Franz Hinkelammert und Martin Hoffmann
Interview von Martin Hoffmann mit Franz Hinkelammert. (März 2020)
Martin Hoffmann. Frage 1. Franz, du bist seit Jahrzehnten bekannt als scharfer Kritiker des kapitalistischen Wirtschaftssystems, besonders in seiner neoliberalen Gestalt. Du hast in vielen Veröffentlichungen immer wieder auf die
Gefahren gerade für den lateinamerikanischen Kontinent hingewiesen.
Kannst du uns kurz die wesentlichen Folgen dieses Systems beschreiben?
Franz Hinkelammert. Ich möchte gern von einer bestimmten politischen Situation ausgehen, in der das Problem, das du andeutest, tatsächlich im Mittelpunkt der sich ergebenden Konflikte stand. Es handelt sich um die Präsidentenwahl in Chile im Jahre 1970, in der sich drei politische Kräfte gegenwärtig machen. Es handelt sich um den Block der konservativen Parteien, die Christdemokraten und die Unidad Popular (UP), deren Kandidat Allende war..
Nach den Wahlen, in denen die Unidad Popular mit dem Kandidaten Allende am meisten Stimmen gewann, aber kein einziger Kandidat die Mehrheit aller Stimmen hatte, überzeugte Tomic die Christdemokraten, für Allende als neuem Präsidenten zu stimmen. Die Konstitution erlaubte dies, denn sie sah vor, dass in einem solchen Fall die Parteien der Kandidaten entscheiden konnten, welcher Kandidat Präsident sein soll. Im Normalfall wurde daher immer für den Kandidaten als Präsident gestimmt, der am meisten Stimmen hatte. Tomic hatte klar, dass das Projekt Allendes mit den Grundkonzepten der Christdemokraten vereinbar war und eher in Bezug auf das christdemokratische Projekt eine Weiterführung und Vertiefung darstellte. Folglich stimmten die Christdemokraten für Allende als Präsidenten, womit sie der Meinung von Tomic folgten.
Das Projekt, um das es sich handelte, war das einer Wirtschaft und Gesellschaft, das eine systematische Intervention in den Markt verfolgt. Es war das Projekt einer neuen Gesellschaft, das sich in den 40er bis 70er Jahren in Westeuropa durchgesetzt hatte und weitgehend auch von der Regierung der USA unterstützt wurde. Noch der Präsident Carter von 1977-1981 stand auf der Seite eines solchen Projekts.
Mit dem chilenischen Sozialismus als systematische Intervention in den Markt war eine Neudefinition des Kapitalismus von seiten der Kapitalisten in den USA und auch in Europa notwendig, wenn sie weiterhin ihre Legitimität durch den Antisozialismus sichern wollten. Sie hatten das Friedensprojekt der Nachkriegszeit von den 40er bis 70er Jahren akzeptiert, da es für sie das wohl einzige Projekt war, durch das sie sich gegenüber der zunehmenden Stärke der Sowjetunion definieren konnten und das sie dazu befähigen konnte, den jetzt von Seiten des Westens aufgezwungenen kalten Krieg zu gewinnen. Es war zwar ein Friedensprojekt, aber es wurde als Kriegswaffe in diesem kalten Krieg durchgesetzt. Aber es ergab sich , dass dieser kalte Krieg in den 70er Jahren bereits gewonnen war, sodass dieses Friedensprojekt überflüssig schien und sogar als gefährlich angesehen werden konnte. Dir Politik der systematischen Interventionen in den Markt hatte als Ergebnis eine neue Form der Kontrolle des Kapitals, wie sie gerade mit den demokratischen Strukturen der westlichen Gesellschaft vereinbar war und sich daher als das Ergebnis dieser gesamten Nachkriegspolitik ergab. Der Kapitalismus musste sich jetzt gegen diese demokratische Kontrolle wehren, wenn er als totaler Kapitalismus weiterhin existieren wollte. So wurde das bisher vom Kapitalismus geförderte Projekt einer neuen Gesellschaft zur Gefahr für den Kapitalismus und der Kapitalismus musste sich jetzt gegen die Demokratie durchsetzen. ¡Kapitalismus ja, Demokratie nein!
Vorher, im kalten Krieg, musste man ein humanes Gesicht des Kapitalismus zeigen. Als es offenbar wurde, dass man den kalten Krieg gewonnen hatte (in den 70er Jahren) wurde dieses humane Gesicht dann wieder abgeschafft. Es kam nun der Kapitalismus des totalen Marktes, der unter der Flagge des Neoliberalismus die Politik seit Reagans bestimmt.
Genau dazu bot sich der Neoliberalismus von Hayek (und von Ludwig von Mises) an. Er hatte zwar schon eine durchaus bedeutende Struktur, hatte aber nur wenig Echo innerhalb der bürgerlichen Gesellschaften. Die neue Regierung von Allende in Chile bot die Gelegenheit, jetzt einen totalen Kapitalismus an die Stelle des reformistischen Kapitalismus der Nachkriegszeit zu setzen.. Der Hauptgegner war damit nicht mehr der angebliche Kommunismus der Sowjetunion, sondern alle, die weiterhin die systematische Intervention des Marktes als wesentliches Elemente der Politik einschliesslich der Wirtschaftspolitik sahen. Der Markt wurde jetzt zum höchsten Wesen alles menschlichen Lebens erklärt und die Menschenrechte wurden damit weitgehend abgeschaftt. Dies war die jetzige Form, den totalen Klassenkampf von oben zu erklären.
