Franz Hinkelammert

 

Einladung zu einer Diskussion

 

Wenn der Mensch von Gott nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, nach welchem Bild des Menschen wird dann Gott vom Menschen geschaffen (oder abgeschafft)?

 

Die Gegenwärtigkeit einer Welt der menschlichen Gleichheit in der jüdischen Kultur

 

Ich möchte hier ausgehen von einer Analyse dessen, was man als menschliche Gleichheit in der jüdischen Kultur bezeichnen kann. Ich gehe von Zitaten der Bibel aus, aber ich möchte zeigen, dass die Argumente mythisch konstruiert sind, aber trotzdem gültige Argumente bleiben. Die Mythen werden so konstruiert, dass sie Aussagen über die Wirklichkeit ermöglichen. Aber ohne diesen Typ  mythischer Argumentation zu erkennen, erkennt man auch nicht das, was der Text tatsächlich sagt oder auch sagen will.

 

Ich gehe aus von der Selbstdarstellung Gottes auf dem Berg Sinai während der Übergabe dessen, was dann als Gesetz Gottes gilt:

 

Jahwe stellt sich auf dem Berg Sinai bei der Übergabe der Gebote Gottes als Befreier des jüdischen Volkes vors:

 

"Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Ägypterlande, dem Sklavenhause, herausgeführt hat." Deut 5,6 (Jerusalemer)

 

Danach stellt die Bibel  dies in folgenden Zusammenhang:

 

"Leben und Tod, Segen und Fluch habe ich dir vor Augen gestellt. So sollst du denn, dass du und deine Nachkommen am Leben bleiben, das Leben wählen… " Deuteronomium, 30, 19

 

Dabei ist klar, dass man, um das Leben wählen zu können, von der Sklaverei frei werden muss. Das Leben wählen zu können, setzt voraus, dass man von der Sklaverei frei wird.

 

Aber von diesem Standpunkt der Freiheit her, lädt Gott jetzt alle Völker der Welt zu einem grossen Festessen ein. Alle sind jetzt frei:

 

"Jahwe Zebaot wird allen Völkern ein fettes Mahl bereiten auf diesem Berg, ein Mahl von  abgelagerten Weinen, von markig-fetten Speisen mit geseihtem Hefenwein. Auf diesem Berg nimmt er die Hülle weg, die auf allen Völkern  liegt und die Decke, die über allen Heiden ausgebreitet ist. Er vernichtet den Tod auf immer und der Herr Jahwe wischt ab die Tränen von jedem Angesicht und nimmt seines Volkes Schmach hinweg von der ganzen Welt." Jesaja 25, 6-8

 

Sogar der Tod wird vernichtet.

 

Dies alles geschieht in der Zeit, in der Geld erfunden wurde und damit ein weit verbreiteter Markt entstanden war. Der Markt aber war dabei, sich in ein neues System der Sklaverei zu verwandeln. Dies ergab sich, sobald Schulden entstanden, die unbezahlbar waren, und dann die Schuldner samt ihren Familien zu Sklaven gemacht wurden. Dieses galt ganz allgemein in diesen Zeiten. Auf ähnliche Weise verlor man das Haus, das man hat und bewohnt, wenn sich aus irgendeinem Grunde eine unbezahlbare Schuld ergab. Im Namen der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichheit aller Menschen wurden daraufhin in Israel gegen alle diese sozialen Ungerechtigkeiten bestimmte Interventionen in den Markt durchgesetzt.. Es handelte sich um bestimmte Feiertage, in denen der vorherige Zustand wieder durchgesetzt wurde. Es handelte sich insbesondere um die Sabbatjahre und Jubiläumsjahre.

 

Es handelte sich insbesondere  um den Nachlass der unbezahlbaren Schulden, die Befreiung der Sklaven und die Rückgabe  der Wohnungen an ihre vorherigen Besitzer. Damit war dann auch die Sklaverei selbst abgeschafft, da alle Abhängigkeiten dieser Art immer nur auf Zeit gelten durften. Damit war ein System von Intervention in den Markt geschaffen, das die Tendenzen des Marktes, verschiedenste Arten von Sklavereien zu schaffen, zumindest aufhalten und begrenzen konnte. Die Ungleichheiten und Bedrohungen, die der Markt schafft, waren zumindest begrenzt im Namen der Gleichheit aller Menschen vor Gott.

 

Dies führt dann zu einer neuen Art von Auserwählten Gottes: "bedrückt nicht die Witwen, Waisen, Fremdlinge (Ausländer, Flüchtlinge) und Armen"  (Sacharja 7.9-10)

 

Ein solche Flexibilisierung des Marktes kann natürlich eine ausserordenlich positive Massnahme sein, um einer ganzen Gesellschaft eine grosse Stabilität zu geben. Vor allem muss man dabei gegenwärtig haben, dass andererseits die Juden ein ausserordentlich starres  Gesetzessystem  in Bezug auf ihre ritualen Gesetze hatten. 

 

Mir scheint dies der Kern der Wirklichkeitsauffassung der jüdischen Kultur seit ihren Anfängen zu sein. Es scheint sogar so zu sein, dass nur die mythische Form des Arguments das Argument in seiner Universalität möglich macht, ohne den Ausgangspunkt vom Leben eines einzigen Volkes her  zu relativieren. Auf diese Weise ergibt sich zusammen mit dem Lebensprojekt eines auserwählten Volkes ein ähnliches Lebensprojekt, das, von diesem Volk aus,  für die ganze Welt projektiert wird.

 

Der Übergang zum Reich Gottes

 

Dieser Gott des Anfangs ist ein Gesetzgeber und eine Autorität, die Entscheidungen trifft, wie hier die Entscheidung, Ägypten zu verlassen, den Exodus zu machen und von der Sklaverei frei zu werden..

 

Was der Gott des Papstes  Franciscus zeigt, ist etwas anderes: Er ruft auf zur Selbstverwirklichung des Menschen, die ein Prozess  des Kampfes um die Unabhängigkeit und die Befreiung von allen aus jeder Art von Sklaverei ist. Gott ist es, der

 

" .... den Menschen zu seiner vollen (Selbst)Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei". (Nr. 57) Evangelii Gaudium 24.11.2013

 

Im ersten Fall befreit Gott den Menschen von der Sklaverei. Im zweiten Fall hingegen ruft Gott den Menschen auf, sich von der Sklaverei zu befreien und steht dabei auf seiner Seite.

 

Im ersten Fall ist Gott der Handelnde, von dessen Handlung die Befreiung ausgeht. Im zweiten Fall ist der Handelnde der Mensch und Gott stellt sich auf des Menschen Seite. Gott ruft zum Handeln auf und gibt keinen Befehl.

 

Aber in beiden Fällen tritt Gott der Sklaverei entgegen.

 

Der Gott, der Gesetze gibt und Entscheidungen trifft, ist ganz offensichtlich Mensch geworden. Er ist ein Jahwe, der Mensch geworden ist. Aber er bleibt Gott: eben der Gott, der aufruft zur Selbstverwirklichung des Menschen durch seine Unabhängigkeit allen Sklavereien gegenüber. Indem er Mensch wird, wird der Mensch zum Handelnden, der von Gott zum Handeln aufgefordert und dabei unterstützt wird,      

 

Ich habe nirgendwo sonst einen Gott finden können, der von aller Sklaverei erlösen will und dies für alle Menschen tut, die er alle als gleich auffasst und die er als solche alle zu einem grossen Festessen mit erlesenen Weinen einlädt. Wenn Zeus ein Festessen macht, lädt er nicht alle ein, sondern höchstens einige menschliche Heroen. Niemals ruft er zur Befreiung der Sklaven auf. Ebenso wenig Jupiter.

 

Der Gott von Jesus und Paulus

 

Dies ist der Gott Jesu und des Paulus. Es ist der Mensch gewordene Jahwe, sodass Jesus jetzt sagen kann:

 

Denn, siehe das Reich Gottes ist mitten unter euch, Luk 17,21

 

Und daraus kann er schliessen:

 

Suchet vielmehr sein Reich, und all das wird euch dreingegeben werden. Luk Luk12,31

 

Hier ist sie dann, die Menschwerdung Jahwes, die natürlich Jahwe als Gott nicht etwa abschafft, sondern in einen Begleiter, einen Genossen, einen Freund verwandelt. Er ruft jetzt auf,  sich diesem Reich Gottes zuzuwenden. Dann kann man natürlich sagen: er ruft zur Selbstverwirklichung durch die Befreiung von allen Sklavereien auf und gibt dazu seine Unterstützung soweit er kann. Er ist jedenfalls nicht mehr ein Gesetzgeber und eine Autorität, die bestimmt, was zu tun ist. Im Reiche Gottes regieren die Menschen sich selbst und Gott ist jetzt, wie Paulus es sagt, "alles in allem".

 

Ganz extrem wird die ausgedrückt in der Apokalypse:

 

"Und Nacht wird nicht mehr sein, und sie brauchen weder Lampenlicht noch Sonnenlicht; denn Gott der Herr wird leuchten über ihren und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit." Offenbarung 22,5

 

Gott ist Licht, und in diesem Licht regieren sich die Menschen selbst. Gott gibt ihnen keine Gesetze und keine Befehle. Von Ewigkeit zu Ewigkeit regieren sie sich selbst. Aber Gott ist hier, wie Paulus es ausdrückt, "alles in allem".

 

Dies ist wie eine endgültige Lösung dargestellt. In unserer Wirklichkeit kann es natürlich nur Annäherungen daran geben.

 

Jesus ist derjenige, der diese Menschwerdung Gottes gegenwärtig macht und personifiziert. und in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Aber Jahwe bleibt der Gott Jesu, durch diese Veränderung hindurch. Aber dann kann eben Jesus selbst als der Mensch gewordene Gott  angesehen werden.

 

Wollen wir nun wissen, was dieses Reich Gottes aussagt und was es tatsächlich in den Mittelpunkt stellt, so kann die Antwort nur etwa die folgende sein: es ist das, was Jesus in der Bergpredigt sagt. Dies ist dann der himmlische Kern des Irdischen, den der Messias Jesus aufzeigt und auf den Paulus hinweist:

 

“Nein, was die Welt für verrückt hält, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen, und was die Welt für schwach hält, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen und die Plebejer und die Verachteten hat Gott auserwählt, und das, was nicht ist, um das, was ist, nichtig (leer zu machen! Zu entleeren) zu machen.” 1 Kor 1,27-28

 

Das Verrückte, was als schwach gilt, die Plebejer und die Verachteten hat Gott auserwählt und das was nicht ist, um das, was ist, zunichte zu machen. Daher sind die Plebejer und die Verachteten die Auserwählten Gottes. Hier ist das, was nicht ist, das aber alles das, was ist, entleert und nichtig macht, das Reich Gottes, wie Jesus es vorstellt.

