Markt interveniert sein müsste. Alles das was man innerhalb der Grenzen des Marktes tut, ist wohlgetan. Innerhalb des Marktes darf man nicht den Nächsten ermorden, aber man kann ihn als Folge eines Markthandelns ermorden, indem man ihn sterben lässt.
Diese absolute Souveränität des Marktes führt natürlich zu Konflikten. Wenn der Markt sterben lässt, wird der Markt ungerecht. Friedman anerkennt keine Ungerechtigkeiten dieses Typs, auch wenn sie zum Tode der Opfer führen. Hier überlebt sein Freiheit, den Nächsten zu ermorden. Daher fordert er dem Markt gegenüber folgende Haltung:
„Eine der Hauptursachen für die Gegnerschaft zur freien Wirtschaft ist gerade die Tatsache, daß sie ihre Aufgaben so gut erfüllt. Sie gibt den Menschen das, was sie wollen, und nicht das, was ihnen eine bestimmte kleine Gruppe aufzwingen will. Hinter den meisten Argumenten gegen den freien Markt steckt der mangelnde Glaube an die Freiheit selbst.“ Friedman, op.cit. S. 36
Jetzt braucht er einen „Glauben“ an die Freiheit des Marktes und diejenigen, die die Ungerechtigkeiten des Marktes anklagen, müssen es lernen, dass der freie Markt seine Aufgaben vollkommen gut erfüllt, auch wenn sie selbst dabei ihre Möglichkeit zu leben verlieren.
Im Falle, dass sie dieses Argument des Glaubens nicht akzeptieren, kann diese Differenz nicht durch Wahlurnen, also demokratisch, überwunden werden:
„Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, die Grundwerte betreffen, können selten, wenn überhaupt, an der Wahlurne entschieden werden; letzten Endes können sie nur durch einen Konflikt gelöst, aber nicht behoben werden. Die Religions- und Bürgerkriege der Geschichte sind das blutigste Zeugnis dieser Entscheidung. Friedman, op. Cit p. 46
Wie man sieht, Friedman fordert für diesen Fall die Legitimität dafür, diesen absoluten und totalen Markt denen gegenüber mit Gewalt aufzuzwingen, die Widerstand üben. Man versteht dann, warum Milton Friedman im Falle der totalitären Diktaturen der Nationalen Sicherheit in Lateinamerika ohne jeden Zweifel auf der Seite dieser Diktaturen stand. Ganz ausdrücklich unterstützte er den Diktator Pinochet in Chile nach dem Militärputsch von 1973. Ebenso versteht man, warum Friedman die gesetzlich begründete Abschaffung der Sklaverei als illegitime Intervention in den Markt betrachtet.
Noch eindrücklicher als Milton Friedman jedoch verwandelt Friedrich August von Hayek den Markt in ein Objekt der Frömmigkeit. Er ist der andere Guru des heutigen Neoliberalismus. Ich werde hier ein längeres Zitat einfügen, um diesen vom Neoliberalismus verlangten Glaubensakt für die Funktionsfähigkeit des Marktes belegen zu können:
"Es gibt weder im Englischen noch im Deutschen ein eindeutiges Wort, das auf adäquate Weise ausdrückt, was das Wesen einer erweiterten Ordnung ausmacht, noch dafür, warum ihr Funktionieren den Ansprüchen der Rationalisten widerspricht. Der Terminus “transzendent”, der einzige, der im Grunde hierfür adäquat wäre, ist derartig oft missbraucht worden, dass ich zögere, ihn zu verwenden. In wörtlicher Bedeutung hingegen bezieht sich der Terminus auf all das, was sich jenseits der Grenzen unserer Vernunft, unserer Absichten, unserer Vorschläge und unserer Empfindungen befindet, aber auch auf das, was über ein Wissen verfügt und ein Wissen hervorbringt, das kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation besitzen oder erfinden könnte.
In religiöser Bedeutung ist das leicht erkennbar, wenn zum Beispiel im Vaterunser gefordert wird, dass: “Dein Wille geschehe (und nicht der Meinige) wie im Himmel also auch auf Erden”; oder im Evangelium: “Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe…“ (Joh 15,16). Aber eine noch eindeutiger transzendente Ordnung, die auch eine ebenso eindeutig natürliche Ordnung ist (das heißt, die nicht von irgendeiner übernatürlichen Macht herleitbar ist), wie z.B. bei der Evolution, verzichtet auf jenen Animismus, der noch die Religion beherrscht, nämlich die Vorstellung, dass ein einziges Hirn bzw. ein einziger Wille (wie z.B. ein allwissender Gott) alles kontrollieren oder ordnen könnte."[15]
Hayek hält den Markt für ein "transzendentes" Faktum und definiert es folgendermaßen:
"In wörtlicher Bedeutung [...] bezieht sich der Terminus auf all das, was sich jenseits der Grenzen unserer Vernunft, unserer Absichten, unserer Vorschläge und unserer Empfindungen befindet, aber auch auf das, was über ein Wissen verfügt und ein Wissen hervorbringt, das kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation besitzen oder erfinden könnte."
Dann betrachtet er dieses übermenschliche Gefüge in religiöser Hinsicht:
"In religiöser Bedeutung ist das leicht erkennbar, wenn zum Beispiel im Vaterunser gefordert wird, dass: “Dein Wille geschehe (und nicht der Meinige) wie im Himmel also auch auf Erden”...."
So spricht der Mensch als Marktteilnehmer, wenn er den Glaubensakt an die Freiheit des Marktes vollzieht. Er richtet sich an den Markt als das Objekt seiner Frömmigkeit und spricht ihn mit den Worten an, die das Vaterunser an den Vater im Himmel richtet: "Dein Wille geschehe (nicht der Meinige), wie im Himmel so auf Erden."
Hayek ist jedoch auch bekannt, mit welcher Antwort der Marktgott aufwartet. Dafür greift er auf ein Zitat aus dem Evangelium zurück:
"Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe…“ (Joh 15,16)
So reagiert der Marktgott auf den Gläubigen, der vom Glauben an den Markt überzeugt ist. Der Vater ist keine Person mehr, sondern die Institution Markt. Wer also in den Markt interveniert, begeht einen Vatermord. Vatermörder aber müssen beseitigt werden. So denkt zumindest Augusto Pinochet, wenn er behauptet, dass alle Subversiven Vatermörder seien. Der so verstandene Markt ist der Gott, der heute im Neoliberalismus agiert. Aber eigentlich agiert er bereits bei Hobbes und Adam Smith. Marx bezeichnet ihn als das "Wertgesetz", das Mensch und Natur verschlingt. Es ist zugleich das Gesetz jener Religion, die der Kapitalismus darstellt.