Von Mises, der Gründer des Neoliberalismus, drückte diese sehr klar aus. So sagte er zum Beispiel:
"Die schlimmste aller Formen von Irrglauben ist die Idee, dass die „Natur“ jeden Menschen mit gewissen Rechten ausgestattet hat. Nach dieser Lehre teilt die
Natur freigebig an jedes geborene Kind Rechte aus… Jedes Wort dieser Lehre ist falsch."[1]
Daraus folgt natürlich, dass der Mensch, der nicht genug Geld verdient, um davon leben zu können, auch nicht das Recht zu leben hat. Er begeht Raub, wenn er von dem leben will, was andere für sich selbst verdient haben.
Hayek fügt hinzu:
"De todas maneras quiero aclarar que las depresiones no son el resultado de la operación de las fuerzas del mercado. Son el resultado de la aplicación de controles por parte del gobierno, particularmente en el campo de la moneda."[2]
Oder auch wie es Hayek bei einem Besuch in Santiago de Chile sagte:
“Al igual de los ancestros que habitaban cavernas, el hombre contemporáneo debe aceptar el control demográfico tradicional: hambrunas, pestes, mortalidad infantil, etcétera.”[3]
Er fasst dann alles dies durch folgenden theologischen Verweis auf den Markt und seine Stimme zusammen:
„In seinem religiösen Aspekt, wird diese unsere Interpretation wiedergespiegelt durch jenes Wort aus dem Vaterunser, das sagt: “Dein Wille geschehe (und nicht der Meinige) wie im Himmel also auch auf Erden”, und ebenfalls in dem Zitat aus dem Evangelium: “Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe…“ (Joh 15,16)[4]
Es kann kein Zweifel sein, dass es sich hier nicht um irgendeine Wirtschaftstheorie handelt, sondern um ein idolatrisches Erlösungsdenken, das die ganze Weltgeschichte zu erfassen. Tatsächlich handelt es sich um ein Denken, das mit Nietzsche beginnt und zum Aufstand des Menschen gegen die menschliche Gleichheit aufruft. Zum ersten Male wurde dieser Aufruf laut im Faschismus der 20er bis 40er Jahre des vergangenen Jahrhundert. Heute findet er wiederum Gehör und jetzt als Ideologie des totalen Marktes. Der Faschismus war ein staatlicher Totalitarismus. Dieser neue Totalitarismus hingegen ist ein Totalitarismus des Marktes, der natürlich den Staat einschliesst, aber nicht von ihm abhängt. Er hängt direkt von den Marktkräften ab und wird von ihnen aus geleitet.
Dies geht zusammen mit dem weitgehenden Ende des internationalen Rechts, das durch die Verhängung von Sanktionen ersetzt wird, die insbesondere von den USA und den angeblichen Musterdemokratien Europas entschieden werden. Insbesondere gelten damit keine Menschenrechte mehr. Es entstehen Situationen, die eher einem Belagerungszustand ähneln. Die Musterdemokratien haben jetzt das Recht, ganze Bevölkerungen durch Sanktionen dem Hunger preiszugeben. Ebenfalls entstehen gigantische Lager für Gefangene, denn die Flüchtlinge, die jetzt in diesen Lagern leben und häufig keinen anderen Ausweg mehr heben, leben häufig wie in den Konzentrationslägern des vorherigen, staatlichen Totalitarismus. Jedenfalls kann man dies häufig in den westlichen Kommunikationsmitteln lesen.
MH Frage 2. In den letzten Jahren ist ein deutlicher Rechts-Ruck in den
Regierungen etlicher Länder Lateinamerikas zu beobachten. Regierungen,
die sich deutlich an die Wirtschaftsinteressen der USA angepasst haben,
z.B. in Brasilien, Argentinien, Chile, Ecuador, Peru und neuerdings in
Bolivien. Wir wirkt sich diese Politik auf die sozialen Verhältnisse aus?
FJH. Dieser Rechts-Ruck ist offensichtlich. Ich würde ganz gern 3 Fälle der letzten Jahre kurz kommentieren.
a. Der Fall Venezuela. Es handelt sich um einen typischen Fall der Erpressung eines Landes mit Hilfe der US-Politik der Sanktionen. Diese Sanktionen begannen nach dem Tod von Hugo Chavez (der im Jahre 2013 stirbt) Sie richten sich vor allem gegen den Verkauf von Erdöl, das das wichtigste Exportprodukt des Landes ist (mehr als 80% der Exporte). Diese Sanktionen werden intensiviert vom Jahre 2014 an und verbieten weitgehend den internationalen Verkauf von Erdöl. Sie führen zum Ruin des ganzen Landes, zu Millionen von Flüchtlingen in andere Länder Lateinamerikas. Der durch die Sanktionen produzierte Hunger und die weitgehende Zerstörung des Gesundheitssystems ergab eine grosse Zahl von Toten. Jeffrey Sachs von der Columbia Universtität in New York spricht von den Sanktionen gegen Venezuela als einer kollektiven Bestrafung. Er schätzt die Zahl der Menschenopfer auf etwa 40.000 Menschen jährlich in 2017 und 2018 und vermutete, dass ihre Zahl ab 2019 noch zu steigen drohe[5].