 

Dies ist die paulinische Sicht des Reiches Gottes und fasst durchaus zusammen, was der Inhalt der Bergpredigt ist.

 

Hier ist es wichtig, dass die Plebejer und die Verachteten die Auserwählten Gottes sind. Für Paulus bedeutet dies keineswegs, dass etwa das jüdiche Volk nicht mehr das auserwählte Volk ist. Paulus ist sich völlig bewussst, dass es sich um ein Produkt der jüdischen Kultur handelt, das hier von ihm weitergeführt und auch radikalisiert wird. Für ihn bleiben die Juden das auserwählte Volk, das eben dazu auserwählt wurde, um in der Welt gegenwärtig zu machen, dass die Auserwählten Gottes die Plebejer und die Verachteten sind. Paulus entwickelt dieses Paradox in Röm 9-11.

 

Paulus über das, was nicht ist, dessen Abwesenheit aber gegenwärtig ist

 

Gleichzeitig entwickelt Paulus ein anderes Paradox. Es geht darum, dass das, was nicht ist, das was ist, nichtig macht und entleert. Das was nicht ist, ist hierbei gerade das, was Jesus das Reich Gottes nennt. Offensichtlich: wenn Jesus davon spricht, dass das Reich Gottes mitten unter euch ist, sagt er, dass dieses Reich Gottes durch seine Abwesenheit anwesend ist. Die Abwesenheit des Reiches Gottes  ist anwesend. So kann dann Jesus sagen: Suchet vielmehr sein Reich Es ist ein Suchen des Reiches Gottes, das durch Abwesenheit gegenwärtig ist. Bei dieser Suche geht es offensichtlich darum, dieses Reich Gottes, soweit man kann, gegenwärtig zu machen und zu verwirklichen. Immer ist es für die menschliche Aktion aber letztlich unmöglich.

 

Paulus muss daher fragen: was macht das Reich Gottes, dessen Abwesenheit gegenwärtig ist, zu einem anwesenden Reich Gottes? Hierauf versucht er dann eine Antwort, ohne das Wort Reich Gottes zu erwähnen. Er gibt diese Antwort im Galaterbrief  3, 26-28. Es handelt sich um die erste Erklärung der Menschenrechte in unserer Geschichte. Paulus macht nicht etwa einige Menschenrechte gegenwärtig, sondern macht das gegenwärtig, von dem aus man die Gesamtheit der Menschenrechte entwickeln kann.

 

Hier geschieht gleichzeitig die Kritik der griechischen Philosophie durch Paulus. Das was bewegt, ist jetzt das, was nicht ist, das an die Stelle des griechischen Seins tritt. Dieses, was nicht ist, ist eine Abwesenheit, die anwesend ist. Damit entsteht ein kritisches Denken im modernen Sinne. Es setzt voraus, dass man sich auf etwas bezieht, das nicht ist, aber dessen Abwesenheit erlitten wird und das möglicherweise an die Stelle dessen treten könnte, das ist. Kritisches Denken kritisiert im Namen der Abwesenheit, die anwesend ist. Im Namen einer möglichen, wenn auch nur teilweisen Anwesenheit dessen, was abwesend ist, geschehen die Veränderungen.

 

Im Galaterbrief entwickelt dann Paulus wie das, was  als abwesend anwesend ist,  zur Forderung an die Wirklichkeit wird, um sie zu verändern. Ich glaube aber, dass die Übersetzungen sehr häufig einfach dieses Problem des Paulus  nicht aufzeigen, sondern eher unsichtbar machen. Ich gehe deshalb zuerst einmal aus von der Übersetzung in der Jerusalemer Bibel, um sie danach zu kritisieren. Diese sagt:

 

"Ihr seid also alle Kinder Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Gal 3, 26-28 (Jerusalem)

 

Ich glaube, dass gerade der erste Satz dieser Übersetzung uns bereits sehr irre leitet. Denn es geht, wie dies auch die Übersetzung von Fridolin Stier zeigt, nicht darum, an Jesus oder in Jesus zu glauben, sondern es geht darum, am Glauben des Jesus teilzunehmen und dies nicht etwa als Kinder zu tun, sondern als erwachsene Menschen (worauf auch Paulus an anderem Ort ausdrücklich besteht). Dies führt dazu, dass Paulus sagen kann, dass wir den Messias Jesus angezogen haben, auf den wir getauft sind. Hier ist es dann wichtig, das griechische Wort Christus zu übersetzen. Ins deutsche übersetzt, bedeutet es Messias, während es in unserer normalen Sprache zu einer Art Nachnamen für Jesus geworden ist.

 

Die Taufe ist für Paulus die symbolische Bestätigung dafür, das der Mensch den Glauben Jesu, der der Messias ist, sich zu eigen gemacht hat. So kann Paulus im Korintherbrief sagen, dass er nicht gekommen ist um zu taufen, sondern die Botschaft Jesu, die eben der Glaube des Jesus ist, zu verkünden.( 1 Kor, 1,17) Die Taufe ist nicht das Ziel, sondern die symbolische Bestätigung dafür, dass der Getaufte diese Botschaft Jesu, die den Glauben Jesu beinhaltet, "angezogen" hat. Man sieht dann, dass der Hinweis darauf, den Messias angezogen zu haben, darin besteht, sich den Glauben des Messias zu eigen gemacht zu haben. Dann folgt, dass der Glaubende nicht Jesus angezogen hat, sondern den Messias Jesus,  Übernehmen wir diese Kritiken, verändert sich die Übersetzung auf folgende Weise:

 

"Ihr seid also alle Söhne (und Töchter) Gottes dadurch, dass euer Glauben der Glaube Jesu ist, an dem ihr teilhabt (den ihr mit Jesus gemein habt). Denn ihr alle, die ihr auf den Messias getauft seid, habt den Messias angezogen. Da gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Weib. Denn ihr alle seid einer im Messias Jesus." Gal 3,26-29 

 

Hier wird eine Gleichheit erklärt, die keineswegs Verschiedenheiten ausschliesst.  Die Gleichheit, die diese Verschiedenheiten einschliesst, ist eine Gleichheit, die es ausschliesst, dass die Verschiedenheiten als Vorwände für Ungleichheiten und die Erklärung irgendwelcher Minderwertigkeiten benutzt  werden können.  Es ist die Diskriminierung auf Grund von irgendwelchen Unterschieden, die die Ungleichheit produziert. Sie wird nicht durch die Verschiedenheiten selbst produziert.

 

Diese Gleichheit wird erkannt wenn man im Mesías ist. Aber sie ist nicht etwa ein Gesetz Gottes. Es ist die Menschlichkeit des Menschen, die durch den Messias  erschlossen wird. Und dieser Messias ist ein Mensch und nicht etwa ein metaphysischer Gott. Dieser Hinweis auf den Messias ist der Hinweis darauf, dass es darum geht, das menschliche Zusammenleben wirklich menschlich zu machen. Es handelt sich daher nicht um einen neuen Sinai, auf dem Gott etwa auf dem Weg über den Messias, der eben sein Sohn ist und den er als solchen anerkennt und vorstellt, sein Gesetz zur Kenntnis bringt. Der Gott von Jesus und Paulus ist kein Gesetzgeber mehr. Er ist Jahwe, aber er ist weder Gesetzgeber noch Autorität. Er kann ein Urteil abgeben darüber, was geschehen ist, aber eben nur als letzter Richter. Aber dieser letzte Richter kann verurteilen in dem Sinne, dass er sagt, was unmenschlich war. Aber Paulus kennt keine Hölle. Der letzte Richter bei Paulus verurteilt, aber er verurteilt nicht zur Hölle. Und schon gar nicht zu ewigen Höllenstrafen, denn was Paulus will, ist der Tod des Todes. Eine ewige Hölle ist unvereinbar mit der Theologie des Paulus und Paulus spricht nie von der ewigen Hölle. Eine ewige Hölle würde ja dem Tod ein ewiges Leben geben. Er sagt aber:

 

"Als letzter Feind wird der Tod vernichtet" 1 Kor 15,26

 

Für Paulus ist dies die Erlösung. Sie ist nicht, irgendwelche Nichterlösten dem ewigen Tode zu übergeben.

 

Dies führt dann zur Menschenrechtserklärung, die Paulus abgibt. Die Menschenrechte, die Paulus erwähnt, sind Menschenrechte aller Menschen insofern sie Menschen sind. Sie sind nicht etwa begrenzt auf Christen, sondern sie beziehen sich  darüberhinaus auf alle Menschen. Dies könnte auch der Grund sein dafür, dass Paulus hier nicht ausdrücklich vom Reich Gottes spricht. Es ist hierbei besonders festzuhalten, dass hier zum ersten Mal in unserer Geschichte die Emanzipation der Frauen gefordert wird. Sie wird gefordert auf dem gleichen Niveau wie die Abschaffung der Sklaverei und der Forderung des Friedens unter den Völkern.

 

Bei Paulus handelt es sich um 3 Bereiche der Menschenrechte; 1. Menschenrechte in Bezug auf das Verhältnis Herr und Beherrschten (Abschaffung der Sklaverei und die notwendige Antwort auf die Ausbeutung der Arbeitskraft. Diese Antwort ist mit der Entwicklung der wirtschaftlich-sozialen Rechte und sozialer Gerechtigkeit verknüpft)  2. Menschrechte der Emanzipation der Frau, darüberhinaus dann aber auch der sexuellen Beziehungen überhaupt und 3. Menschenrechte die sich auf das Verhältnis menschlicher Kulturen und von Völkern beziehen (Friede unter den Völkern, was die Freiheit der Kolonien einschliesst, und gegenseitige Anerkennung aller menschlichen Kulturen) und die auch das Problem des Rassismus einschliesst.

 

Es handelt sich aber nicht etwa um alle Menschenrechte. Die Menschenrechte, die hier gefordert werden, könnten wir auch als emanzipatorische Menschenrechte bezeichnen. Es sind die Menschenrechte der "Schlechtweggekommenen", der Diskriminierten, der Verelendenden, der Gefährdeten, der Armen, der Verachteten, der Plebejer.