Hier möchte ich zurückgreifen auf ein Argument, das ich bereits vor einigen Jahren erarbeitet habe. Es geht um die Rolle, die das Wertgesetz und die dazu gehörige Marktethik spielen. Bereits Aristoteles befasst sich mit dieser Frage, wenn er ein Markthandeln, das nur um der Geldvermehrung willen geschieht, als Chrematistik bezeichnet und dieses von der Ökonomie unterscheidet. Aristoteles behauptet gar, dass jedes Handeln, das das Geld um des Geldes willen zu vermehren sucht, widernatürlich sei. Eben diese Überzeugung setzt auch die Kritik in Gang, die Karl Marx am Wertgesetz übt. Im Grunde behandelt bereits das zehnte Gebot des Dekalogs diese Frage, wenn es das "Begehren" thematisiert. In diesem Zusammenhang greife ich auf einen eigenen Text zurück, der sich mit Paulus befasst:
Das Gesetz [von dem Paulus spricht] bezieht sich natürlich weiterhin auf den Kern der Gesetzlichkeit, so wie Paulus ihn sieht, also auf das sechste bis zehnte Gebot. Ich werde dabei allerdings vor allem jene Gebote herausstellen, die sich auf das Verhältnis des Menschen zur Dingwelt beziehen. Es sind dies das siebte bis neunte Gebot (nicht töten, nicht stehlen, nicht betrügen). Ihnen steht das wichtigste Gebot gegenüber, nämlich das zehnte Gebot: du sollst nicht begehren. - Ich setze einen solchen Akzent, weil dieser Aspekt der Gesetzeskritik des Paulus gewöhnlich völlig vernachlässigt wird.[16]
Wie wichtig das zehnte Gebot auch für andere Autoren ist, unterstreiche ich ebenfalls im eben zitierten Buch:
"Damit wird eine andere Dimension der Ethik offenkundig. Mit dem Bewusstsein der Grenzen - sei es der Tod, sei es der Zugang zur Welt - erscheint der andere Mensch als eine Grenze. Ihn zu beseitigen, erscheint so als eine Überwindung der Grenze des Zugangs zur Welt, sofern der Andere deren Besitzer ist ( dies ist der Inhalt des zehnten Gebotes, sowohl René Girard als auch Jacques Lacan halten es für das wichtigste Gebot des Dekalogs)".[17][Nojo3]
Paulus versteht das zehnte Gebot in einer weit umfassenderen Bedeutung, als nur im Sinne eines einzelnen Gebotes. Daher formuliert er es um:
"Lasst euch nicht vom Fleisch anleiten, indem ihr euch der Gier ausliefert." (Röm 13,14)
Daher lassen sich zwei verschiedene Weisen unterscheiden, wie die erwähnten Gebote (nicht töten, nicht stehlen, nicht betrügen) erfüllt werden können. Die eine besteht darin, sich vom Fleisch bestimmen zu lassen, das heißt, der Gier anheimzufallen und dadurch das Gebot zu verletzen, selbst wenn hier formal das Gebot nicht verletzt wird. Die andere Weise besteht darin, den Körper von seiner Fleischlichkeit zu befreien und dem menschlichen Leben zu dienen (im Verständnis des Paulus bezeichnet das Wort "Fleisch" üblicherweise eine negative Existenzweise, also den Körper der Gier auszuliefern.) Dem Fleisch, das sich der Gier ausliefert, stellt Paulus die körperliche Befreiung gegenüber. Davon spricht er ausdrücklich in Röm 8,23[18]. Durch diese Befreiung lässt der Körper die Gier hinter sich. Liefert man jedoch den Körper der Gier aus, muss man - rein legalistisch betrachtet - keineswegs das Gesetz verletzen.
Auch Karl Marx unterscheidet diese beiden Verhaltensweisen gegenüber dem formalen Gesetz. Er sieht den Unterschied in der Verschiedenheit der Warenproduktion: Er unterscheidet die einfache Warenproduktion und die erweiterte (kapitalistische) Warenproduktion. Diese Unterscheidung stellt für ihn kein ethisches Problem dar, sondern ein Problem zur Strukturierung der Wirtschaft, als Wirtschaft mit bzw. mit beschränktem Geldgebrauch. Diese Unterscheidung ist heutzutage obsolet geworden, weil keine Form des Sozialismus, die sich entwickeln will, von Geld und Markt absehen kann. Damit wird zugleich verständlich, warum die heutige marxistische Debatte selbst die Frage als ein ethisches Problem behandelt.[19]
Zusammengefasst: Gier ist die wirksame Form von Marktfrömmigkeit und von frömmlerischem Verhalten gegenüber irdischen Göttern. Im Marxschen Vokabular trifft man auf diese Götter vor allem im Markt, im Geld und im Kapital. Der junge Marx hat damit angefangen, von irdischen Göttern zu sprechen, und zugleich gegen Feuerbach den Vorwurf erhoben, sich nur mit himmlischen Göttern zu beschäftigen. Später bezeichnete er die irdischen Götter als Fetische. Aber auf alle Fälle bleiben sie für Marx Götter, wenn auch eher im Sinne von falschen Göttern bzw. Götzen. Marx hat gegen diese falschen Götter nie irgendeinen wahren Gott in Stellung gebracht, sondern die falschen Götter stets als Gegner jenes Menschen gesehen, der das höchste Wesen für den Menschen ist. Marx hält diese Götter für falsch, weil sie sich weigern, den Menschen als Zentrum und Mitte jeglichen Verhältnisses zur Menschwelt anzuerkennen, und damit als Mitte und Zentrum aller Institutionen, mit denen der Mensch in Beziehung tritt. Für Marx kann keine Institution den Anspruch erheben, ein höchstes Wesen zu sein. Für das neoliberale Denken jedoch sind, wie wir bei unserer Analyse der Äußerungen von Hayek feststellten, die Institutionen des Marktes das höchste Wesen, das den Menschen aus der Mitte verdrängt und ihn seiner Logik unterwirft. Daher kann man sie nur als Götzen bzw. falsche Götter bezeichnen.
Das bedeutet jedoch, die irdischen Götter dürfen nicht so behandelt werden, wie Feuerbach die himmlischen bzw. transzendenten Götter behandelt. Himmlische Götter existieren nur solange, als Menschen daran glauben, dass es sie gibt. Wenn man nicht an sie glaubt, gibt es sie auch nicht. Davon ist auch Marx überzeugt. Aber ihn unterscheidet von Feuerbach eben die Wahrnehmung der irdischen Götter. Deren Existenz hängt nicht davon ab, ob man an sie glaubt oder sie leugnet. Sie existieren, sobald der Mensch sich so verhält, dass er ihnen sein Leben ausliefert, und sei es dass er das körperliche Leben der Gier ausliefert. Der Gier folgen heißt an den Markt glauben, ans Geld und ans Kapital. Das ist ein real wirksamer Glaube. Das ist ein Glaube, der zwar kein Glaubensbekenntnis zur Grundlage haben muss, und dennoch oftmals hat. Ein Beispiel: Sogar der Chef der US-amerikanischen Bank Goldman-Sachs behauptete, dass er durch seine Arbeit "ein Werk Gottes verrichte".(FAZ v.9.11.2009) [20] Solche Glaubensbekenntnisse haben jedoch keinerlei Relevanz für das Wirtschaftsleben. Vielmehr wird der Glaube letztlich dadurch wirklich getan, dass man die Gier zum Maßstab der Wirtschaftsethik erhebt.