Das Ziel dieser Politik der Regierung der USA war keineswegs, irgendeinen Sozialismus zu vermeiden.
Das, was Hugo Chavez den Sozialismus des 21. Jahrhunderts nannte, war einfach, aus Venezuela ein Land zu machen, das eine Politik der sozialen Sicherheit und einer allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung verwirklicht. Was die USA suchen, ist hingegen die Durchsetzung ihres eigenen Markt als totalem, neoliberalem Markt.
Es war das, was wir vorher den Klassenkampf von oben nannten, der jetzt gegen die Bevölkerung von Venezuela gerichtet wurde.
b. Der Fall Brasiliens.
Die Wahl von 2018 war sehr klar eine gefälschter Wahl. Der wichtigste Kandidat war der ehemalige Präsident Lula, der das Opfer einer organisierten Verleumdung wurde, die von führenden Kräften des staatlichen Justizsystems durchgesetzt wurde. Er wurde zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt und konnte daher sich nicht zur Wahl stellen. Dies sicherte dem jetzigen Präsidenten Bolsonaro seinen Wahlsieg. Der Organisator dieser Wahlfälschung, war jetzige Justizminister Sergio Moro.
Dies machte es dann möglich, den von Lula durchgesetzten Sozialstaat wieder weitgehend zu zerstören und dem Grossskapital eine ausserordentlich vergrösserte Ausbeutung des Amazonas-Gebietes ermöglichte, das in eine ausserordentliche Zerstörung der dortigen Urwälder einmündete.
Nach diesem Wahlsieg setzte man Lula dann wieder frei.
Wieder ist es der Klassenkampf von oben, der eine Wahl zu gewinnen erlaubte, die tatsächlich überhaupt nicht demokratisch war.
c. Der Fall Bolivien
In Bolivien hatte die Machtübernahme ein zusätzliches Element. Dieses war dir Rückkehr eines jahrhundertealten Rassismus, der sich von der Eroberung Amerikas und daher auch Boliviens vor etwa 500 Jahren herleitet und der jetzt wieder aktiviert wurde. Der abgesetzte Präsident stammt aus der andinischen Kultur, aus der übrigens auch die Mehrheit der Bevölkerung Boliviens abstammt. Er ist der erste Präsident Boliviens, der aus dieser Tradition abstammt. Gegen ihn und seine Anhänger wurde jetzt der Rassismus der Eroberer aktiviert. Damit aberwurde der Wille verbunden, Bolivien aufs neue zu erobern. Ich fand folgenden sehr vielsagenden Text hierüber:
"Evangelikale Faschisten und das Bolsonaro-Regime
Am Dienstag, dem 12. November, erklärt die zweite stellvertretende Vorsitzende des bolivianischen Senats, evangelikale Aktivistin und der konservativen Opposition zugehörige Jeanine Añez sich zur neuen Präsidentin Boliviens. Einer ihrer ersten Sätze ist „Die Kirchen begleiten uns auch […] Die Bibel kehrt zur Regierung zurück. Die Bibel kehrt zum Palast zurück“, und bestätigt damit die Machtübernahme in Bolivien durch die klerikal-faschistische Bewegung Luis Fernando Camachos.
Camacho, so viel ist mittlerweile bekannt, erhielt seine Instruktionen von Außenminister Ernesto Araújo und Justizminister Sergio Moro des Bolsonaro-Regimes, mit denen er im August 2019 in Brasilien zusammentraf..."[6]
Hier handelt es sich aufs Neue um eine Erklärung eines Klassenkampfes von oben.
Was ist die Antwort darauf?
Als Antwort reicht es nicht, jetzt einfach mit einem Klassenkampf von unten zu antworten. Wir müssen gleichzeitig zeigen, welche Dimension ein solcher Klassenkampf eigentlich haben muss.
MH. Frage 3. Wie schätzt du die Entwicklungspolitik von europäischen Staaten,
besonders von Deutschland, ein?
FJH. Tatsächlich hörte die Entwicklungspolitik auf und wurde durch eine Wachstumspolitik ersetzt. Das zentrale Datum für diese Veränderung ist ebenfalls die Zeit der 70er Jahre, in der nicht nur die Entwicklungspolitik durch eine reine Wachstumsorientierung ersetzt wurde, sondern überhaupt der Kapitalismus einen anderen Charakter bekam. Wir hatten gesehen, dass er in den Jahren seit den 40er Jahren bis in die 70er Jahre hinein als ein sozialer Kapitalismus entwickelt wurde, der seiner Politik des kalten Krieges ein menschlichen Antlitz geben wollte und daher auf ganz neue Weise den Sozialstaat entwickelte. Dies ist auch die Zeit, in der eine Entwicklungspolitik gefördert wurde, die parallel lief zu den Wiederaufbauplänen in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Der Begriff Entwicklung war nicht einfach ein wirtschaftlicher Begriff, sondern bezog sich auf den Charakter der zu entwickelnden Gesellschaft und selbst ihres kulturellen Hintergrundes.