 

Aber diese neue Gesellschaft hat zwei Dimensionen, die häufig nicht genug unterschieden werden. Die erste dieser Dimensionen ist, dass diese Menschenrechte immer auch eine totale Dimension der Gerechtigkeit haben, die über alles hinausgeht, was eine menschliche Politik machen kann. Dies bestimmt dann die zweite Dimension, die die Dimension der Praxis del Humanismus der Praxis ist und eben eine ständige Aktivität der Annäherung an das darstellt, was die formulierten Menschenrechten aussagen. Man kann z. B. nicht den Rassismus einfach abschaffen. Er entsteht immer wieder und muss dann immer so schnell wie irgend möglich wieder überwunden werden. Es sind eben emanzipatorische Menschenrechte und der Prozess der Emanzipation hört nie auf. Die Vorstellung einer definitiven Durchsetzung dieser emanzipatorischen Menschenrechte muss sich daher ständig in eine Vorstellung von transzendentalen Begriffen einmünden, die über alle unsere empirische Realität notwendigerweise hinausgehen. Sie verwandeln sich dann in die Vorstellung einer anderen Welt, deren Verwirklichung über jede conditio humana hinausgeht. Insofern hat sie, obwohl es sich um realistische Ansprüche handelt, eine utopische Dimension. In der christlichen Tradition wurde daraus die Vorstellung der Auferstehung aller Menschen vom Tode in einer neuen Erde, die von Gott geschaffen werden wird. Diese Vorstellung verwandelt sich ständig in eine Hoffnung, dass dies eintreten wird und dass eines Tages Gott fähig sein wird, sie zu verwirklichen. Diese Fähigkeit Gottes wird dann zum Teil wiederum als Ergebnis menschlichen Handelns gesehen, das vorbereitenden Charakter hat.[1]

 

Walter Bochsler beschreibt auf folgende Weise die Zeit von der Menschenrechterklärung del Paulus an bis zu einer Politik dann immer mehr auch  konzipierter Menschenrechtsgarantien von der französischen Revolution an. Diese Menschenrechte, wie Paulus sie begründete, werden in der Zeit bis dahin durchaus aufgegriffen, werden aber immer nur von Gruppierungen getragen, die dann äusserst heftig verfolgt wurden:

 

”Gruppierungen, die im messianischen Geist immer wieder versucht haben, alle Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse abzuschaffen – nach dem Beispiel des Paulus (vgl. Gal 3,26-28) zwischen Völkern, Klassen und zwischen Mann und Frau – hat es im Verlauf der Kirchengeschichte immer gegeben, trotz massivster Unterdrückung und Verfolgung. Diese Traditionen freizulegen und die Perspektive der Analyse auch der biblischen Texte gänzlich zu revidieren,, sie aus Perspektive einer imperialisierten Religion zu befreien und sie als Texte einer Widerstandskultur zu erkennen, das ist eine bleibende, wohl nie endende Aufgabe.“[2]

 

Bochsler führt diese Geschichte vor allem unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechtsvorstellungen in der christlichen Geschichte vor. Ich glaube aber, dass man sie weiterführen kann über die französische Revolution hinaus bis heute.

 

Tatsächlich enthält ja  diese Menschenrechtserklärung des Paulus die Ankündigung einer neuen menschlichen Gesellschaft, die zu verwirklichen ist. Es liegt so etwas wie ein Projekt einer neuen Gesellschaft vor, die durchaus irdisch vorgestellte wird. Hier wird nicht irgendein Himmel versprochen, sondern eine andere vom Menschen gemachte Erde angekündigt. Sie gilt sicher auch für den Himmel, aber sie wird von der Erde aus gedacht und auch, soweit möglich, verwirklicht.  Und sie begleitet jetzt in irgendeiner Form auch alle christlichen Versuche, eine neue menschliche Gesellschaft zu verwirklichen. Hierauf weist eben Bochsler, den ich zitiert habe, hin. Es ist tatsächlich eine neue Tradition entstanden, die in der ganzen weiteren Geschichte gegenwärtig ist, ohne dass sie notwendig öffentlich vertreten wird. Es ist eine unterirdische, subversive Tradition.  Mit der Moderne wird sie dann aufs neue in ihrer säkularen, profanen Form gegenwärtig.

 

Die konstantinische Wende als Thermidor des Christentums

 

Dies führt uns dann zur Analyse der konstantinischen Wende des Christentums im 3. und 4. Jahrhundert, die wir mit vollem Recht auch als Thermidor des Christentums bezeichnen können. Es handelt sich um die Zeit der Imperialisierung des Christentums, die vielfach auch heute noch andauert, obwohl diese Imperialisierung immer grösserer Kritik ausgesetzt ist und es sehr viele Zeichen dafür gibt, dass das Ende dieser Zeit des Thermidors des Christentums seit dem 19. Jahrhunderts sich bemerkbar machte. Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie der jetzige Papst Franziskus zu dem jüdischen Gottesbild zurückkehrt und dabei die Vorstellung eines Gottes entwickelt, der sich auf die Befreiung des Menschen konzentriert und sich als jüdischer Jahwe als der Befreier des jüdischen Volkes von der Sklaverei in Äpypten vorstellt. Bei Franziskus stellt Gott sich nicht selbst als Befreier von der Sklaverei vor, sondern ruft die  Menschen dazu auf, sich von aller Sklaverei zu befreien, wobei Gott dabei auf seiner Seite steht. Aber er hört auf, Gesetzgeber oder befehlende Autorität zu sein. Aber es ist der gleiche Gott Jahwe, der sich allerdings entwickelt hat.

 

Mit dem Thermidor hingegen erscheint ein ganz anderer Gott. Er wird abgeleitet aus der griechischen Kultur zuerst als Gott der platonischen Tradition vor allem durch Augustinus. Es erscheint damit eine imperialisierte Kirche, die weitgehend mit der Menschenrechtstradition des Reiches Gottes und der paulinischen Menschenrechtserklärung bricht.  Wenn Augustinus über die Sklaverei spricht, wird dies sehr klar. Er verurteilt die Sklaverei nicht mehr, sondern erklärt, dass  die Sklaven, wenn sie gegen ihre Herren aufstehen, der Konkupiszenz erliegen und daher sündigen. Und tatsächlich hat ja die griechische Philosophie so gut wie gar keine Menschenrechtstradition entwickelt, was dann auch für die römische Tradition gilt.  Ein Christentum, das sich von dieser griechisch-römischen Tradition her verstehen will, kann daher nur seine eigene Menschenrechtsposition verleugnen. Es wird zum Vertreter einer Herrschaft, die sich einfach selbst legitimiert. Das Ergebnis war eben die Polarisierung des Christentums  in ein prophetisch-messianisches und ein imperiales Christentum, das dann später auch zu einem kolonialen Christentum wird.. Das prophetisch-messianische Christentum geriet damit in einen konstanten Häresieverdacht, obwohl es doch dasjenige Christentum war, das einen grossen Teil der Bevölkerung des römischen Reiches überzeugen konnte und hierin seine Kraft hatte, zu einer bedeutenden Religion der ersten Jahrhunderte zu werden.

 

Zur Analyse dieses Problems gehe ich von einigen Analysen aus. Die erste ist die von Urs Eigenman, die andere von Kuno Füssel. Urs Eigenmann analysiert insbesondere den Übergang vom prophetisch-messianischen  zum imperialen Christentum im 3. und 4. Jahrhundert.[3] Kuno Füssel zeigt eine ganz vergleichbare Situation in der Entstehung des Christentums der bürgerlichen Gesellschaft.[4] Wegen Raummangels  will ich hier auf diese Quellen hinweisen ohne sie aber weiter im Detail zu analysieren. Urs Eigenmann sagt:

 

"In der Verschiebung von der Reflektion des biblisch bezeugten historischen Schicksals Jesu zur Rezeption abstrakter Kategorien mittelplatonischer Philosophien wird nicht einfach dasselbe in bloss anderer Begrifflichkeit ausgedrückt. Die Verschiebung impliziert vielmehr den Austausch des die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln (Pierre Bourdieu) leitend-bestimmenden kategorischen Rahmens."[5]

 

Tatsächlich zeigt sich in den Analysen von Thomas von Aquin sehr deutlich die Grenze, die Thomas von Aristoleles her nicht überschreiten kann und die es ihm unmöglich macht, das besonders von Paulus vorgestellte Subjekt  zu entwickeln,. obwohl er ihm sehr nahe kommt. Dies geschieht in seiner Entwicklung  des Naturrechts. Er zeigt auf, dass naturrechtlich gesehen jeder Mensch das Recht hat, menschlich und würdig leben zu können, wenn auch nach standesgemässen Masstäben. Aber er kann dieses Recht nicht als subjektives Recht zum Widerstand ausdrücken, sondern er gibt den Autoritäten die Pflicht es  tatsächlich zu sichern. Aber tuen sie es nicht, bekommen die Betroffenen keine Legitimität dies im Notfall zu erzwingen.

 

Dies führt zu einer ausserordentlichen Antwort von Duns Scotus, dem Franziskanermönch aus dem 13/14. Jahrhundert , die ich bei Hannah Arendt gefunden habe. Hannah Arendt kommentiert die Meinung von Duns Scotus folgendermassen:

 

„Das  Wunder des menschlichen Geistes besteht darin, dass er vermittels des Willens alles transzendieren kann (“voluntas transcendit omne creatum”, wie Olivi sagte) und das ist das Zeichen dessen, dass der Mensch nach Gottes Bild geschaffen wurde. Die biblische Vorstellung, Gott habe ihm (dem Menschen) seine Bevorzugung dadurch erwiesen, dass er ihn  über alle Werke seiner Hände setzte (Psalm 8), würde ihn lediglich zum Höchsten unter allem Geschaffenen machen, aber nicht von ihm absolut unterscheiden. Wenn das wollende Ich in seiner höchsten Äusserung sagt: “Amo: volo ut sis”, “Ich liebe dich, ich möchte dass du bist” – und nicht: “Ich möchte dich haben” oder “Ich möchte dich beherrschen”-, so zeigt es sich der Liebe fähig, mit der Gott offenbar die Menschen liebt, die er nur schuf, weil er wollte, dass sie existieren, und die er liebt, ohne sie zu begehren“.[6]

 

Gott sagt also: ich will dass du bist. Liebe ist dann genau dies. Das Subjekt dieser Art zu sein ist ein Subjekt, wie es schon bei Jesus erscheint. Es ist ein Subjekt, das das Recht zum Widerstand und auch zum Aufstand hat, wenn es darum geht, seine Menschenrechte zu sichern. Auch bei Paulus gilt dieses Recht zum Aufstand. Wenn er trotzdem den Sklavenaufstand im Namen des Christentums nicht will, so ist dies, weil er die absolute Vernichtung aller Teilnehmer dieses Aufstandes von Seiten Roms fürchtete. die nach dem Sklavenaufstand des Spartakus von 73 v. Chr. verwirklicht wurde. Mir scheint, dass er die Sklaverei für illegitim hielt, aber für faktisch nicht abschaffbar oder noch nicht abschaffbar. Und ich glaube, dass er Recht hatte.

 

Der Franziskaner Angelus Silesius führt dies weiter:

 

Ich weiss, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben.

 

Werd ich vernicht er muss, vor Not den Geist aufgeben. (Der cherubinische Wandersmann)

 

Hier sagt Gott: Ich lebe wenn du lebst. Du lebst wenn ich lebe.