Diese Art Glauben ist für Karl Marx der Glaube an einen Fetisch. Fetische sind Götter, die zwar keine metaphysische bzw. ontologische Existenz besitzen, aber sich dennoch im menschlichen Handeln auswirken und darin gegenwärtig sind. In Worten von Karl Marx: "Sie werden hinter dem Rücken der Produzenten produziert!" Sogar Hayek trifft eine ähnliche Unterscheidung. Im obigen Zitat, in dem er seine Marktreligion bekennt, macht er den Unterschied klar, indem er darauf besteht, dass er den "Animismus, der noch die Religion beherrscht", nicht übernimmt.
Das bedeutet nur, dass er die metaphysischen bzw. ontologischen Fragestellungen, die religiöse Thesen behandeln, nicht übernimmt. Aber das ist völlig nebensächlich. Seine Thesen sind erkennbar religiöse Feststellungen, die zu einer bestimmten Frömmigkeit anstiften wollen und den gesamten Neoliberalismus zu einem gigantischen Götzendienst verzaubern. Die Voraussetzung dafür jedoch ist, dass man den Markt für einen Fetisch hält. Daran erkennt man den fantastischen Aberglauben, ja sogar eine Art von Blasphemie.
Es lässt sich nicht übersehen, dass Hayeks Marktreligion als simple Verkehrung der Religionskritik gedeutet werden kann, die für Karl Marx der Ausgangspunkt war. Marx entlarvt die falschen Götter, gegen die er den Menschen selbst als das höchste Wesen für den Menschen in Stellung bringt. Hayek dagegen erklärt diese Götter zu den einzig wahren Göttern und daher als das höchste Wesen für den Menschen, denen der Mensch gehorsam zu sein hat, indem er sein ganzes Leben der Logik der Institutionen von Markt, Geld und Kapital unterwirft.
Bemerkenswerterweise führt diese religiöse Haltung des Neoliberalismus, die das menschliche Verhalten dem Diktat der Gier unterwirft, schließlich nicht zu einer Art Materialismus, sondern zu einem extremen Idealismus. Alles ist Geist, aber eben Geist vom Geiste des Marktes, des Geldes und des Kapitals. Die hier dargestellten Positionen von Friedman und Hayek sind alle bereits im Werk von Ludwig von Mises zu finden, dem Gründer der neoliberalen Bewegung.
Das religiöse Gefüge des Neoliberalismus hebt schließlich sogar alle Menschenrechte auf. Sobald ein Neoliberaler von Menschenrechten spricht, hat er stets die Menschenrechte im Sinne, die den Menschen als Marktteilnehmer betreffen. Auf dieser Grundlage bewegen sich die Neoliberalen. Im Grunde folgen sie der Tradition von Hobbes, der das commonwealth (das gesellschaftliche System, das Staat und Markt umfasst) zum sterblichen Gott erklärt, der dem ewigen Gott im Himmel untertan ist. Ihm gab er den Namen Leviathan, dessen Blut das Geld ist. Die bürgerliche Gesellschaft hat sich in der Tat stets als dieser sterbliche Gott verstanden.
Die Neoliberalen akzeptieren kaum eine Debatte mit anderen Denkströmungen. In der Sowjetunion betrachtete man das Denken im Westen als bürgerliche Theorie bzw. als bürgerliches Denken. In der sog. "freien Welt" redete man über das sowjetische Denken ganz anders. Man bezeichnete es nicht als sowjetisches bzw. marxistisches Denken, sondern weigerte sich schlicht, alles marxistische Denken überhaupt als wissenschaftlich anzuerkennen. So Karl Popper, der das marxistische Denken als unwissenschaftlich abtat. Poppers Theorie muss man möglicherweise als schlimmsten Dogmatismus der Menschheitsgeschichte bezeichnen. Er deklarierte nicht, dass das marxistische Denken falsch sei, sondern behauptete, dass es nicht einmal wissenschaftlich sei. Ausschließlich Poppers Denken - also die Falsifizierung wissenschaftlicher Behauptungen - könne wissenschaftlichen Charakter beanspruchen. Deshalb lasse sich über jedes andere wissenschaftliche Denken nicht einmal ernsthaft diskutieren. Fast die gesamte "freie Welt" übernahm diese Position und beschränkte sich in ihrem eigenen Denken darauf, mit bemühter Kunstfertigkeit "Falsifizierung" nachzuweisen.
Im Kontext dieser Art des Denkens verstieg sich Popper zu einer Behauptung, die ihm fast überall Applaus einbrachte:
Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln - eine Hölle, wie sie nur Menschen für ihre Mitmenschen verwirklichen können."[21]
Gewiss kann der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, die Erde in eine Hölle verwandeln. Aber darauf zu verzichten, den Himmel auf Erden anzustreben, führt mit Sicherheit dazu, die Hölle auf Erden zu verwirklichen. Im Zuge der heutigen Globalisierungsstrategie, die nicht zulässt, dass man überhaupt eine Alternative bzw. eine andere Welt anstrebt, sind wir gerade dabei, diese Hölle auf Erden zu schaffen.
Dieser Anti-Utopismus Poppers wurde nach Amtsantritt der Reagan-Administration umformuliert. Reagan war ein Bündnis mit dem apokalyptischen Fundamentalismus eingegangen, der sich höchst utopistisch gab. Damit war klar, dass sogar Konservative auf Utopien setzten. Also konnte der Anti-Humanismus nicht mehr einfach anti-utopistisch bleiben, wie Popper ihn konzipiert hatte.
In die gleiche Richtung zielte die Vorstellung der apokalyptischen Fundamentalisten vom "Anti-Christ". Als sich Anfang der 90er Jahre der Fundamentalismus in der "Left behind"-Bewegung neu formierte, wurde der Anti-Christ beim UNO-Generalsekretär ausgemacht, weil er für den Weltfrieden und für ausreichende Ernährung aller Menschen eintrat. Schlimmeres konnte man nach Überzeugung der Fundamentalisten nicht vorschlagen, weil es mit Sicherheit in die Katastrophe führe. Wer so etwas vorschlägt, kann für die apokalyptische Rechte nur ein abgrundtief schlechter Mensch, also nur der Anti-Christ sein.
Die gleiche Mentalität offenbarte danach die Manager-Sprache der multinationalen Konzerne. In Deutschland betrachtete man die "Gutmenschen" als eine Gefahr für Wirtschaft und Gesellschaft. "Gutmenschen" sind all jene, die aus humanistischem Verständnis von Gesellschaft und zwischenmenschlichen Beziehungen die Kontrolle über wirtschaftliche Mechanismen ausüben und in sie intervenieren wollen. Auch solche Menschen gelten als Anti-Christ, weil es als typisch für den Anti-Christen gilt, dass er Frieden und Nahrungssicherheit für alle Menschen auf der Erde verwirklichen will. Also sind die "Gutmenschen" eine echte Gefahr. Im Gegensatz zu diesen verstehen die Konzernmanager den Menschen im wesentlichen als Humankapital und fördern deshalb die "Ich-AG". Wenn jeder einzelne Mensch sich als Aktiengesellschaft betrachtet und eine "Ich-AG" bildet, wird das mit Sicherheit die beste aller möglichen Welten herbeiführen. Dieser Leitidee liegt die These zugrunde, dass der Markt für alle und alles die bestmögliche Lösung findet. Wer den Markt zu regulieren sucht, macht es geradezu unmöglich, das Bestmögliche zu erreichen.