In Lateinamerika wurde die Entwicklungspolitik insbesondere in einer Niederlassung der UNO diskutiert. die sich CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe) nennt und die ihren Sitz in Santiago de Chile hat. In der Nachkriegszeit gruppierte sich eine sehr breite Öffentlichkeit um diese Niederlassung und sehr viele verschiedene auch politische Orientierungen waren gegenwärtig. In diesen Diskussionen wurde nicht nur über die Entwicklungspolitik im weitesten Sinne gesprochen, sondern ganz ebenso über die jetzt nötigen Vorstellungen über eine alternative Gesellschaft und Ökonomie. Gleichzeitig entwickelte sich eine durchaus neue Kultur. Es gab eine Reihe von Kunstrichtungen, die sich gegenwärtig machte, insbesondere eine reichhaltige Entwicklung der Romanliteratur und der Volksmusik. Gleichzeitig bildeten sich neue religiöse Richtungen innerhalb der verschiedenen Kirchen, die sich dann als Befreiungstheologie gegenwärtig machten. Auch diese Befreiungstheologie war Teil dieser neuen Kultur, sodass sich in vielen Ländern solidarische Gruppen bildeten, die den Namen "Christen für den Sozialismus" übernahmen. Wenn man dies alles bedenkt, versteht man, was eigentlich in dieser Zeit Entwicklung und Entwicklungspolitik bedeutete. Das Ganze wiederum muss man wieder im Zusammenhang mir mit der Studentenrebellion sehen, die weltweit stattfand und eine weitgehend neue Sicht dessen entwickelte, was man als Konsumkultur bezeichnen kann. Aber es ging tatsächlich um eine Konsumkultur, nicht um einen Konsumismus als Konsumzwang. Ein Autor wie Marcuse legt hiervon das Zeugnis ab.
Man sieht dann, dass die Neuformulierung des Sozialismus, die durch die Unidad Popular unter dem Präsidenten Allende stattfand, wirklich Teil einer Art weltweiter Revolution war und daher auch gleichzeitig einen neuen Humanismus der Praxis und damit einen neuen Begriff von Sozialismus hervorbrachte.
Hiergegen stand jetzt die Forderung, aufs Neue den wieder völlig brutal gewordenen Kapitalismus gegen diese Möglichkeit einer neuen Welt und einer neuen Erde zu mobilisieren. Dies begann mit einer Lateinamerikareise des US-amerikanischen Vizepräsidenten Rockefeller unter dem Präsidenten Nixon im Jahre 1969. Er sollte eine Gegenstrategie entwickeln, die den nackten Kapitalismus retten könnte. Er kam zurück mit dem Spruch, dass die lateinamerikanische Befreiungstheologie unvereinbar sei mit den nationalen Interessen der USA. Es ging natürlich nicht einfach um diese Theologie. Es ging um eine Anklage gegen die gesamte Kulturentwicklung, die sich ergeben hatte, einschliesslich der neuen Vorstellung vom Sozialismus. die jetzt gegenwärtig gemacht wurde. Aber gleichzeitig ging es um die Verfolgung aller christlichen Gruppen, die unter dem Namen der Befreiungstheologie bekannt wurden. Es ergab sich eine ungeheuerliche Christenverfolgung in den 70er und 80er Jahren, in der der 3 Bischöfe, viele Priester und vergewaltigte Nonnen, aber ebenfalls vieler Diakone und sonstige Mitglieder der religiösen Richtung ermordet wurde, Gleichzeitig aber wurde der theologische Inhalt der jetzt sich formenden neuen Rechten entwickelt mit Unterstützung der US-Regierung und wahrscheinlich vor allem durch den CIA und vieler sonstiger politischen lateinamerikanischen Machtzentren.
Das Ergebnis war die Neuorientierung, die jetzt von den USA ausging. Es handelte sich wieder um einen Aufstand der Rechten gegen die Gleichheit aller Menschen und die Menschenrechte. Es wurden jetzt gerade die totalitären Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit gefördert, die sich jetzt vor allem in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien ergaben und die sich absolut auf die Seite der neuen neoliberalen Richtung der bürgerlichen Ideologie stellten. Insgesamt waren diese Länder Teilnehmer des Plan Condor, der von der US-Regierung aus organisiert wurde und der im Jahre 1975/76 begann. Es handelte sich um ein Programm des Massenmordes an den Mitgliedern und Führungskräften der Länder dieser erwähnten Militärdiktaturen.
Totalitarismus und Neoliberalismus waren einfach nur zwei Gesichter derselben Medaille. Der Aufstand gegen die Menschenrechte kehrte zurück, nachdem der erste Aufstand von Totalitarismus und Faschismus mit dem 2. Weltkrieg zusammengebrochen war, der ebenfalls ein Aufstand gegen die Menschenrechte und die Gleichheit aller Menschen war.
Damit war dann die grosse Entwicklungsvorstellung von einer neuen Gesellschaft beendet. Sie ging unter vor allem mit dieser gewaltigen Christenverfolgung. Es wird sehr häufig von den Christenverfolgungen durch sowjetsozialistische Regierungen gesprochen. Nicht eine davon hat auch nur annähernd diese gewaltige Grösse erreicht, die hier verwirklicht wurde. und die mit Hilfe von rechtsradikalen Christen begangen wurde.
Damit ist klar, dass von den 80er Jahren an keine Entwicklungspolitik mehr gemacht wurde. Als man Frau Merkel kurz nach ihrer ersten Ernennung als Kanzlerin im Jahre 2005 fragte, ob man nicht aufs neue eine Entwicklungspolitik für die vielen Länder der Dritten Welt machen müsste, antwortete sie, dass man keine Entwicklungspolitik mehr machen werde, sondern das deutsche Kapital, das in diesen Ländern investieren möchte, unterstützen würde. So waren wir dann wieder zurück beim alten Kolonialismus, der einfach Geschäftemacherei und Ausbeutung für die abhängigen Länder war. Statt Entwicklungspolitik machen wir jetzt angebliche Wachstumspolitik. Wachstum sollte jetzt das Kriterium sein, nicht Entwicklung im vorherigen Sinne.