 

Das aber ist gleichzeitig das, was  Desmond Tutu, der südafrikanische Bischof, als  Zentrum des afrikanischen Humanismus Ubuntu beschreibt: Ich bin, wenn du bist. Es bekam eine ganz spezifische Dimension des Kampfes gegen  das Apartheid in Südafrika. Es ist heute in der Verfassung von Südafrika festgeschrieben.

 

Eine ganz ähnliche Position nimmt Lévinas an, wenn er zu sagen versucht, wie die Nächstenliebe zu bestimmen sei:

 

"Was bedeutet 'wie dich selbst'? Buber und Rosenzweig kamen hier mit der Übersetzung in größte Schwierigkeiten. Sie haben gesagt: 'wie dich selbst', bedeutet das nicht, daß man am meisten sich selbst liebt? Abweichend von der von Ihnen erwähnten Übersetzung, haben sie übersetzt: 'liebe deinen Nächsten, er ist wie du". Doch wenn man schon dafür ist, das letzte Wort des hebräischen Verses, 'kamokha', vom Beginn des Verses zu trennen, dann kann man das Ganze auch noch anders lesen: 'Liebe deinen Nächsten; dieses Werk ist wie du selbst'; 'liebe deinen Nächsten; das bist du selbst'; 'diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist'."[7]

 

Was wir sehen müssen, ist, dass es sich um die Formulierung einer humanistischen Rationalität handelt, die im Konflikt steht mit der Rationalität des Marktes, in der es heisst: Ich bin, wenn ich dich besiege und dich unterwerfe. Ich bin, wenn ich dich zu meinem Sklaven mache. Ich bin, wenn ich dich ermorde. Es ist das Amerca first, das nur eine Übersetzung ins englische ist des Deutschland über alles. Was der darauf antwortende Humanismus der Praxis fordert, ist, dass in unserem menschlichen Handeln dieses „Ich bin, wenn du bist“ endlich als Formulierung einer Rationalität de sozialen menschlichen Handelns erkannt wird, das Priorität haben muss gegenüber der unmenschlichen Rationalität des Marktkalküls und des dadurch legitimierten Handelns.

 

Die weitere Entwicklung der Subjektivität

 

Dies ist die Entwicklung dieser Subjektivität, die im Anfang des Christentums bei Jesus und Paulus aufkommt, dann aber mit dem christlichen Thermidor der konstantinischen Wende  weitgehend marginiert und mit Duns Scotus zum ersten Mal wieder ganz offen ausgesprochen wird. Aber sie hat sich erst heute wieder in einem gewissen Grade verallgemeinert, vor allem als Ergebnis der afrikanischen Subjektvorstellung der Bantus in der Zeit des Aufstands in Südafrika gegen die Apartheit, vor allem seit den 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.[8] Sie heisst jetzt sehr häufig: Ich bin, wenn du bist.

 

Diese Dimension der Subjetivität  begleitet tatsächlich von Duns Scotus an unsere Geschichte, auch wenn sie eher eine marginale Rolle spielt. Es zeigt sich, dass vom 12. und 13. Jahrhundert an wieder die Vorstellung  einer neuen menschlichen Gesellschaft auftaucht, die mit dem Thermidor des Christentums im 3. und 4. Jahrhundert weitgehend untergetaucht war. Aber an die Stelle dessen, was bei Jesus und Paulus das Reich Gottes war, tritt jetzt eine andere soziale Kategorie. Es ist die des ursprünglichen Gesellschaftsvertrag oder Sozialvertrag, die zuerst von Hobbes und Locke im 17. Jahrhundert entwickelt wird. Sie löst auch die eher apokalyptischen Vorstellungen einer neue Gesellschaft ab, die seit dem 12. Jahrhundert ganz allgemein geworden waren. Sie entstanden zuerst bei Joachim von Fiore oder Floris im 12. Jahrhundert als die apokalyptische Vorstellung eines neuen, dritten Zeitalters des Heiligen Geistes, die durchaus weiterhin gegenwärtig blieb  bis in unsere Zeit. Ebenfalls entstanden solche Vorstellungen einer neuen Gesellschaft in der Reformationszeit, so etwa bei den Wiedertäufern von Münster und bei Thomas

 

Müntzer. Danach kommt dann die Vorstellung einer neuen Gesellschaft, die Rousseau im 18. Jahrhundert entwickelt und mit der die Französische Revolution beginnt. Hier ist dann der Rahmen der Entwicklung einer neuen Gesellschaft der Nationalstaat. Dies gilt sowohl für Hobbes und Locke als auch für Rousseau.

 

Bei Hobbes und Locke geht es um die theoretische Begründung einer kapitalistischen Gesellschaft, wie sie bereits vorher in Gang gesetzt worden war, für die man jetzt aber eine Legitimität sucht und die die Formen der Legitimierung der Macht des Mittelalters ablöst. Sie geht nicht mehr von religiösen Instanzen aus, sondern von den menschlichen Beziehungen. Man diskutiert mit den Grundbegriffen Naturzustand und Gesellschaftsvertrag oder Sozialvertrag. Tatsächlich handelte es sich um die Verallgemeinerung (Totalisierung) der Warenbeziehungen im Markt, unter die jetzt alle menschlichen Beziehungen subsumiert werde.  Diese Unterwerfung durchdringt alle sozialen Beziehungen. Dies schliesst die Politik der "Enclosures" (Einhegungen) ein. Diese Politik der Unterwerfung der Gesellschaft unter den Markt wird jetzt als Aufgabe des Staates dargestellt. An die Stelle des Feudalismus tritt jetzt der Markt als das Grundgesetz für die Ordnung der gesamten Gesellschaft, was nur durch den Staat gesichert werden kann. Die Theorien von Hobbes und Locke sind daher gleichzeitig Staatstheorien und werden meistens als solche dargestellt. Aber tatsächlich wird eine gesamte Gesellschaft verändert und dadurch dem entstehenden Kapitalismus freier Lauf gegeben. Die englische Revolution und ihre Weiterführung durch Cromwell und nach dem Tode Cromwells 1658 führte zur Glorious Revolution von 1688, die die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft in England vollendete.  Dies war die Gesellschaft, die als Gesellschaft auf dem Marktgesetz begründet ist und tatsächlich eine neue Gesellschaft nach dem Untergang des Feudalismus darstellt. Dieses die Gesellschaft begründende Marktgesetz schafft daher die Grundlage einer kapitalistischen Gesellschaft und führt zu einem Staat, der jetzt auf grundsätzlich liberaldemokratische Weise begründet ist. Dies führt dann Locke aus und begründet das was von jetzt an die liberaldemokratische Demokratie ist. Es ist eine Demokratie von Eigentümern, nicht von Menschen. Aber es ist gleichzeitig eine Demokratie, die auf der absoluten Legitimierung der Sklaverei in allen zum englischen Staat gehörenden Kolonien aufgebaut ist. Diese Legitimierung der Sklaverei betraf speziell Nordamerika und die Karibik. Man sieht dann, dass die andere Seite dieser liberalen Demokratie die Sklaverei ist, die Jahrhunderte gedauert hat und die die wohl grösste Sklavengesellschaft unserer gesamten Geschichte begründet. Im Utrechter Frieden von 1713 eroberte England sogar das Weltmonopol des Sklavenhandels.

 

Ich will nun einen kurzen Einblick geben in dieses von Locke getragene Denken zugunsten der Sklaverei. Locke begründet die Sklaverei folgendermassen:

 

"Hat er aber tatsächlich durch eigene Schuld, durch irgendeine Tat, die mit dem Tode bestraft werden müßte, sein Leben verwirkt, so mag derjenige, an den er es verwirkt hat (wenn dieser ihn in seiner Gewalt hat), seinen Tod aufschieben und ihn zu eigenen Diensten gebrauchen, ohne ihm damit ein Unrecht zu tun.  Scheint jenem nämlich die Drangsal seiner Sklaverei schwerer zu wiegen als der Wert seines Lebens, so steht es in seiner Macht, sich durch Widerstand gegen den Willen seines Herrn den gewünschten Tod zu erwirken."[9]

 

Locke vergleicht dann die Sklaverei, wie er sie vertritt, mit der Sklaverei der Juden in der Antike und sagt:

 

"Ich gebe zu, daß wir sowohl bei den Juden als auch bei anderen Völkern sehen können, daß sich Menschen verkauften, allein sie verkauften sich offensichtlich einzig zu schwerer Arbeit und nicht in die Sklaverei.  Es ist nämlich deutlich, daß sich die verkaufte Person nicht unter einer absoluten, willkürlichen und despotischen Gewalt befand; denn der Herr konnte nicht die Macht haben,  einen Menschen jederzeit zu töten, den er zu einem bestimmten Zeitpunkt frei aus seinen Diensten zu entlassen verpflichtet war.  Der Herr eines solchen Knechtes war weit davon entfernt, willkürliche Macht  über sein Leben zu besitzen:  Er konnte ihn nicht einmal beliebig an seinem Körper verletzen - der Verlust eines Auges oder eines Zahnes schon setzte ihn frei."[10]

 

Er drückt sich über die Sklaverei der Juden mit Verachtung aus und besteht darauf, dass in der Sklaverei, die er vertritt, die verkaufte Person "unter einer absoluten, willkürlichen und despotischen Gewalt" lebt. Es ist für mich völlig unverständlich, dass ein Denker dieser Art dann sogar als Vater der Menschenrechte verehrt wird, wie dies insbesondere in den USA geschah.

 

Hobbes entwickelt in Bezug auf dieses neue System eines totalen Marktes auch eine entsprechende Theologie. Es ist die Theologie des Leviathans von Hobbes. Dieser Leviathan ist nach Hobbes der sterbliche Gott unter dem ewigen Gott: der sterbliche Gott ist der Gott der Marktreligion, sein Blut ist das Geld. Das Geld ist das Lebensprinzip des sterblichen Gottes und ist gleichzeitig der Gott des Marktes. Er ist sterblich,. aber der ewige Gott, der über ihm steht, gibt ihm die Auferstehung immer aufs neue, wenn er durch eine Revolution gestorben sein sollte. Der Markt aber ist das Zentrum dessen, was Hobbes den commonwealth nennt. Dieser ist eine Art von Corpus Christi. Es handelt sich um das wirtschaftlich-soziale System, das sowohl den Markt wie auch den Staat einschliesst. . Hobbes geht bereits einen bedeutenden Schritt weiter über den Gott Gold von Kolumbus hinaus. Gott ist jetzt der in den einzigen Gott transformierte Markt. Die Moderne verwirklichte diese Transformation in einen einzigen Gott, der gleichzeitig Gott des Marktes, des Geldes und des Kapitals ist. Es ist ein dreieiniger Gott.