Durch ein solches Gesellschaftsverständnis werden alle Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Sie gelten nur für einen einzigen Fall, und zwar zur Legitimation von Kriegen.
Sobald ich davon höre, dass der Mensch zum Humankapital reduziert wird, kommt mir eine Erinnerung an das Jahr 1944 in Nazi-Deutschland in den Sinn. Als Kinder liefen wir häufig zum Bahnhof unserer Stadt um die gigantischen Lokomotiven zu bestaunen, die vorbeifuhren. Diese würden wir gern selbst in Zukunft als Lokomotivführer lenken. Eines Tages sah ich, dass auf dem Kohlenwagen der Lokomotive der Text geschrieben stand: "Der Endsieg ist uns sicher. Wir haben das bessere Menschenmaterial".
Heutzutage spricht man zwar nicht mehr vom Menschenmaterial, sondern vom Humankapital, aber die Bedeutung ist dieselbe und die darin versteckte Unmenschlichkeit ebenso. Sobald ich das Wort Humankapital höre, kommt mir dieses Wort Menschenmaterial in den Sinn.
Im gegenwärtigen "Welt-Theater" tritt "der Gegenwille als Krankheitssymptom" (Freud) in Erscheinung, nämlich das Selbstmord-Attentat. Da greift jemand zur Waffe, tötet viele, die er nicht kennt, und bringt sich dann selbst um. Das geleugnete Subjekt verhält sich nicht mehr als "Humankapital", sondern als ein Abgrund, in dem das Subjekt sein eignes Grab findet. Aber Selbstmord-Attentäter offenbaren zugleich eine nicht zu leugnende Wahrheit, die man jedoch nicht aussprechen will, nämlich dass jeder Mord Selbstmord ist. Diese Wahrheit ist die einzig wahre Reaktion auf die heutige Moderne, die man als Globalisierung bezeichnet.[22] Aber niemand spricht diese Wahrheit aus. Die Globalisierung selbst hat sich zu einem gigantischen Selbstmord-Attentat ausgebildet. Ganze Bevölkerungen und die Natur werden umgebracht. Am Ende müssen sich schließlich auch jene selbst umbringen, die diesen Prozess in Gang gesetzt haben und halten. Das ist heutzutage unser "Menetekel". Der Zusammenbruch des Nazi-Imperiums hatte bereits eine ähnliche Physiognomie. Seine drei Hauptagenten Hitler, Göbbels und Göring schickten die halbe Welt in den Tod, um sich schließlich auch selbst umzubringen[23]. Die vielen Selbstmordattentate führen uns fast tagtäglich das Weltprojekt vor Augen, das die Globalisierungsstrategie in sich birgt. Sie sind keine islamischen Sonderfälle. Sie machen vielmehr stets von neuem darauf aufmerksam, was wir auf der Welt wirklich mit dem in Gang befindlichen Globalisierungsprojekt anstellen, das vom Neoliberalismus inspiriert ist. Emile Cioran, einer der Lieblingsautoren der Globalisierungsstrategen, spricht unverblümt darüber, wenn er sagt:
"Da die Katastrophe die einzige Lösung ist, ist es gerechtfertigt, sich zu fragen, ob es nicht im Interesse der Menschheit ist, sich jetzt auszulöschen, anstatt sich mit Warten zu erschöpfen und zu erschlaffen, indem sie sich einer langwierigen Agonie aussetzt, in der sie jeden Ehrgeiz verlieren könnte, sogar denjenigen, zu verschwinden."[24]
Wenn man heute von "Populismus" redet, verwendet man den Terminus häufig als Vorwurf gegen jemanden. Insbesondere redet man vom "Populismus der Linken", sobald sie auf Menschenrechte pochen. Denn für die herrschende neoliberale Ideologie gibt es keine Menschenrechte. Wer sie beansprucht, beweist, dass er zu den "schlechten Menschen" gehört.
Bush erkannte in solchen Menschen gleich das "Antlitz des Bösen" (the evils face). Menschenrechte können nur dann legitim in Anspruch genommen werden, wenn es darum geht, einen weiteren Krieg des Westens, der sich für die "freie Welt" hält, zu legitimieren.
Der "Populismus" der Rechten spielt keine so wichtige Rolle, weil er Menschenrechte nicht beansprucht, sondern ablehnt. Deshalb ist er eher mit der Linie der herrschenden Ideologie vereinbar. Diese bereut nie die bereits geführten Kriege. Sie bereut nur die nicht geführten Kriege.
Bereits Hitler hatte den Dogmatismus des Neoliberalismus treffend resümiert:
"Bei uns ist der Jude gekommen. Er hat die bestialische Idee gebracht, dass das Leben seine Fortsetzung im Jenseits findet: Man kann das Leben im Diesseits ausrotten, weil es im Jenseits weiterblüht... Unter dem Motto Religion hat der Jude die Unduldsamkeit dahin gebracht, wo vorher nichts als Toleranz, wahre Religion war... Der gleiche Jude, der damals das Christentum in die antike Welt eingeschmuggelt und diese wunderbare Sache umgebracht hat, er hat nun wieder einen schwachen Punkt gefunden: das angeschlagene Gewissen unserer Mitwelt... Ein Friede kann nur kommen über eine natürliche Ordnung. Die Ordnung setzt voraus, dass die Nationen sich so ineinanderfügen, dass die Befähigten führen. Der Unterlegene erhält damit mehr, als er aus eigenem würde erreichen können. Durch das Judentum wird diese Ordnung zerstört. Der Bestie, der Niedertracht, der Dummheit verhilft es zum Sieg... Wir dürfen deshalb nicht sagen, dass der Bolschewismus schon überwunden ist. Je gründlicher aber die Juden herausgeworfen werden, desto rascher ist die Gefahr beseitigt. Der Jude ist ein Katalysator, an dem sich die Brennstoffe entzünden."[25]
Wenn es uns heute darum geht, das Projekt für das Leben auf der Grundlage der Verurteilung und Verhinderung des Brudermords zu retten, dann müssen wir uns zweifellos wieder in Karl Marx vertiefen. Unbestreitbar rückt Marx den Brudermord ins Zentrum seines Projektes, aber eben als einen Gründungsmythos, den es aufzugeben gilt. Bereits in einer seiner ersten Schriften kommt er darauf zu sprechen, und zwar in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Er publiziert sie in der Zeitschrift "Deutsch-französische Jahrbücher" von 1844. Darin behandelt er das Thema ganz klassisch. Er sagt:
"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[26]
Marx bezeichnet hier als kategorischen Imperativ eben genau das Gebot, den Mitmenschen (den Bruder/die Schwester) nicht umzubringen, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."