Wir müssen uns aber immer klar sein: es hat eine klare Alternative in den 60er und siebziger Jahren gegeben. Sie wurde durch einen neuen Begriff von Sozialismus und einer neuen Kulturvorstellung dargestellt. Aber sie wurde unterdrückt durch die mörderische Verfolgung durch die kapitalistischen Machtzentralen und ihren Klassenkampf von oben.
MH Frage 4. Viele Kritiker sprechen von einer Krise der westlichen Zivilisation
und machen sie an globalen Problemen wie Migration, Umweltzerstörung und
Klimawandel fest. Sicher sind diese globalen Probleme auch Folgen der
globalen neoliberalen Wirtschaft. Aber gibt es eine Alternative dazu
oder wenigstens alternative Ansätze?
FJH. Ich gehe auch davon aus, dass wir in einer Krise der westlichen Zivilisation stecken. Sie geht von dem Aufstand gegen die Gleichheit aller Menschen, der gleichzeitig ein Aufstand gegen die Menschenrechte ist, aus. Dieser leitet sich vom Denken Nietzsches ab und wird dann zuerst zur Wirklichkeit im Faschismus, heute aber im Neoliberalismus. Der Widerstand gegen diesen Aufstand führte zu einer neuen Sozialismusvorstellung, zu der parallel dann die erwähnte Neuformulierung des Subjekts durch die Rebellion der Studenten im Jahre 1968 kam, die eine neue Subjektivität anzielte im Verhältnis zu allen bestehenden Institutionen.
Verstehen wir beide Initiativen in ihrer tatsächlichen Einheit, ergibt sich, dass hier effektiv eine Alternative zum herrschenden System im Entstehen war. Sie wurde aber durch den Aufstand gegen die Menschenrechte und die Gleichheit aller Menschen von Seiten des Neoliberalismus, der sich in Lateinamerika auf die totalitären neuen Militärdiktaturen der Nationalen Sicherheit stützen konnte, wieder einmal weitgehend zerstört. Der Studentenrebellion gegenüber kam es in Deutschland zu einer zunehmenden Kontrolle der Freiheit der Wissenschaften der Universitäten durch den Bund Freiheit der Wissenschaften, der sich auf die Kontrolle der universitären Meinungsfreiheit im Namen der Popperschen Wissenschaftslehre konzentrierte und von den Kulturministerien fast aller deutschen Länder unterstützt wurde. Ganz ähnlich wurde diese Wissenschaftstheorie auch von den totalitären Diktaturen der Nationalen Sicherheit in Lateinamerika benutzt. Die Hofphilosophen dieser Nationalen Sicherheit waren in allen Fällen, die ich kennengelernt habe, ebenfalls Popperianer. Deshalb wird man in den Schriften Poppers dieser Zeit auch niemals eine Kritik des Totalitarismus dieser Militärdiktaturen finden.
Vom Ende des Jahrhunderts an - in Chile ab 1990 - wurden die wichtigsten der Militärdiktaturen wieder demokratisiert, nachdem man mit Hilfe des erwähnten Plan Condors die Führungskräfte der Volksorganisationen weitgehend ermordet hatte. In Argentinien wurden viele zu Tode gefoltert und ihre Leichen dann im Flugzeug zu Atlantik geflogen und dort abgeworfen den Haien zum Frass. Dies war ein wichtiger Teil des Klassenkampfes von oben.
Aber mit der Demokratisierung ergab sich der vorhergehende Konflikt aufs neue. Die Bevölkerung akzeptierte in den darauf folgenden Wahlen nur selten die Positionen der Militärdiktaturen, die allesamt die Wirtschaft neoliberal orientiert hatten. Viele Regierungen kehrten zu einer Politik zurück, die sich gegen diese Positionen richtete. Ich will nur drei hier erwähnen, die ich für ausserordentlich repräsentativ halte.
In Venezuela wurde Hugo Chavez 1999 Präsident. Er sprach davon, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu begründen.Er machte sehr klar, dass er damit eine Gesellschaft meinte, die auf einer durch systematische Interventionen in Markt begründeten Gesellschaft beruhte, wie sie bereits in Chile 1970 proklamierrt woren war. Chavez starb 2013, und ihm folgte Maduro als Präsident bis heute. Aber Venezuele wurde jetzt zum Zielpunkt einer systematischen Politik wirtschaftlicher Sanktionen, die sehr bald den Export des wichtigsten Produkts - dem Petroleum -weitgehend unmöglich machte. Die Bevölkerung wurde von der US-Regierung zum Hunger verurteilt. Millionen von Flüchtlingen verliessen das Land, das Gesundheitssystem wurde ruiniert. Nicht einmal heute angesichts der Katastrophe des Corona-virus hat die US-Regierung diese mörderischen Sanktionen aufgehoben.