 

Hier gibt es keine einfache Säkularisierung, sondern eine Vergöttlichung des Marktes. Es handelt sich gleichzeitig um eine Fetischisierung der Welt, die an die Stelle der Entzauberung der Welt tritt, von der Max Weber sprach. Offensichtlich ersetzt der Fetisch, von dem Marx sprach und den er analysierte, die Magie, deren Ende Max Weber feststellt.. In diesem Fetisch ist die Allgegenwärtigkeit des Marktes gegenwärtig.

 

Vor der Moderne war das Geld durchaus auch etwas göttliches. Aber es war nicht die höchste Göttlichkeit. Es wurde der Habsucht  gleichgestellt. Immer gab es auch das: Du sollst nicht begehren... des zehnten Gebotes der jüdischen Bibel. Die Moderne löscht dies faktisch aus.

 

Die Demokratie bei Rousseau

 

Rosseau nimmt faktisch eine gegensätzliche Position gegenüber Hobbes und Locke ein. Er geht davon aus, dass die ursprüngliche menschliche Harmonie des Urzustands gerade durch das Privateigentum und daher eben durch den Markt zerstört wurde, der gesellschaftliche Ungleichheiten schafft, die allen Fortschritten eine negative Bedeutung zuweisen kann. Hieraus folgt für Rousseau die Notwendigkeit, diesen Ungleichheiten entgegenzutreten. Daher lehnte er von vornherein alle Sklaverei ab, soweit sie einen Menschen zum Eigentum eines anderen Menschen macht, das dieser dann auf dem Markte auch verkaufen kann. Es handelt sich dabei um die grösste Ungleichheit, die das Privateigentum und damit der Markte produziert.

 

Gegenüber allen anderen vom Privateigentum und dem Markt produzierten Ungleichheiten tritt Rousseau dann im Namen des von ihm konzipierten Gesellschaftsvertrages und einer direkten Demokratie entgegen, die faktisch auf das Recht des Staates auf  ständige Interventionen in diesen Markt hinausläuft.

 

Auf diese Weise zeigt Rousseau eine Position, die bestimmten Menschenrechten entspricht, die ich vorher  als emanzipatorische Menschenrechte bezeichnet habe. Er lässt dabei durchaus andere Menschenrechte dieser Art beiseite, wie etwa die Rechte der Emanzipation der Frauen. Aber auf jeden Fall kann diese Position Rousseaus durchaus erklären, warum das Denken von Rousseau eine bedeutende Rolle an Anfang der französischen Revolution gespielt hat.[11]

 

Die französische Revolution beginnt als Volksrevolution, die sich erst später in eine bürgerliche Revolution verwandelt. Dies erklärt die grosse Bedeutung von emanzipatorischen Menschenrechten am Anfang der französischen Revolution. So wurde die Sklaverei im Jahre 1794 abgeschafft. Aber je mehr die Revolution fortgesetzt wurde, umso mehr wurde sie in eine bürgerliche Revolution umgewandelt. Im Jahre 1802 wurde dann die Sklaverei in Frankreich durch Napoleon wieder eingeführt.

 

Es gibt drei bedeutende Tote die diesen Übergang zur bürgerlichen Revolution aufzeigen. Es handelt sich um drei Vertreter  emanzipatorischer Menschenrechte. Es sind: Olympe de Gouges, Toussaint Louverture, François Babeuf (Aufstand der Gleichen). Olymp de Gouges war die Kämpferin für politische Frauenrechte innerhalb der französischen Revolution, Toussant Louverture war bedeutendste Anführer des Sklavenaufstands in Haiti, der mit der Unabhängigkeit Haitis endete und François Babeuf der Angeklagte  wegen des Aufstands der Gleichen, der eine beginnende  Formierung der Arbeiterbewegung Frankreichs war. Olymp de Gouges und Babeuf wurden durch die Guillotine hingerichtet, Toussant Louverture liess man im Gefängnis als Folge einer unerträglichen Behandlung sterben. Es handelt sich um die Märtyrer einer grossen Menschenrechtsbewegung.

 

Nach dem Ende der französischen Revolution kamen diese drei Menschrechtsbewegungen zurück und formierten sich jetzt als Menschenrechtsbewegung der Frauen, der Sklaven und der Arbeitenden, die alle bis heuten weiterhin aktiv sind. Die Emanzipation der Frau wurde dann erweitert zum Problem der Emanzipation der Geschlechter, wobei der Begriff Gender diese Erweiterung übermittelt.

 

Im zwanzigsten Jahrhundert kommen zwei Menschenrechtsbewegungen hinzu:

 

Die erste, die ich erwähnen möchte, ist die Erklärung der gleichen Rechte aller Kulturen, wie sie auch bereits bei Paulus herausgestellt wird, wenn er sagt, dass es nicht mehr weder Juden noch Griechen geben wird. Dann soll es keine Kultur mehr geben, die sich als einzig herrschende Kultur aufspielt und alle anderen Kulturen dem unterordnet, wie es bis heute weitgehend noch die okzidentale Kultur tut. Es soll nur noch verschiedene Kulturen geben, aber keine Verschiedenheit von Kulturen die Raum abgeben könnten um eine Kultur durch eine andere zu diskriminieren.

 

Die andere bezieht sich auf die Beziehung des Menschen zur Natur. Dass die Natur durch die willkürliche  menschliche Entwicklung der Wirtschaft selbst bedroht ist, wird dem Menschen erst seit dem 19. Jahrhundert bewusst. Marx ist einer der ersten Warner hierfür, wenn er sagt:

 

"Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."[12]

 

Marx entwickelt den Begriff der Natur als erweitertem Körper des Menschen. Daraus folgt dann, dass auch die Natur Lebensrechte haben muss. Das impliziert Gleichzeitig ein neues Menschenrecht, das heisst: dass die Natur Lebensrechte hat, ist selbst ein Menschenrecht für den Menschen. Der Mensch hat dass Recht darauf, dass die Lebensrechte der Natur anerkannt und ausgeübt werden. Der Mensch hat nicht nur Rechte auf seinen eigenen, individuellen Körper, sondern ganz ebenso hat er Rechte auf den erweiterten menschlichen Körper, den er mit allen anderen Menschen gemeinsam hat

 

Die Menschenrechte als die grosse Utopie der Menschheit

 

Wenn die Gesamtheit der emanzipatorischen Menschenrechte als erfüllt gedacht wird, dann stellt diese Gesamtheit die grosse menschliche Utopie dar, die nur angezielt, aber nicht verwirklicht werden kann. Sie ist sozusagen der himmlische Kern des Irdischen. Die ganze menschliche Geschichte dreht sich um diese Utopie (und nicht um das Sein oder das höchste Wissen). Und die Utopie entwickelt sich mit dem Geschichtsprozess. Und sie ist das, was Jesus das Reich Gottes nennt. Es ist nicht etwa ein Gebot oder Auftrag Gottes, sondern eine Bezugnahme auf unsere Lebenswirklichkeit, wie sie sich ergibt, wenn wir sie aus der Sicht der Opfer, der Armen, Verachteten, der Plebejer sehen und verstehen.

 

Wenn wir diese grosse Utopie entwickeln, können wir sie nur als verwirklichbar behaupten, wenn wir sie jenseits des Todes und der Auferstehung des Menschen vorstellen. Sie ist dann das grosse Andere das nur durch den grossen Anderen verwirklichbar wird. Wir können sie nicht als wirklich behaupten, aber wir können behaupten, was die Bedingungen ihrer  Verwirklichung sind. Ob diese Bedingungen jemals erfüllt sein werden, folgt aus unserer Analyse nicht. Es handelt sich nicht um irgendeine Metaphysik, sondern um das, was man mit Kant einen transzendentalen Begriff nennen könnte. Solche transzendentalen Begriffe werden in allen empirischen Wissenschaften benutzt, selbst in der Physik etwa im Fall des Gesetzes der Erhaltung der Energie, dessen Argument auf der Konstruktion eines transzendentalen Begriffes beruht.

 

Aber wir befinden uns jetzt mitten in der kritischen Theorie, wie sie in der Moderne entsteht, vor allem bei Rousseau und Marx. Aber es zeigt sich, dass Paulus den Anfang dieser kritischen Theorie darstellt, also gewissermassen ihr Ursprung ist. Das bezieht sich auf einen Paulus, der tatsächlich, der von der Lehre Jesu ausgeht und sie entwickelt.

 

Wie Zizek in seinem Buch Die Tücke es Subjekts  zeigt, sehen Lacan und Badiou Paulus als den Ursprung der Psychoanalyse an und analysieren ihn entsprechend.[13] Unsere Analyse zeigt, dass Paulus nicht nur im Ursprung der Psychoanalyse steht, sondern ebenfalls im Ursprung des kritischen Denkens der Moderne.

 

Es gibt zwei zentrale Denker der Moderne, bei denen Paulus im Zentrum steht. Dies sind Marx und Nietzsche. Bei Marx ist dies sehr sichtbar, obwohl er sich nicht offen auf Paulus bezieht. So sagt Paulus an ganz zentraler Stelle, das heisst, am das Ende seines ersten Korintherbriefes:

 

Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber ist das Gesetz. 1 Kor 15,56

 

Dieser Satz ist leicht umwandelbar, wenn man zeigen will, was die marxsche Gesetzeskritik ist. Es müsste dann heissen:

 

Der Stachel des Todes ist die Ausbeutung, die Kraft der Ausbeutung aber ist das Gesetz des Marktes.

 

Dies bedeutet: Das Gesetz des Marktes macht aus der Ausbeutung eine einfache Gesetzeserfüllung, die jedes Gewissen ausser Kraft setzt, und diese Gesetzeserfüllung ist dann der Stachel des Todes. Dies ist eindeutig das Zentrum der marxschen Gesetzeskritik. Aber es handelt sich um eine einfache Umwandlung des Pauluszitates.

 

Hingegen erklärt Nietzsche ganz offen und immer wieder Paulus als seinen Todfeind. Diese Position ist völlig offen seit der Veröffentlichung seiner Genealogie der Moral im Jahr 1887.

 

Nietzsche beleidigt Rousseau ständig, er nennt ihn "Idealist und Kanaille". Aber den Namen Karl Marx erwähnt er nicht ein einziges Mal in allen seinen Schriften. Er verachtet Marx so sehr, dass er ihm nicht einmal die Ehre gibt, ihn zu erwähnen, um ihn zu beleidigen.

 

Aber Nietzsche ist sich klar, dass das kritische Denken mit Paulus beginnt. Folglich attackiert er das kritische Denken, das er ja gerade beseitigen will, vor allem in Paulus. So bezeichnet er jetzt Paulus auf folgende Weise: "der ewige Jude par excellence"   "Epileptiker "  "Lehrer der Vernichtung des Gesetzes" "Genie im Hass"  "Apostel der Rache"   "der jüdische Fanatismus eines Paulus"      "ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist". Dies sind nur einige der Beleidigungen, die Zahl ist endlos.