Diese Marxsche Formulierung hat ganz bedeutende Vorläufer im Laufe einer langen Geschichte der Konfrontation mit jeder Gesellschaftsformation, die auf dem Brudermord gründet. Zwei berühmte Beispiele will ich hier zitieren. Beide entstammen der jüdischen Tradition. Das erste Beispiel ist beim Propheten Jesaja aus dem 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zu finden:
"Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; /denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe / und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, /einen Tag der Vergeltung unseres Gottes, / damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, /ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, / Jubel statt der Verzweiflung."
(Jesaja 61,1-3)
Das zweite Beispiel entnehme ich dem Lukas-Evangelium. Lukas lässt hier Jesus den Jesaja-Text zitieren, aber verändert ihn ein wenig:
Der Geist des Herrn ruht auf mir; /denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
(Lukas 4,18-19)[27]
Diese prophetischen Text proklamieren dasselbe, was Marx im zweiten Teil seiner Formel zum Ausdruck bringt. Es geht in der Tat darum, den faktisch geschehenden Brudermord als Gründungsmord aufzudecken und aus dieser Enthüllung die notwendigen Konsequenzen für die Sicherung des Lebens zu ziehen. Eben das meint Marx, wenn er dazu auffordert: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."
Es gibt jedoch einen höchst bedeutungsvollen Unterschied, den Marx im ersten Teil seiner Formulierung zur Sprache bringt, wenn er die "Lehre" erwähnt, "dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei". Marx denkt hier daran, dass die Menschheit die Überzeugung teilt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, während die beiden Propheten-Zitate nicht die Menschheit als Subjekt vor Augen haben, sondern einen einzelnen Menschen, der von sich sagt: "Jahwe hat mich gesalbt". Möglicherweise ist hier der Messias gemeint.
Marx greift sehr viel später die Problematik vom "Brudermord als Gründungsmord", von dem aus sich die Gesellschaft begreift, wieder auf, und zwar an einer sehr bezeichnenden Stelle, nämlich am Schluss der von ihm selbst betreuten ersten Edition des "Kapitals" aus dem Jahre 1867. Zu dieser Zeit umfasst das Buch nur einen einzigen Band. Erst nach dem Tode von Marx fügt Friedrich Engels nicht veröffentlichte Manuskripte von Marx hinzu und erweitert dadurch "Das Kapital" auf drei Bände. Ich zitiere hier jetzt den Text, der sich am Ende seiner "Kritik der politischen Ökonomie" findet. Diese Edition umfasst 25 Kapitel, aber die Kapitel 24 und 25 stellen nur einen Anhang zur Geschichte des Kapitalismus dar, insbesondere zur sogenannten "ursprünglichen Akkumulation". Mit dem Kapitel 23 schließt Marx also seine Kritik der politischen Ökonomie eigentlich ab. Das Zitat, das mich hier interessiert, umfasst die letzten Sätze, mit denen Marx seine Hauptanalyse im Kapitel 23 beschließt. Es lässt sich also nicht übersehen, dass der Ort, an dem das Zitat zu finden ist, nämlich der Schlussabschnitt der theoretischen Analyse im wichtigsten Werk, das Marx noch persönlich editiert, eine höchst symbolische Bedeutung besitzt
Marx schreibt hier:
"Und gegenüber der alten Seekönigin erhebt sich drohend und drohender die junge Riesenrepublik: 'Acerba fata Romanos agunt, Scelusque fraternae necis'."
Marx selbst übersetzt das lateinische Horaz-Zitat nicht ins Deutsche. Spätere Fehlübersetzungen haben nur Verwirrung hervorgerufen. Die in der MEW gebotene Übersetzung ist: „Hartes Schicksal plagt die Römer und dass Verbrechen des Brudermords“. Richtig übersetzt müsste das Zitat lauten: "Bitteres Verhängnis treibt die Römer um: die Missetat des Brudermords". Die Übersetzung versteckt den Inhalt. Wenn wir aus dem Horaz-Gedicht zwei weitere Zeilen hinzufügen, die Marx nicht erwähnt, wird unsere Übersetzung bestätigt:
"ut inmerentis fluxit in terram Remi sacer nepotibus crúor".
"Und übers Haupt der Enkel kommt des Remus Blut, das schuldlos einst zur Erde floss."
Während Horaz im ersten Satz vom bitteren Verhängnis sprach, macht er hier im zweiten Satz einen Fluch für die Nachkommen daraus.
Marx greift diesen Gedanken von Horaz auf, um den Brudermord aufzudecken. Aber er denkt erheblich weiter, als Horaz wahrscheinlich im Sinne hatte. Horaz bezieht sich auf Romulus und Remus und verweist damit auf den römischen Bürgerkrieg, den er gerade erlebt. Horaz grenzt den Begriff des Bruders auf Volkszugehörigkeit ein, für ihn also auf das römische Volk. Damit wird der Mord an einem Römer zum Brudermord, während die Ermordung eines Galliers oder eines Germanen kein Brudermord ist. Demgegenüber entgrenzt Marx den Begriff des Bruders, weil er zweifellos alle Menschen als Brüder (und Schwestern) betrachtet, und deshalb jeden Mord als Brudermord denunziert. Diesen universalen Bruderbegriff unterstellt nun Marx auch dem Horaz. In unserer abendländischen Tradition beziehen wir uns beim Gedanken an den Brudermord eher auf den Mythos von Kain und Abel. Wir können also jetzt auch den Schluss daraus ziehen, dass Marx den Horaz-Text im Licht des Mythos von Kain und Abel deutet. Oder anders gesagt: im Licht des universalen Brudermords, der in unserer Tradition üblicherweise im Mythos von Kain und Abel dargestellt wird.
Marx spricht also vom Brudermord, verwendet jedoch den Text von Horaz, um den Brudermord zu deuten. Dieses wichtige Ergebnis gilt es festzuhalten. Es beweist, dass Marx die menschliche Gesellschaft anklagt, auf dem Brudermord als Gründungsmord aufgebaut zu sein. Darüber hinaus beweist die Einordnung dieser Anklage am Ende seines Hauptwerkes "Das Kapital", dass er sein ganzes Denken und Werk aus der Sicht der Anklage des Brudermords als Gründungsmord gedeutet wissen will. Also müssen auch wir das Werk im Licht der kulturellen Tradition des Judentums deuten. Diese Deutung steht im offenen Konflikt zu der Interpretation, mit der Freud die okzidentale Gesellschaft deutet, wenn er ihr den Vatermord als Gründungsmord unterstellt.
Freud verfehlt in seiner Analyse die Tradition des Judentums und deren Deutung vom Gründungsmord.
Marx bezieht sich nur indirekt auf Kain, und zwar weil er sich nicht, wie ich vermute, nur an eine bestimmte Tradition gebunden wissen möchte, und weil er auch Imperium bzw. Herrschaft mitbedenken möchte, die zwar ihrerseits auch den Brudermord beklagen, aber ihn zugleich begehen, indem sie jeden Brudermord verfolgen, um ihn zu beenden. Das spielt bereits vor Freud`s Zeiten eine Rolle[28] ) Auffällig jedoch ist, dass Herbert Marcuse diesen Zusammenhang nicht einmal erkennt, wenn er Psychoanalyse und Marxismus miteinander in Verbindung bringen will. Ebensowenig Erich Fromm, während Marx ihn klar zu erkennen scheint. Aber ebenso auffällig ist, dass Pinochet nach dem Militärputsch in Chile behauptete, dass alle Subversiven Vatermörder seien.