In Brasilien wurden Verleumdungen gegen Lula erfunden und in ihrem Namen wurde Lula zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Dies machte es möglich, dass Bolsonaro die Präsidentschaftwahlen gewann und heute Präsident von Brasilien ist. Damit wurde die ausserordentlich wichtige Sozialpolitik Lulas und der Aufbau eines Sozialstaats beendent und weitgehend wieder aufgelöst. Ebenfalls wurde die Zerstörung der Amazonie ganz ausserordentlich intensiviert. Wiederum konnte sich der Neoliberalismus durchsetzen, Lula wurde wieder freigelassen, kann aber kaum noch eine politische Rolle spielen,
In Bolivien erfand der Vorsitzende der OEA (Organisation Amerikanischer Staaten) die Nachricht eines angeblichen Wahlbetrugs und griff damit die Regierung von Evo Morales an.. Es war faktisch ein Aufruf zum Staatsstreich, der von der US-Regierung wiederum unterstützt wurde. Morales suchte Asyl zuerst in Mexiko und dann in Argentinien. Die OEA hat nie Beweise für eine angebliche Wahlfälschung erbracht.
Dies zeigt, dass es eine Alternative gibt und sie liegt ziemlich offen. Es ist die Antwort auf den Klassenkampf von oben, der heute den Kapitalismus weitgehend beherrscht. Diese Antwort auf den Klassenkampf von oben kann nicht durch eine simple Erklärung eines darauf antwortenden Klassenkampfes von unten beantwortet werden. Sie kann nur sein ein Kampf um die Rückgewinnung einer Demokratie, die heute weitgehend vom Grosskapital beherrscht wird. Die Demokratie ist weitgehend ans Kapital verkauft worden. Aber sie kann nicht zurückgekauft werden, sondern dieser Verkauf muss durch die neue Entwicklung der Demokratie anulliert werden. Dies ist nötig, damit endlich wieder Interventionen in den Markt aus legitimen Entscheidungen hervorgehen können. Im Falle des coronavirus heute war es ganz einfach, die sogenannte "schwarze Null", in deren Namen Schäuble seit vielen Jahren viele notwendige Investitionen in den Sozial- und Ökologie-Staat verhinderte, abzuschaffen. Die Frage ist: warum ist es in diesem Fall möglich, aber nicht, wenn es um den Sozialstaat oder um ökologische Probleme wie etwa die Klimakrise geht?
Die Alternative für die heutige Welt muss immer davon ausgehen, dass die systematische Intervention des Marktes nicht nur legitim, sondern absolut notwendig ist. Sie ist heute auch für den Fall der Klimakrise ganz so legitim wie notwendig wie sie es im Falle der Pandemie ist, die uns heute mit dem coronavirus bedroht. Deshalb brauchen wir eine ebenso weite Fähigkeit, immer und in allen möglichen institutionellen Krisen diese gleiche Beweglichkeit zu haben, die sich im Fall dieser Pandemie ergeben hat
Es handelt sich um eine Alternative, die in Wirklichkeit völlig offensichtlich und keine extreme Neuigkeit ist. Wir müssen zu einer Wirtschaftspolitik, aber auch soziale und kulturelle Politik zurückkehren, die in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg entwickelt wurde und die heute erneuert werden muss. Aber der Neoliberalismus von heute betrachtet und verfolgt eine solche Politik und nennt sie "radikale und extremistische Linke", so wie sie es auch taten mit dem Leiter der Labour Party in England, Corbyn.
Aber wir brauchen mehr als dies. Der Neoliberalismus hat als Grundlage eine Magie des Marktes und des Geldes, auf der seine ausserordentliche Kraft zur Manipulation beruht. Ich habe bereits zitiert, wie Hayek, der der Guru der Neoliberalen war, den Markt durch das Vater-unser und durch das Johannesevangelium sprechen lässt. Für ihn ist der Neoliberalismus eine Religion. Aber auch sonstige religiöse Bewegungen, die sich mit dieser Religion des Marktes identifizieren, bewegen sich in der gleichen Richtung. Die Pastorin und Profetin einer der neuen Pfingstlerreligionen Ana Maldonado in Lateinamerika sagt dies ganz offen: A punta de dólares te meto al cielo” (Mit dem Dollar in der Hand bringe ich dich in den Himmel).[7] Dies ist verbunden mit der sogenannten "prosperity gospel", die wahrscheinlich mit Hilfe der CIA aus den USA nach Lateinamerika exportiert wurde und die ganz parallel zum Neoliberalismus funktioniert.
Es geht heute darum, dieses ideologische Zentrum des heutigen Klassenkampfes von oben aufzulösen oder zumindest zu schwächen. Die entsprechende Kritik zu entwickeln, ist einfach die andere Seite der Entwicklung der konkreten Massnahmen, die getroffen werden müssen. Heute setzt dies voraus, systematisch eine Fetischismustheorie zu entwickeln, die auf dieses Problem antwortet und die heute wohl nur eine Weiterentwicklung der marxschen Fetischismustheorie sein kann. Aber sie muss alle unsere Anstrengungen begleiten, um einen Weg zur Lösung unserer vielen Einzelprobleme zu finden. Diese Theorie tritt zum Teil an die Stelle dessen. was in den 60er Jahren die Kritik der Kultur von seiten der Rebellion der Studenten war, weshalb sie heute weniger von der Psychoanalyse abhängt und mehr von der marxschen Fetischismustheorie. Aber immer muss festgehalten werden: Alle einzelnen Projekte müssen im Rahmen dieser allgemeinen Alternativvorstellung für unsere heutige Gesellschaft stehen, damit jedes Einzelprojekt möglich wird. Jedes Einzelprojekt muss daher im Rahmen der Spiritualität dieses Humanismus der Praxis stehen, damit mögliche Alternativen auch tatsächlich verwirklicht werden können. Wir müssen dies in unserer gesamten Kultur gegenwärtig machen.