 

Der Aufstand gegen die Gleichheit aller Menschen

 

Die Menschenrechtsbewegungen des 19. Jahrhunderts haben bedeutende Erfolge. 1865 ist die Sklavenbefreiung in den USA, es entstehen in ganz Europa und den USA Gewerkschaftsbewegungen und vielfach sozialistische Parteien,  immer mehr Frauen machen sich auch gegenwärtig im politischen Leben, auch wenn sie weit in der Minderheit bleiben.

 

Jetzt aber formieren sich Positionen, die sich immer stärker gegen diese Bedeutung insbesondere der emanzipatorischen Menschenrechte wenden. Es ist Nietzsche, der dies auf die rücksichtsloseste Weise tut und damit nach seinem Zusammenbruch und seinem Tod eine Massenbewegung schafft, innerhalb derer sich die verschiedenen Faschismen, die sich insbesondere nach dem I. Weltkrieg bilden, entwickeln können.

 

Nietzsche ist in seinen Äusserungen sehr brutal.  Über die Frauen sagt er:

 

"Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht! " - Also sprach Zarathustra.[14]

 

Gegen alle Gegner spricht Nietzsche in diesem Stil. Das aber hat ein Problem. Liest man seine Biographien, sieht man sofort, dass Nietzsche, wenn er zu Frauen geht, ganz  ausserordentlich feinfühlig ist und  nirgendwo eine Peitsche zu sehen ist. So ist es auch mit seiner Unterstützung der Sklaverei. Nietzsche wäre völlig unfähig, einen Sklaven zu halten. Dies sagt sogar Nietzsche selbst nach einem Nietzsche-Zitat, das Camus bringt, zu dem ich aber nie das Original habe finden können. Es sagt folgendes:

 

"Es ist leicht, von allen Arten amoralischer Handlungen zu sprechen, aber wird man die Kraft haben, sie auszuhalten? Ich z.B. werde einen Wortbruch oder einen Totschlag nicht ertragen können; ich werde mehr oder weniger lang daran siech liegen und dann sterben, das wäre mein Los." [15]

 

Ich nehme allerdings an, dass es ein wirkliches Zitat ist. Aber es zeigt eine Art Schizophrenie Nietzsches, in der er einerseits die brutalsten Phantasien hervorbringt, aber selbst völlig unfähig ist, sie auch nur  annähernd zu verwirklichen.  

 

Man sagt häufig, dass die Nazis Nietzsche nicht richtig interpretiert hätten, ihn auch nicht richtig verstanden hätten. Aber das ist falsch. Sie heben ihn völlig richtig verstanden, aber nie darauf hingewiesen, dass Nietzsche absolut unfähig gewesen ist, solche Brutalitäten, die er ständig sagt, auch zu verwirklichen, was in einem gewissen Masse seine Ehre rettet. Trotz all seiner Unmenschlichkeiten, die er in seinen Schriften verherricht, bleibt er menschlich und kann nicht anders als menschlich sein. Das aber macht ihn verrückt .Natürlich hätte Nietzsche niemals für gut befunden, was die Nazis  in seinem Namen verwirklichten. Aber er hat viele dieser Ungeheuerlichkeiten tatsächlich vertreten. Er selbst war nur fähig, sie zu konzipieren, aber es kamen dann andere, die fähig waren, sie auch tatsächlich zu verwirklichen.

 

Sein endgültiger Zusammenbruch im Jahre 1889  zeigt genau dies. Nietzsche, der immer die absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur vertreten hatte, sieht vor seinem Haus einen Wagenlenker sein Pferd schlagen, beginnt zu weinen und umarmt das Pferd, um es zu beschützen. Das aber ist gleichzeitig sein Zusammenbruch, aus dem er nicht wieder erwacht.

 

Dieser Nietzsche sagt über die Menschenrechte, die aus der  Behauptung der Gleichheit aller Menschen abgeleitet werden, folgendes:

 

"Das Gift der Lehre 'gleiche Rechte für alle' - das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum hat jedem Ehrfurchts- und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt die Voraussetzung  zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht - es hat aus dem ressentiment der Massen sich die Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden.."[16]

 

Es handelt sich hier um die Verurteilung aller emanzipatorischen Menschenrechte, das heisst, aller Menschenrechte, die gegenüber der Ausbeutung und Diskriminierung von Menschen oder Menschgruppen  vertreten werden, und die im Anfang des Christentums als die "Armen" benannt werden und auf die sich die Menschenrechtserklärung des Paulus bezieht.

 

Diese Verurteilung übernehmen die seit den 20er Jahren sich entwickelnden faschistischen Bewegungen. Im Nazi-Deutschland gab es sogar Konzentrationsläger für Homosexuelle. Diese Länder entwickeln einen politischen Totalitarismus des Staates, der von grossen Demagogen ausgeht, wie dies etwa Hitler oder Mussolini oder auch Franco sind. Dieser Totalitarismus hat gleichzeitig einen ganz extremen Antisemitismus entwickelt, der dann zu der Organisierung von reinen Menschenvernichtungslagern  führt, von denen eines Auschwitz war. Dieser politische Totalitarismus stand natürlich auf der Seite des grossen Kapitals, war aber nicht einfach ein Ausdruck seiner Interessen. Er war ein Ausdruck einer Ablehnung und Verfolgung aller Menschenrechte.

 

Nach dem II. Weltkrieg gab es eine ganz neue Einstellung zum Wirtschaftssystem. Es wurde jetzt völlig unter dem Gesichtspunkt des Ergebnisses dieses Krieges neu gestaltet. Alles wurde zuerst interpretiert unter dem Gesichtspunkt der verheerenden Menschenrechtsverletzungen während des Krieges vor allem von der Seite Nazi-Deutschlands her. Dies führte zur UNO Menschenrechtserklärung 1948. Aber gleichzeitig musste der Wiederaufbau Europas durchgeführt werden. Dafür brauchte es eine Wirtschaftsordnung spezieller Art. Aber gleichzeitig begann jetzt der kalte Krieg mit der Sowjetunion, der  nur gewonnen werden konnte durch die Entwicklung eines speziellen Sozialsystems in einem zu entwickelnden Sozialstaat. Dies war sehr wichtig gerade für diesen kalten Krieg. Man musst eine humane Seite des kapitalistischen Wirtschaftssytems  vorweisen, um der Gefahr neuer radikaler sozialistischer Bewegungen zu begegnen. Es war die Zeit, in der vor allem in Frankreich und Italien grosse kommunistische Bewegungen entstanden waren, denen man begegnen wollte. Daher wurde auch aus diesem Grunde gerade der Sozialstaat gefördert. Er war eine Kriegswaffe im kalten Krieg und keineswegs ein Friedensprogramm zumindest für die herrschenden Kreise in den USA. Dies erklärt dann auch, dass, sobald der kalte Krieg offensichtlich durch die USA gewonnen war, man mit allen Mitteln dazu überging, diesen Sozialstaat und eine dementsprechende Wirtschaftspolitik der wirtschaftlichen Entwicklung soweit und so schnell wie möglich wieder aufzulösen. Dies hatte natürlich seine Schwierigkeiten, weil die Bevölkerung im allgemeinen gerade diese Wirtschaftspolitik und diesen Sozialstaat  erhalten wollte.

 

Um dieses Ziel einer Rückkehr zum extremen Kapitalismus zu erreichen, musste man so etwas wie eine Kulturrevolution machen, die in Wirklichkeit eher eine Anti-Kulturrevolution war. Es war eine Revolution, die den Klassenkampf von oben als ihre Grundlage hatte. Diese Anti-Kultur-Revolution begann mit der Regierung Reagan im Jahre 1980. Aber dies alles hatte durchaus auch Vorgänger, die eine entgegengesetzte Position einnahmen.. Einer war die Regierung Allende in Chile  von 1970 a 1973. Diese chilenische Revolution ging von einer Vorstellung des Sozialismus aus, die nicht mehr  von dem sowjetischen Modell beherrscht war, sondern  die das Modell der Entwicklungspolitik in Lateinamerika, das von der CEPAL stammte, zum Ausgangspunkt nahm. Der chilenische Sozialismus wurde daher als eine systematische Intervention der Märkte konzipiert, die keineswegs das Ziel hatte, die Produktionsmittel insgesamt zu beherrschen. Aber selbst dies wurde von den herrschenden Mächten in Lateinamerika und besonders  in den USA nicht mehr zugelassen. Man organisierte einen mörderischen Militärputsch, dem ein Land wie Chile nicht widerstehen konnte.

 

Das, was jetzt in Lateinamerika kam, war der klare Übergang zu einer völlig neuen Etappe der Entwicklungspolitik, die von einer Serie von totalitären Diktaturen der Nationalen Sicherheit übernommen wurde, die alle geradezu mörderische Diktaturen waren. Es handelte sich nicht mehr um die in Lateinamerika durchaus üblichen Militärdiktaturen. Diese neuen Diktaturen hatten ein durchaus gemeinsames Projekt, das bereits aus den USA vorbereitet war und eine strenge Ideologie hatte. Es war die Ideologie des Klassenkampfes von oben, die man übernahm und die unter dem Namen des Neoliberalismus eingeführt wurde. Aber es schloss eine systematische religiöse Verfolgung ein. Sie wandte sich gegen die Anhänger der Befreiungstheologie. Tausende wurden ermordet, gefoltert, verängstigt. Es wurden Bischöfe ermordet, Priester ermordet, Nonnen vergewaltigt. Es war ein grosser Schrecken.

 

Die Basis dieser Ideologie ist der Aufstand gegen die emanzipatorischen Menschenrechte, soweit sie sich auf die Klassensituation der in der Wirtschaft Beschäftigten beziehen.  Der Gründer dieses Neoliberalismus von Mises erklärte die Notwendigkeit der Auflösung aller wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte mit folgender Begründung:

 

"Die schlimmste aller Formen von Irrglauben ist die Idee, dass die „Natur“ jeden Menschen mit gewissen Rechten ausgestattet hat. Nach dieser Lehre teilt die

 

Natur freigebig an jedes geborene Kind Rechte aus….Jedes Wort dieser Lehre ist falsch.[17]

 

Hiermit werden alle sozialen Rechte  abgeschafft ganz ebenso wie überhaupt der Begriff der sozialen Gerechtigkeit.

 

Dies ist genau das, was auch der Faschismus gesagt hatte.  Aber der Faschismus hat es über alle Menschenrechte gesagt. Deshalb ist dies, was Mises sagt, nicht Faschismus im eigentlichen Sinne, aber er zeigt sich als würdiger Erbe dieses Faschismus. Auch Hayek, als er Chile nach dem Militärputsch von 1973 besuchte, empfand die dortige Situation völlig normal trotz der ihm bekannten Tatsache der Ermordung tausender von Vertretern eben dieser Menschenrechte. Aber diese Art der Sicherung der Positionen des Klassenkampfes von oben nennt er Freiheit.