Interessant ist ferner, dass Marx im obigen Zitat "die alte Seekönigin" ( in der Antike Rom, zu Marx Lebzeiten England, für uns heute die USA) und die "junge Riesenrepublik" gegeneinander stellt. In der "jungen Riesenrepublik" erkennt er die von unten her organisierte Zivilgesellschaft, die sich aber nur dann als Republik konstituieren kann, wenn sie den Brudermord nicht als ihren Gründungsmythos übernimmt. Bis dahin handelt es sich um Emanzipationsbewegungen.
Auch die Unterdrücker müssen befreit werden. Das kann nur geschehen auf der Basis der Einsicht: Ich bin, wenn du bist! Den anderen Menschen ins eigene Leben einzubeziehen, stellt kein Opfer mehr da, sondern gehört zur Selbstverwirklichung. Ich bin zwar, was ich tue, aber ich bin immer auch beim anderen, und der andere in mir. Sein, was ich bin, bedeutet also nicht - wie Nietzsche meinte - sich auf sich selbst zu konzentrieren und in diesem Sinne mich selbst als Individuum mit meinem Willen zur Macht selbst zu verwirklichen. Ich selbst sein bedeutet vielmehr: ich bin, wenn du bist. Aber fast alle Unterdrücker glauben, nicht befreit werden zu müssen. Die Unterdrücker von ihrem Dasein als Unterdrücker befreien zu wollen, ruft heutzutage eher Hohngelächter hervor. Die Leute, die das hören, sterben eher vor Lachen. An diesem Lachen zu sterben, ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.
Aber man findet auch Ausnahmen, insbesondere unter Poeten und Schriftstellern. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland zum Beispiel Erich Kästner und wenig später Bert Brecht.
Die Befreiung der Unterdrücker selbst wird nur dann denkbar, wenn man lernt, die Welt im Licht der Kritik am Brudermord als Gründungsmord zu betrachten. Solange man den Vatermord als Gründungsmord ansieht, installiert man das Gesetz als absolute Größe, das der Handhabung durch ein Über-Ich zur Verfügung steht. Dann wird der Wettbewerb zur einzigen Regulierungsgröße; dieser wiederum bedeutet, dass sich die gesamte Gesellschaft dem Willen zur Macht unterwirft. Menschenrechte gelten nicht mehr, sie werden vielmehr durch die Rechte des Marktes ersetzt. Dahin verleitet das pure Gesetzesdenken. Selbstverwirklichung geschieht nach Nietzsches Devise: ich bin, wenn ich dich besiege. Der überzeugendste Beweis dafür, das ich frei bin, besteht darin, Sklaven zu haben. Im Zarathustra mahnt Nietzsche: Wenn du zur Frau gehst, vergiss die Peitsche nicht. Das heißt, ich beweise meine Männlichkeit dadurch, dass ich die Frau mit der Peitsche gefügig mache. Solange es uns nicht gelingt, gegen solche Unterdrückung die Befreiung der Unterdrücker in Gang zu bringen, bleibt alle Befreiung der Unterdrückten provisorisch. Das haben die USA mit der Aufhebung der Sklaverei bewiesen. Die Folge war die "Rassentrennung", eine Apartheid, die bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts währte und einen Rassismus hervorrief, der sich bis heute übermächtig auswirkt. Die Sklavenhalter haben sich eben nicht befreit, so dass die Aufhebung der Sklaverei nach mehr als einem Jahrhundert immer noch nicht vollendet ist. Die Neoliberalen von heute akzeptieren nicht einmal die Aufhebung der Sklaverei; sie behaupten vielmehr die sei illegitim, weil sie nur durch einen Eingriff des Staates in die Freiheit des Marktes durchgesetzt wurde. Auch bei den neoliberalen Gurus Milton Friedman und Friedrich A. Hayek sind solche Reserven anzutreffen.
Haiti scheint ein paradigmatischer Fall zu sein. Auch hier war die Befreiung der Sklaven nicht verbunden mit einer Befreiung der Sklavenhalter. Sie blieben Sklavenhalter, allerdings ohne Sklaven. Wo sie konnten, ruinierten sie die Haitianer und töteten auf grausame Weise den großen haitianischen Sklavenbefreier Toussaint Louverture. Sie verlangten hohe Abfindungen für die Sklaven-"Enteignung" - eine Enteignung von Privatkapital - und setzten sie durch, indem sie mit einer totalen Blockade, die tödliche Folgen haben würde, drohten. So arrangierten sie, dass es Haiti mit seiner Sklavenbefreiung schlechter ging als ohne. Es wäre ihnen niemals eingefallen, dass die Haitianer für die Versklavung vieler Generationen zumindest eine ganz hohe Abfindung hätten verlangen können.
Als vor einigen Jahren ein starkes Erdbeben in Haiti viele Menschenleben forderte, behaupteten Fundamentalisten aus den USA, die sich Christen zu nennen anmaßten, öffentlich, ohne öffentlichen Widerspruch hervorzurufen, dass das Erdbeben Gottes Strafe sei für die Sklavenbefreiung zu Zeiten der Französischen Revolution, also zweihundert Jahre zuvor. Ein solches Denken ist in der Oberklasse der sog. Modelldemokratien weit verbreitet.
Ähnliches geschieht mit der Frauen-Befreiung. Auch in ihr gibt es häufig keine Befreiung der Unterdrücker, also der Männer. Hier und da mag es geschehen sein. Aber bemerkenswert bleibt, dass viele Männer eigentlich die vorherige Situation zurückersehnen und dann, weil es ihnen nicht gelingt, zur Gewalt greifen. Seit vor allem mit der Rebellion von 1968 die Frauen-Befreiung große Erfolge erzielen konnte, haben die Fälle innerfamiliärer Gewalt, die zumeist von Männern ausgeht, erheblich zugenommen. Die Männer werden sogar zu Selbstmordattentätern, sie töten die Frau, oftmals auch die eigenen Kinder und bringen sich dann schließlich selber um.