MH Frage 5. Sind diese Fragen auch eine Herausforderung für Theologie und Kirche oder sollten sie sich da heraushalten?
FJH. Ich glaube, dass es für Theologie und Kirche immer schwieriger wird, sich einfach hier herauszuhalten. Unsere heutige Politik beruht auf einem Grundprinzip, das ganz offensichtlich der christlichen Tradition und vor allem dem Ursprung des Christentums widerspricht. Diese Prinzip können wir formulieren als: Das höchste Wesen für den Menschen ist der Markt und das Geld. Selbst Frau Merkel als deutsche Kanzlerin drückt dies etwas rätselhaft und doch sehr eindeutig aus:
„Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“ (FAZ 21.12. 2016)
Sie verspricht, Wege zu finden, damit die parlamentarische Mitbestimmung marktkonform ist. Es ist gesichert, dass die parlamentarische Demokratie so vorgeht, dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben. So gibt sie ein Ziel an, das die parlamentarische Demokratie schlechterdings dem Markt ausliefert. Es heisst: Alle parlamentarische Demokratie muss marktkonform sein.
Dies ist das, was der Neoliberalismus als sein Ziel ausdrückt. Er sagt: Der Markt ist das höchste Wesen für den Menschen. Und immer wird er hinzufügen: Wenn der Markt das höchste Wesen für den Menschen ist, geht es auch dem Menschen besser durch den Markt als durch irgendwelche sonstigen Institutionen oder sonstige Politik. Dies aber wird mit den zunehmenden Krisen ökologischer Art wie der Krisis des Klimas, mit der anscheinend definitiven Verurteilung eines Grossteils der menschlichen Bevölkerung durch die Verelendung, aber auch durch die weitere Bedrohung durch immer neue Pandemien, die durch die absolute Willkür in der Behandlung der ökologischen Gleichgewichte entscheidend gefördert werden, offensichtlich immer schwerer zu begründen. Es ist das, was wir vorher ausgedrückt haben als den heutigen Klassenkampf von oben. Die Antwort auf diesen Klassenkampf von oben aber wird immer einschliessen müssen: Die Demokratie muss nicht marktkonform sein, sondern der Markt muss demokratiekonform sein. Wir müssen das Tor zur Demokratie wieder weit öffnen. Dies ist eben eine der Grundbedingungen dafür, dass Alternativen überhaupt möglich sind. Es genügt nicht, zu wissen, was zu tun ist. Es muss ebenfalls möglich gemacht werden, dass die notwendigen Massnahmen auch getroffen werden können. Der Neoliberalismus versucht überall und ständig, alles Mögliche unmöglich zu machen, wenn seine Verwirklichung Interventionen in den Markt fordert. Dies ist seine tiefgehende Irrationalität, der ständig gegenübergetreten werden muss.
Aber wie wir bei Hayek gesehen haben, stellt er den Markt als höchstes Wesen für den Menschen gleichzeitig als einen Ausdruck des Willen Gottes vor, so wie er sich im Vater Unser und den Evangelien ausdrückt. Hier wird sowohl die Demokratie als auch die christliche Lehre vom Menschen untergraben.
Die christliche Tradition sagt genau das Gegenteil davon aus, was hier im Namen des Neoliberalismus gesagt wird. Dies zeigt ein Jesuswort, das sagt: der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da. Statt Sabbat können wir auch sagen Sonntag, und statt Sonntag können wir auch sagen Tag des Herrn. Dann gewinnt dies Jesuswort eine durchaus erweiterte Bedeutung. Es sagt jetzt, der Mensch ist nicht für den Tag des Herrn da, sondern der Tag des Herrn ist für den Menschen da. Folglich ist daher der Mensch das höchste Wesen für den Menschen, was in der christlichen Tradition einfach eine Folge des Glaubens daran ist, dass Gott Mensch geworden ist. Dies Ganze ist dann einfach eine andere Formulierung der Nächstenliebe. Es ist auch gleichzeitig dieselbe Formulierung, die der südafrikanische, anglikanische Bischof Desmond Tutu gibt, wenn er die Nächstenliebe ausdrückt als: Ich bin, wenn du bist. Ich nehme an, dass Jesus bereits diese Bedeutung des von uns zitierten und erweiterten Satzes gegenwärtig hatte.
Aber dies führt zu einer weiteren Ausweitung dieses Jesuswortes. Es kann sich nicht nur auf den Sabbat beziehen, sondern hat gleichzeitig eine Bedeutung für alle menschlichen Institutionen und nicht nur für den Sabbat. Wir können dies dann folgendermassen sagen: Der Mensch ist nicht für irgendeine Institution da, sondern alle Institutionen sind für den Menschen dar. Daraus folgt dann auch: der Mensch ist nicht für den Markt dar, sondern der Markt ist für den Menschen dar. Dasselbe gilt dann aber auch für das Geld und für das Kapital. Markt, Geld und Kapital sind für die Menschen dar, und nicht der Mensch für den Markt, das Geld und das Kapital. Dies tatsächlich durchzusetzen. ist der Sieg gegenüber dem heutigen Klassenkampf von oben. Es ist gleichzeitig die notwendige Form der Spiritualität des Humanismus der Praxis.