 

Aus dieser Art Politik ist der gegenwärtige Totalitarismus des Marktes ausgegangen. Die Herausbildung dieses Totalitarismus scheint mir in vollem Gange zu sein. Es gibt einige Indizien, die mir sehr klar zu sein scheinen.

 

Ein solches erdrückendes Indiz  ist die weitgehende Unterminierung des internationalen Rechtes. Sie geschieht durch eine offene Politik der Sanktionen. Vor allem die USA nehmen sich das Recht heraus, ganz willkürlich Länder durch Sanktionen oder wirtschaftliche oder auch politische Aktivitäten zu marginieren oder sogar ganz vom internationalen Handel auszuschliessen. Gegenüber anderen Länder findet eine Erpressung statt: niemand darf die Sanktionen unterlaufen. Versucht jemand sie zu unterlaufen, werden diese Sanktionen auf diese Länder ausgedehnt.

 

Dies führt dann zu höchst kriminellen Agressionen. Man ruiniert Länder durch solche Sanktionen mit dem Ziel, ihre Wirtschaft zum Zusammenbruch zu bringen und Hungersnöte zu produzieren. Dies haben die USA in den letzten Jahren auch mit Venezuela gemacht. Man machte die Exporte ihres wichtigen Produkts - nämlich das Erdöl - unmöglich und provozierte eine das ganze Land überziehende Hungerkrise. Millionen von Bürgern wurden zu Flüchtlingen in die Nachbarländer.[18] Heute besteht  mit grosser Wahrscheinlichkeit das Projekt der US-Regierung, mit Cuba genau das zu machen, was man in Venezuela gemacht hat, aber ebenfalls auch mit dem Iran und Nicaragua.

 

Eine ganz ähnliche Politik wurde gegenüber Syrien gemacht. In diesem Falle beteiligte sich die Europaunion an dieser Politik der Sanktionen Diese Politik der Provokation von Hungerkatastrophen ist weitgehend  verbreitet worden im Raum des Nahen Ostens und in solchen Ländern wie dem Yemen. Aber sie bedroht sehr viel mehr Länder.

 

Auf der anderen Seite werden die Flüchtlingsströme immer erdrückender. Einige Länder Europas klagten diejenigen, die diese Flüchtlinge im Falle eines Schiffsunfalls zu retten versuchten, an, weil diese Aktionen von den europäischen Ländern sehr häufig verboten wurden. Hier liegt dann eine Kriminalisierung der Hilfe für den Nächsten vor, die natürlich auch wieder heftige Kritik bekommt. Inzwischen gibt es immer mehr  Lager für den Aufenthalt von Flüchtlingen. Selbst unsere Presse bringt hin und wieder die Nachricht, dass sich diese Lager häufig in eine Art von Konzentrationslagern verwandeln, obwohl sie sehr häufig von der EU oder auch Ländern der EU finanziert werden.

 

Wenn wir zur Verhinderung dieser Tendenzen zum Markttotalitarismus beitragen wollen, müssen wir zumindest offen sagen - vielleicht sogar offen schreien - dass unsere Gesellschaft auf dem Weg  zu einem neuen Typ von Totalitarismus ist, den wir Totalitarismus des Marktes nennen können.

 

Es sind gerade die Modelldemokratien unserer ideologischen Welt (USA und Europa), die diesen Markttotalitarismus  entwickeln, der letztlich die Abschaffung der entsprechenden wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte impliziert.[19] Aber diese Abschaffung machte es fast unmöglich, andere Menschenrechte  zu erfüllen.

 

Der Aufruf zur Selbstverwirklichung und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei, wie Papst Franziskus ihn darstellt.

 

Franziskus spricht von einem Ruf Gottes der sich an alle Menschen richtet. Franziskus spricht diesen Ruf aus, weil er überzeugt ist, dass Gott heute in diesem Sinne sprechen muss.

 

Der Aufruf besagt, das Gott

 

" .... den Menschen zu seiner vollen (Selbst)Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei". (Nr. 57) Evangelii Gaudium 24.11.2013

 

Um welche Sklavereien handelt es sich? Ich möchte die Analyse mit einigen Beispielen beginnen.

 

Ein erstes Beispiel: Der Markt ist ein Zwangssystem, das durch das Kriterium der bedingungslosen Maximierung der Gewinne für den Kapitalisten entsteht. Der Kapitalist wird durch diese Kräfte gedrängt, sich zum Sklaven dieses Gewinninteresses zu machen und dabei seine eigene Menschlichkeit zu verlieren. Das Ergebnis ist die Ausbeutung des Menschen und die zunehmende Zerstörung der Natur. Diese Sklaverei gegenüber der Gewinnmaximierung zerstört unsere Basis des Lebens und macht gleichzeitig unser Zusammenleben immer schwieriger.

 

Eine der wenigen treffenden Untersuchungen hierzu, die ich kenne, ist:

 

Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vom Kapitalismus retten. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016 ,  siehe das Kapitel: Marktwirtschaft statt Wirtschaftsfeudalismus - Grundzüge einer modernen Wirtschaftsordnung. s. 141-287, insbesondere aber das Kapitel: Eigentum neu denken. S. 241-287

 

Bei Sahra Wagenknecht ist Gier (englisch greed) die Unterwerfung unter die Herrschaft des Gewinninteresses. Als Unterwerfung ist es eine Sklaverei.

 

Die andere Seite dieser Unterwerfung unter die Gier ist die Unterwerfung unter den Konsumzwang, den Konsumismus, der ebenfalls häufig eine Art totaler Unterwerfung, eine Sklaverei. Aber dieser Unterwerfung gegenüber kann man nicht unabhängig werden ohne die Verhinderung der Herrschaft der Gewinnmaximierung, die selbst eben eine Sklaverei des Kapitalisten ist.

 

In dieser Richtung des Konsumzwangs ist eine neue Massenbewegung entstanden, die  den Geldzwang zum Gegenstand hat. Es handelt sich um den evangelisierenden Fundamentalismus, der nach der staatsterroristischen Verfolgung der befreiungstheologischen Bewegungen in Lateinamerika durch die von den USA unterstützten Diktaturen der Nationalen Sicherheit (vor allem in den Jahren 1969-1989) ganz gezielt  und mit grossem Erfolg gefördert wurde. Es handelt sich weitgehend um eine Geldreligion, die einem wahren Geldrausch unterworfen ist. Es handelt sich um Religionen, die im Namen ihrer Religion versprechen, Geld zu vermehren in den Händen ihrer vorwiegend armen Mitglieder. Dieses Versprechen knüpft sich  an den Zehnten an, den jeder dem Pastor zu zahlen hat, damit Gott ihm ein vielfaches zukommen lassen kann und muss. Dieses Versprechen Gottes wird dann mit höchsten religiösen Prämien verknüpft, die sogar den Zugang zum Himmel versprechen. Die Pastorin und Prophetin einer der neuen fundamentalistischen Religionen Ana Maldonado sagt dies ganz offen: “Mit der Kraft del Dollars bringe ich dich in den Himmel (.“A punta de dólares te meto al cielo”).[20] Die entsprechenden religiösen Bewegungen heute tragen weitgehend den Namen Neu-Pfingstler (Neo-Pentecostales) Der wirkliche heilige Geist ist hier das Geld, das eine echte Versklavung konstituiert. Diese Bewegung nennt ihre Theologie  den prosperity gospel. Dies erinnert natürlich sehr an die Zahlung des Peterspfennigs im 16. Jahrhundert, wogegen gerade Luther in Deutschland auftrat: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.

 

Ein zweites Beispiel: Der Frauenemanzipation muss eine Emanzipation des Mannes von der Männerherrschaft entsprechen. Freiheit vom Patriarchat muss auch Emanzipation des Mannes vom Patriarchat sein. Ohne diese Emanzipation des Mannes bleibt die Frauenemanzipation unvollständig. Dies führt dann zu neuen Formen der Unterwerfung der Frau, wie es gerade durch die grosse Zahl der Feminicide bestätigt wird. Diese erscheinen mit grosser Häufigkeit  in Familienkonflikten ausgehend von Männern, in denen der Mann die Frau und die gemeinsamen Kinder ermordet, um unmittelbar danach Selbstmord zu begehen.

 

Ich fand hierzu folgende Ziffern aus Costa Rica. In dem Jahrzehnt von 2004 bis 2014 gab es 316 Frauenmorde: "...in dem untersuchten Jahrzehnt, beging 18 % der Frauenmörder Selbstmord" Dies heisst, dass 18 Prozent der Frauenmorde  Mord-Selbstmorde sind. Dies sind etwa 6 pro Jahr.

 

Costa Rica ist ein Land mit etwa 4 Millionen Einwohnern.

 

https://especiales.ameliarueda.com//feminicidios/

 

Mord-Selbstmorde sind insgesamt sehr häufig geworden. Aber gerade in dieser Form der Feminicide sind sie wahrscheinlich heute die häufigste Form des Mord-Selbstmordes geworden. Und es kann kein Zweifel sein, dass dies eine Krisis des Patriarchats ist, die eben von durch die Emanzipation der Frauen betroffenen Männer ausgelöst wird. Dies ist auch eine Form der Versklavung, und zwar diesmal des Mannes unter das Patriarchat. So ist der Mann, soweit er dieser Idealisierung der patriarchen Machtphantasien folgt, selbst der Herrschaft dieser Phantasien untergeordnet und wird zu ihren Sklaven.

 

Ein drittes Beispiel: Diejenigen, die die Sklaverei gebracht hatten, verfallen ihr, obwohl sie als legale Sklaverei abgeschafft ist. Ihre Sklaverei ist jetzt die des Fetischismus der Sklaverei. Sie ist zwar abgeschafft, sie bleibt aber als Fetischismus gegenwärtig, gewissermassen als Traum ihrer Wiederkunft. In den USA kehrte sie als dieser Fetischismus zurück und wurde zur seperation (Apartheid), die 1896 durch die Jim Crow Laws für die gesamte USA legalisiert wurde Im Jahre 1954 wurde sie legal abgeschafft, blieb aber sehr häufig durchaus lebendig. Dies wurde offensichtlich nach dem Ende der Präsidentschaft von Obama, der ein US-Amerikaner schwarzer Hautfarbe ist. Man wählte jetzt einen Trump, der einfach die Negation von Obama war und versuchte, alles abzuschaffen, was Obama erreicht hatte, vor allem das Gesundheitssystem. Damit aber kam der alte Rassismus wieder sehr weitgehend offen zurück. Ohne die vorhergehende Präsidentschaft von Obama hätte Trump wohl kaum seine Wahl gewonnen.