Der Neoliberalismus ist ebenfalls eine Bewegung dieses Typs. Die Wirtschaft nach dem II. Weltkrieg vor allem in Westeuropa war davon geprägt, dass systematisch in die Märkte eingegriffen wurde. Deshalb war sie sehr erfolgreich. Bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein ließ sich die Politik der wirtschaftlichen Entwicklung weltweit von dieser Art des Wirtschaftens inspirieren. Die herrschenden Klassen dieser Länder verloren weitgehend ihre zuvor geübte willkürlich agierende Macht. Diesen Verlust akzeptierten sie, weil sie es für notwendig hielten, den Kalten Krieg mit der Sowjetunion zu gewinnen. Aber auch sie haben sich niemals selbst befreit - ebenso wenig wie die Unterdrücker. Nachdem sie spürten, sie würden den Kalten Krieg gewinnen, forderten sie die vorherige Willkürmacht wieder zurück. Seit dem Amtsantritt der Reagan-Regierung in den achtziger Jahren konzentrierten sie sich in ihrem Klassenkampf von oben darauf, den Sozialstaat wieder abzubauen, den sie zuvor mitgeholfen hatten zu errichten. Der Neoliberalismus wurde als Ideologie zur Rückkehr eines ungebändigten Kapitalismus durchgesetzt. Damit haben wir es bis heute zu tun. Die Unterdrücker hatten sich nicht befreit, sondern human gehandelt, um einen inhumanen Krieg (den Kalten Krieg) zu gewinnen. Nach dem Sieg beseitigten sie soweit wie möglich alles, was man zuvor in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgebaut hatte. Der Unterdrücker machte den Verlust seiner Willkürmacht wieder wett. Die dazu passende Strategie bezeichnete man als Globalisierung. Ihre fatalen Folgen lassen sich insbesondere im Mittleren Osten und in Afrika beobachten, aber auch an den Flüchtlingsbewegungen überall in der Welt. Was jedoch auch immer geschieht, man verfolgt diese Strategie, selbst wenn sie sich immer deutlicher als selbstmörderische Strategie und eben deshalb zugleich als mörderische erweist. Welt und Menschheit treiben sich in ein Selbstmord-Attentat, das diese Globalisierung in Wahrheit ausmacht.
Ähnliche Vorgänge lassen sich an der Kolonialpolitik verfolgen. Diese Politik hätte die Unabhängigkeitsbewegungen der meisten Kolonien akzeptieren müssen. Aber kaum waren die ehemaligen Kolonien politisch unabhängig geworden, wurden sie einem Regime quasi-kolonialer Beziehungen unterworfen, die einer ungebrochen geltenden Kolonialkultur entstammten. Diese Erfahrung führte zur systematischen Analyse kolonialer Strukturen in der Kultur selbst und zur Erforschung der Bedingungen zur Rückgewinnung der jeweils regionalen Kulturen, im Wissen darum, dass sie sich stets nur innerhalb einer multinationalen, pluralen Kultur entwickeln können.
Auf ein weiteres Beispiel ähnlicher Entwicklungen stößt man auf dem Gebiet der sogenannten Umweltpolitik; oder besser: jener politischen Maßnahmen, die der ungeheuren Naturzerstörung westlicher Kultur wehren sollen. Aber auch hier gilt, dass alles Bemühen um Respektierung der Menschenrechte zur Sicherung einer lebensfördernden Menschenwelt, ständig von der Weigerung der Unterdrücker bedroht wird, sich selbst in eine solche Gesellschaft des Respekts vor Menschenrechten zu integrieren. Nur sehr selten können Unterdrücker sich selbst befreien. Ständig verfallen sie wieder dem Klassenkampf von oben, um der Bedrohung bzw. dem Verlust ihrer Willkürmacht zuvorzukommen.
An all diesen Beispielen wird unmittelbar einsichtig, wie notwendig es ist, von der Kritik am Brudermord als Gründungsmord auszugehen. Aber dafür kann man sich auf kein Gesetz berufen. Der Grund-Satz: Ich bin, wenn du bist, ist kein Gesetz, sondern eine Regel, die dazu verhelfen soll, eine blinde Gesetzeserfüllung mit ihren verheerenden Wirkungen zu verhindern. Sie reguliert den Markt wie das Flussbett den Fluss. Auch diese Regel muss sich in Gesetzen niederschlagen, aber man darf auch dann nicht auf die blinde Befolgung solcher Gesetze vertrauen. In einem bestimmten Augenblick verliert jedes Gesetz seine Gültigkeit, und zwar immer dann, wenn es das Leben irgendeines menschlichen Subjekts oder der den Menschen umgebenden Natur bedroht.
Solcher Bedrohung muss man entgegentreten, auch wenn man ihr nicht mit einem Gesetz entgegen treten kann. Bert Brecht macht in dem anfangs erwähnten Zitat darauf aufmerksam, dass man intervenieren muss, sobald irgendeine Tat das Leben eines Mitmenschen bedroht, und zugleich darauf achten soll, wer am sinnvollsten mit welchen Mitteln zu intervenieren hat. Aber eben ein solcher Moment lässt sich nicht durch ein Gesetz bestimmen, sondern nur durch die Einsicht, die der Grund-Satz formuliert: Ich bin, wenn du bist.
Jene Unterdrücker, die sich von ihrem Unterdrückersein nicht befreien können, berufen sich fast immer auf Nietzsche, um sich selbst zu rechtfertigen. In Nietzsche finden sie den Denker für eine Welt ohne Menschenrechte, die Nietzsche und sie als freie Welt bezeichnen. Mit Nietzsche proklamieren sie:
"Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher als irgendein Laster? – Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen – das Christentum…" [29]
Und zusammen mit Nietzsche feiern sie diese Brutalität als ihre Erlösung, Befreiung und Emanzipation:
Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung,..., (der) die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluch, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte,... - er muß einst kommen..."[30]
Irgendwann muss er doch kommen - der Erlöser, der uns von aller Erlösung erlöst, der Befreier, der uns von allen Befreiungen befreit, die Emanzipation, die uns von allen Emanzipationen emanzipiert, die man sich ausdenken kann. Eine solch vermaledeite Nietzscheanische Dialektik betreiben die Unterdrücker.
Diese Brutalität droht uns heute von Seiten der Neoliberalen, ebenso wie gestern von Seiten der Faschisten. Ludwig von Mises, der Begründer des Neoliberalismus, verwendet dafür nicht den leidenschaftlichen Ton Nietzsches, sondern das Bürokratendeutsch, das die Neoliberalen bevorzugen, wenn er sagt:
"Man geht immer von einem fundamentalen Irrtum aus, der weit verbreitet ist. Es ist der Irrtum, dem gemäß die Natur dem Menschen unverzichtbare Rechte gegeben hat aus dem bloßen Grunde, weil er geboren wurde… Jedes Wort dieser Doktrin ist falsch”[31]
Das bezeichnete Nietzsche als die Erlösung vom "bisherigen Ideal". Eindeutiger lassen sich die Menschenrechte nicht bestreiten. Ohne die Aussage von Mises zu akzeptieren, kann man kein Neoliberaler sein. Für Neoliberale gelten keine Menschenrechte, sondern nahezu ausschließlich Marktrechte, deren Geltung abhängig ist von den Erfolgen auf dem Markt. Daher muss man den Neoliberalismus einerseits als unmittelbaren Nachkommen des Faschismus in der Gestalt des deutschen Nationalsozialismus bezeichnen und andererseits als Nachkommen der Philosophie Nietzsche`s.
[1] Bolz, Norbert/ Bosshart, David: Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes. Econ. Düsseldorf, 1995. p. 248
[2] Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kap 36
[3] Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Fischer. Frankfurt am Main, 1975 S. 133.
[4] Ebda. S. 133
[5] Ebda. S. 133
[6] Freud, Sigmund Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, S. 1
[7] Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Fischer. Frankfurt am Main, 1975 S. 133
[8] Hinkelammert Franz, Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens. Opfermythen im christlichen Abendland. Münster 1989
[9] Die Zahl 3000 scheint eine magische Zahl zu sein. Man findet sie auch in der Geschichte des Simson. Bei einem rauschenden Fest brachte er den Palast der Philister zum Einsturz und tötete dabei mit Gottes Hilfe 3000 Philister (Richter 16, 27) und sich selbst. Simson begeht einen Mord-Selbstmord. Am 11. September 2001 kamen beim Einsturz der Türme ebenfalls 3000 Menschen um. Auch hier handelt es sich um einen Mord-Selbstmord. Befremdliche Zufälle.