Ich möchte zum Schluss nur noch zwei Probleme herausstellen, die hier sichtbar werden. Das erste Problem ist, dass es bei uns weitgehend üblich geworden ist, die Naturzerstörung, die wir ja durchaus sehen, durch den Hinweis auf einen angeblichen Anthropozentrismus zu erklären versuchen. Aber was wir haben, ist kein Anthropozentrismus, sondern ein Marktzentrismus. Dies drückt Beat Dietschy so aus: "Dei gloria, mercatum vivens." Dies können wir dann ausdrücken als: Die Ehre Gottes ist es, dass der Markt lebt. Dies ist dann unsere herrschende Ideologie, die besagt, dass es das Gleiche ist, zu sagen, dass die Ehre Gottes der Markt ist oder zu sagen, dass die Ehre Gottes der Mensch ist.
Gerade hiergegen müssen wir uns definieren: der Mensch steht nur dann im Zentrum der menschlichen Gesellschaft, wenn der Markt systematisch in Richtung auf die Menschenrechte interveniert wird. Eine Automatik, der gemäss der Mensch als Folge der Marktlogik ins Zentrum des sozialen Zusammenlebens rückt, gibt es nicht und ist reine bürgerliche Ideologie, die sich dann sogar häufig sogar als christlich oder auch christlich-demokratisch ausgibt.[8]
Es gibt noch ein zweites Problem, das herausgestellt werden muss. Dass durch die Zentralität des Marktes das Leben der Menschheit bedroht ist, wird dem Menschen erst seit dem 19. Jahrhundert bewusst. Marx ist einer der ersten Warner hierfür, wenn er sagt:
"Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."[9]
Daher entwickelt Marx den Begriff der Natur als erweitertem Körper des Menschen. Daraus folgt dann, dass auch die Natur Lebensrechte haben muss. Das impliziert gleichzeitig ein neues Menschenrecht, das heisst: dass die Natur Lebensrechte hat, ist selbst ein Menschenrecht für den Menschen. Der Mensch hat das Recht darauf, dass die Lebensrechte der Natur anerkannt und ausgeübt werden. Der Mensch hat nicht nur Pflichte und Rechte seinem eigenen, individuellen Körper gegenüber, sondern ganz ebenso hat er Pflichte und Rechte erweitertem menschlichen Körper gegenüber, den er mit allen anderen Menschen gemeinsam hat. Das Ich bin, wenn du bist, das unsere gegenseitige wirkliche Gleichheit ausdrückt, muss daher ebenfalls die aussermenschliche Natur einbeziehen, zu der ebenfalls der Mensch sagt und sagen muss:, ich bin, wenn du bist.
Ich glaube, sowohl die Theologie als auch die Kirchen werden sich dieser grossen Krisis von heute stellen müssen. Dies ist aber andererseits auch schon in vollem Gange. Ich denke dabei insbesondere an die Erklärung von Accra des Reformierten Weltbundes (2004) wie auch an viele der Stellungnahmen des jetzigen Papstes Franciscus. Und es geht dabei schliesslich ja letztlich um das Überleben der Menschheit.
[1] Mises, Ludwig von: The anti-capitalistic mentality. The Ludwig von Mises Institute. Auborn, Alabama, 2008. (1956) p.80/81
[2] Profesor F.A. Hayek, Premio Nobel de Economía. Diego Pizano: Diálogos con economistas eminentes. Amazón, 2008 "Un diálogo con el profesor Hayek." p. 27
[3] Hayek, Friedrich (1981) revista Realidad. Santiago de Chile, Nr.24 año 2 p.172
[4] “This is conspicuously so in its religious meaning, as we see for example in the Lord's Prayer, where it is asked that 'Thy will [i.e., not mine] be done in earth as it is in heaven'; or in the Gospel, where it is declared: 'Ye have not chosen me but I have chosen you, that ye should go and bring forth fruit, and that your fruit should remain' (St. John, 15:26).”
Friedrich August Hayek : The fatal conceit: The Error of Socialism. (The collected Works of Friedrich August Hayek, Volume I) Chicago University Press, 1988) S.72
[6] Federico Füllgraf: NachDenkSeiten.de 13.11.19
[7] ver https://www.youtube.com/watch?v=wyGWbdez6h8
[8] In der Zeit erschien ein Artikel von Friedrich Merz, mit dem er sich zurückmeldet. "Der Kandidat für den CDU-Vorsitz beschreibt, wie man nach der Corona-Krise die soziale Marktwirtschaft retten kann". (Zeit online 1.4.2020) Was interessiert, ist was mit der Heiligkeit des Marktes geschieht. Was mit dem Menschen geschieht, ist irrelevant. Nicht den Menschen müssen wir retten, sondern den Markt. Aber wenn eben vor allem der Markt lebt, kann der Mensch nicht mehr leben. Aber wenn der Mensch nicht lebt, lebt doch auch er Markt nicht. Oder? Selbst , wenn der Markt überleben soll, muss er sich der Notwendigkeit systematischer Interventionen in den Markt unterwerfen. Andernfalls überlebt nicht einmal der Markt.
[9] Karl Marx, Das Kapital, I, MEW, 23, S. 528/530. (La Primera publicación es 1865)
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