 

Natürlich ist das Hauptproblem der Sklavenbefreiung die Befreiung der Menschen, die im legalen Sinne Sklaven sind, also irgendeinem anderen Menschen lebenslänglich als Privateigentum gehören. Dies galt in den USA für Millionen von Menschen etwa drei Jahrhunderte lang - bis 1865.

 

Die Sklavenbefreiung von 1865 war deshalb so einseitig, weil sie sehr unvollständig war. Die Sklaven wurden zwar von der Sklaverei befreit. Aber nicht befreit wurden die Sklavenhalter, die weiterhin Sklavenhalter waren, obwohl sie keine Sklaven mehr hatten. Und viele sind dies noch bis heute. Die Weigerung dieser Sklavenhalter (ohne Sklaven), sich selbst auch von der Sklaverei zu befreien, führte daher zu den so inhumanen Konsequenzen der Sklaverei bis heute und die vor allem den extremen Rassismus, der weiterhin besteht, betreffen. Daher die Frage: Wer befreit die Sklavenhalter ohne Sklaven von ihrer Unterwerfung unter die Herrschaft der Sklaverei?

 

Die Sklavenbefreiung hat ihre andere Seite in der Emanzipation der Sklavenhalter, deren Freiheit es wäre, keine Sklaven mehr zu haben, aber auch nicht haben zu wollen. Sie müssten ausrufen: Gott sei Dank: endlich keine Sklaverei mehr! Endlich haben wir keine Sklaven mehr. Aber gerade die Sklavenhalter, die keine Sklaven mehr haben, sind jetzt versklavt durch die Abwesenheit der Sklaverei.

 

Das Ergebnis ist, dass vor allem die emanzipatorischen Menschenrechte eben eine doppelte Dimension haben. Sie bringen auf der einen Seite Forderungen mit sich, die sich auf die Gültigkeit der Menschrechte berufen. Auf der anderen Seite hingegen stehen Verweigerungen derer, deren Interessen durch die Forderung der Erfüllung bestimmter Menschenrechte verletzt werden. Diese Verweigerungen können der verschiedensten Art sein.  Von faschistischen Gruppen kommt ganz einfach die Behauptung der Ungültigkeit aller Menschrechte. Von neoliberalen Kreisen kommt die Behauptung der Ungültigkeit aller wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte. Aber es gibt natürlich weiterhin Argumentationen aller möglichen Art, um die Bedeutung der Forderungen zu relativieren.

 

Mich interessieren hier vor allem die Konflikte, die aus der Klassensituation heraus entstehen. Da ergibt sich heute die Erklärung des absoluten, von oben erklärten Klassenkampfes von der heute weitgehend geltenden neoliberalen Wirtschaftsauffassung her, wonach die behaupteten wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte überhaupt keine Gültigkeit haben. Die neoliberale Position übergibt damit dem Markt das absolute Rechte über Leben und Tod aller Menschen. Die Vertreter dieser neoliberalen Wirtschaftsordnung trauen sich natürlich bisher noch nicht, ihre absolut extrem-radikalen Positionen offen zu vertreten. Aber wir sehen ja ständig, wie in den eintretenden Konflikten durch scheinbare Argumente die extremistischen Tendenzen dieser Art ständig herausgestellt werden. Es herrscht eine fast grenzenlose Unterwerfung unter die Herrschaft der Marktlogik, die tatsächlich eine neue Sklaverei darstellt. Es ist allerdings die Sklaverei, mit der die Herrschenden sich diesen absoluten Gewinninteressen unterwerfen. Es geht ihnen darum, Sklaven der Gier zu sein und ihre eigene Unmenschlichkeit zu geniessen. Dies ist der Klassenkampf von oben.

 

Ich habe hiermit drei Beispiele der heutigen Versklavungen gezeigt. Ich halte die entsprechenden Probleme für völlig zentrale Beispiele. Aber es gibt natürlich auch andere. Ich erwähne nur folgendes Beipiel:

 

Eine ganz ähnliche Entwicklung entsteht heute gegen die Bewegung vor allem Jugendlicher für eine Politik zur Überwindung der Klimakrise. Immer mehr sind die Teilnehmer auch in unseren Kommunikationsmittel einer regelrechten Hasspredigt ausgesetzt von Seiten vor allem Männern, die sich wieder einmal durch eine solche Politik entmännlicht fühlen. Es ist ein richtiger Männlichkeitswahn entstanden. Diese Hasspredigt konzentriert sich häufig auf die Schwedin Greta Thunberg, die als sechzehnjährige  eine sehr zentrale Rolle in dieser Bewegung der Jugendlichen spielt.

 

Es geht heute um die Unabhängigkeit und Freiheit jeder Art von Sklavereien gegenüber. Nach meiner Meinung, ist dies eben auch von Franziskus gesagt, wenn er zur "Unabhängigkeit von jeder Art von Sklaverei" aufruft und wenn er darauf besteht, dass dieser Aufruf gleichzeitig ein Aufruf Gottes ist. Gleichzeitig sagt Franziskus, dass dieser Aufruf an den Menschen gleichzeitig den Aufruf zu "seiner vollen (Selbst)Verwirklichung" bedeutet.

 

Hiermit ist das zentrale Motiv dieser ganzen Einleitung zu einer Diskussion umfasst. Es handelt sich um zwei Gottesvorstellungen. Einmal die Vorstellung Gottes in der Einleitung zur Gesetzgebung Gottes auf dem Berg Sinai, von der die bekannten zehn Gebote stammen. Dabei stellt sich Gott als der Befreier des jüdischen Volkes aus der Sklaverei in Ägypten vor. Schliesslich, am Ende dieser Analyse erscheint mit dem Verweis auf die Gottesvorstellung von Papst Franziscus eine neue Vorstellung ganz ähnlicher Art, aber mit einer durchaus zentralen Veränderung. Gott tritt nicht mehr als Handelnder auf, sondern Aufrufer zum Handeln. Aber es handelt sich um eine ganz ähnliche Form des Handelns. Es ist diesmal ein Aufruf Gottes an den Menschen, dass dieser handeln möge. Der Mensch soll sich selbst von jeder Art Sklaverei befreien, das ist der Ruf Gottes jetzt. Hier ist dann sehr deutlich, dass Gott Mensch geworden ist. Was am Anfang Gott tut, wird jetzt vom Menschen getan, wobei Gott den Menschen unterstützt, aber weder sein Gesetzgeber noch seine Autorität ist. Der Mensch ist in den Mittelpunkt getreten. Das ist natürlich ein langer Prozess gewesen, aber die Gottesvorstellung, die der Papst sich zu eigen macht, ist gewissermassen der Schlusspunkt dieser Entwicklung. Aber es ist derselbe Gott Jahwe, der sich hier in einer langen dramatischen Geschichte gegenwärtig macht und der Mensch geworden ist. Gegenüber diesem Jahwe, sind die aus der griechischen

 

Philosophie abgeleiteten vorhergehenden Gottvorstellungen zweitrangig geworden, auch wenn sie nicht notwendig verschwinden.


[1] Dies ist auch in der jüdischen Tradition so: Gott kann nicht einfach das Reich der Freiheit  beginnen lassen; diese Möglichkeit  ist abhängig davon, ob die Menschen diese Unterstützung auch wollen, wie es das jüdische Wort von den 36 Gerechten, auf die Gott warten muss, gegenwärtig macht.

[2]  Walter Bochsler: Der Thermidor des Christentums. Sozialgeschichtliche Aspekte seiner frühen Entwicklung. S.97-116 In:

Urs Eigenmann, Kuno Füssel und Franz J. Hinkelammert: Der himmlische Kern des Irdischen. Exodus y Edition ITP-Kompass  Luzern, Münster, 2019 S. 106

[3] Urs Eigenmann, Kuno Füssel und Franz J. Hinkelammert op.cit  vor allem S.155-179

[4] Füssel, Kuno: Die bürgerliche Gefangenschaft der Theologie. In Urs Eigenmann, Kuno Füssel und Franz J. Hinkelammert op.cit S.29ff

[5] Urs Eigenmann, Kuno Füssel und Franz J. Hinkelammert op.cit  S. 172

[6] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Piper, München Zürich, 2002 S. 366/367

[7] Lévinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Alber. Freiburg/München. (erste Ausgabe: Lévinas, Emmanuel: De Dieu qui vient a l'idée. Paris, 1986) S. 115

[8] siehe auch Dussel, Enrique: Ética de la liberación en la edad de la globalización y de la exclusión. Trotta. Madrid 1998

[9] Locke, John: Über die Regierung (The Second Treatise of Government). Reclam. Stuttgart, 1983. §22 

[10] op.cit. §23

[11]  Rousseau wird für seine Position vor allem von den Neoliberalen kritisiert. Rauschning behandelt ihn sogar als Vorläufer Hitlers. Er tut dies in seinem Buch über den Nihilismus . siehe Rauschning, Hermann: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. Humboldt-Verlag. Frankfurt M 1954   

[12]  Karl Marx, Das Kapital, I, MEW, 23, S. 528/530. (La Primera publicación es 1865)

[13] Zizek, Slavoj: El espinoso sujeto. El centro ausente de la ontología política.  Paidós. Barcelona, 2001 S. 159-166 auf deutsch: Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. Suhrkamp, Frankfurt 2001

[14] Nietzsche, Friedrich:  Werke in drei Bänden. Hrgb. Karl Schlechta. Hanser, München, 1982. Bd 2,  S.330

[15] Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. rororo. Reinbek bei Hamburg, 1969. S.93

[16] Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, II, 1205

[17] Meine Übersetzung: "The worst of all these delusions is the idea that "nature" has bestowed upon every man certain rights. According to this doctrine nature is openhanded toward every child born.... Every word of this doctrine is false."

Mises, Ludwig von: The anti-capitalistic mentality erschienen bei D. van Nostrand Company, Inc.,  Princeton/New Jersey 1956 S. 87

[18] s. den Artikel "Sanciones económicas como castigo. El caso de Venezuela." (Wirtschaftssanktionen als Strafe. Der Fall Venezuela) von Mark Weisbrot, einer der Direktoren des Forschungszentrums CEPR in Washington und von Jeffrey Sachs, Professor  der Universität Columbia (New York) s. http://cepr.net/images/stories/reports/venezuela-sanctions-2019-05-spn.pdf.

Die Autoren des Artikels  schätzen die Zahl der Todesopfer in Venezuela auf 40.000 Menschen in den Jahren 2017 und 2018 und vermuten, dass sich die Situation im Jahre 2019 verschlechtern wird.

[19] Hierzu gibt es interessante Überlegungen von Duchrow. s. Ulrich Duchrow: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Eine Flugschrift in Kooperation mit Publik-Forum, Hamburg, VSA, 2017

Ebenfalls Hinkelammert, Franz: Totalitarismo del mercado. El mercado capitalista como ser supremo. Akal, México 2018

[20]  ver https://www.youtube.com/watch?v=wyGWbdez6h8

 

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