[10] Bertolt Brecht: Buch der Wendungen (S. 14 des Textes!)
[11] Im Text ist wörtlich von "Sünde" die Rede statt vom Verbrechen. Aber unser heutiges Verständnis von Sünde unterscheidet sich erheblich vom Sündenverständnis zu Zeiten von Paulus. Aber in den Texten von Paulus erhält die Sünde die Bedeutung des Verbrechens. Das heutige Sündenverständnis lässt sich charakterisieren durch das, was ein junger Mann zu seiner Freundin sagen würde: "Können wir heute nicht ein bisschen sündigen?"
[12] In der Iphigenie von Aulis von Euripides sagt Iphigenie: „Den Hellenen sei der Barbar untertan, doch, Mutter, nie Fröne Hellas’ Volk den Barbaren; Sklaven sind sie, Freie wir!“ Tatsächlich ist dies auch heute noch die Haltung unserer Gesellschaft. Daher wird die Arbeit an der Entkolonisierung des Denkens so wichtig.
[13] Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Fischer. Frankfurt am Main, 1975 S. 133 (Wiederholung von Fussnote 2)
[14] NOTIFIKATION der Kongregation für die Glaubenslehre zu den Werken von P. Jon SOBRINO S.J.: Jesucristo liberador. Lectura histórico-teológica de Jesús de Nazaret (Madrid, 1991) e La fe en Jesucristo. Ensayo desde las víctimas (San Salvador, 1999), vom 26. Nov. 2006. Abschn. V.,8. http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20061126_notification-sobrino_ge.html, Zugriff am 19.12.2016
[15] Hayek, Friedrich August von: Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus. Mohr-Siebeck, Tübingen 1988. Hervorhebungen von mir. Der deutsche Text ist eine Übersetzung des folgenden englischen Originals:
There is no ready English or even German word that precisely characterises an extended order, or how its way of functioning contrasts with the rationalists' requirements. The only appropriate word, `transcendent', has been so misused that I hesitate to use it. In its literal meaning, however, it does concern that which far surpasses the reach of our understanding, wishes and purposes, and our sense perceptions, and that which incorporates and generates knowledge which no individual brain, or any single organisation, could possess or invent. This is conspicuously so in its religious meaning, as we see for example in the Lord's Prayer, where it is asked that 'Thy will [i.e., not mine] be done in earth as it is in heaven'; or in the Gospel, where it is declared: 'Ye have not chosen me but I have chosen you, that ye should go and bring forth fruit, and that your fruit should remain' (St. John, 15:26). But a more purely transcendent ordering, which also happens to be a purely naturalistic ordering (not derived from any supernatural power), as for example in evolution, abandons the animism still present in religion: the idea that a single brain or will (as for example, that of an omniscient God) could control and order. Hayek, Friedrich A.: The fatal conceit: The Error of Socialism. The collected Works of Friedrich August Hayek, Volume I Chicago University Press, 1988 S
[16] Hinkelammert, Franz-J.: Der Fluch, der auf dem Gesetz lastet - Paulus von Tarsus und das kritische Denken. Luzern 2011, S. 74/75
[17] a.a.O., S. 297
[18] Paulus sagt: "[Wir] warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne [und Töchter Gottes] offenbar werden".
[19] vgl. Wagenknecht, Sahra: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Campus Verlag. Frankfurt a/M 2016. Ebenfalls Duchrow, Ulrich / Hinkelammert, Franz: Transcending Greedy Money: Interreligious Solidarity For Just Relations. Palgrave Macmillan. New York, 2012
[20] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/goldman-sachs-chef-blankfein-ich-bin-ein-banker-der-gottes-werk-verrichtet-1886316.html
[21] Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus. 6. durchges. Aufl. J.C.B.Mohr, Tübingen 1987, S. VIII
[22] Hinkelammert, Franz: El sujeto, el anti-sujeto y el retorno del sujeto (interculturalidad y fundamentalismo). En: Hinkelammert, Franz: El asalto al poder mundial y la violencia sagrada del imperio. DEI. San José, 2003
[23] Goebbels hatte das bereits zuvor angekündigt: „Wenn wir von dieser Weltbühne abtreten müssen, werden wir die Tür zuschlagen, dass der Erdkreis erzittert“. Diesen Satz könnten wir auch als Überschrift über die Globalisierungsstrategie schreiben.
[24] ."Die elegische Viper. Zum Tode des großen Apokalyptikers Emile M. Cioran." Thomas Assheuer in FR, 21.6.95, vgl. auch: "Man kann gewiss sein, dass das 21. Jahrhundert, das weit fortgeschrittener sein wird als das unsere, in Hitler und Stalin harmlose Sängerknaben sehen wird." in: Cioran, "Die Verfehlte Schöpfung". 1979 suhrkamp tb 550.
[25] Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche. Ullstein. Berlin, 1989. S.106/107
[26] MEW, I, S.385
[27] Für den apokalyptischen Fundamentalismus ist - wie wir bereits bedachten - diese messianische Proklamation der reine Antichrist. Damit wird Jesus selbst zum Antichristen, zum Luzifer. Carl Schmitt identifiziert den von Paulus in 2. Thess erwähnten "Katechon" - d.h. jene Macht, die das Kommen des Antichristen verzögert - mit dem Imperium. Hier bekämpft die Anti-Utopie erneut den Anti-Christ. Aus der Perspektive der Anti-Utopie wird alles ins Gegenteil verkehrt. Für Paulus selbst jedoch ist der "Katechon" eben die messianische Proklamation. Sie eint die ganze Welt von innen her und bekämpft auf solche Weise den Antichrist. Der "Katechon" ist für Paulus in den ersten Kapiteln des ersten Korintherbriefes auch "die Weisheit Gottes", die mit der Weisheit der Welt im Konflikt steht. In diesen Kapiteln erarbeitet Paulus ein Spiel der Verrücktheiten: Die Weisheit Gottes gilt der aus der Sicht der Weisheit dieser Welt als Verrücktheit, während die Weisheit dieser Welt aus der Sicht der Weisheit Gottes als Verrücktheit betrachtet wird. Die Weisheit Gottes ist Gottes Verrücktheit.
[28] Zum Beispiel im Drama von Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Da geht es um die Problematik von Vatermord und Sohnesmord.
[29] Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, Nr.2. Herausgegeben von Karl Schlechta II, S.1165/1166
[30] Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung. Nr. 24, a.a.O. S. 836/837
[31] “The worst of all these delusions is the idea that "nature" has bestowed upon every man certain rights. According to this doctrine nature is openhanded toward every child born…. Every word of this doctrine is false.”
Mises, Ludwig von: The anti-capitalistic mentality. The Ludwig von Mises Institute. Auborn, Alabama, 2008. (1956) p.80/81
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