Die folgenden Überlegungen gehen vom Text eines Vortrags aus, den Jung Mo Sung (Brasilien) zu dem Thema gehalten hat: "Kapitalismus als Religion und religiöser Pluralismus - eine Annäherung aus befreiungstheologischer Sicht".1 Dieser Text weitet die Problematik in Dimensionen aus, die höchst interessant sind und von denen aus neue Probleme erst erkennbar werden.
Jung Mo Sung zitiert in seinem Text das erste Dokument von Santa-Fé:
"Bedauerlicherweise benutzen marxistisch-leninistische Kräfte die Kirche als politische Waffe gegen das Privateigentum und den Produktiven Kapitalismus, indem sie die gläubige Gemeinde mit Ideen infiltrieren, die eher kommunistisch als christlich sind."
Hier wird klar: Der Kapitalismus als Religion definiert die Grenzen des Variationsspielraums für alle Religionen, und zwar auf der Basis einer (scheinbar) nicht-theologischen Behauptung in profaner Sprache. Das Santa-Fe-Dokument behauptet, dass die Befreiungstheologie sich gegen "das Privateigentum und den produktiven Kapitalismus" richtet. Das ist Grund genug, sie zu verurteilen und eine Verfolgungsjagd gegen ihre Anhänger zu entfesseln, der tausende Menschen zum Opfer fallen, Bischöfe, Priester, Nonnen und Laien.
Die Frage lautet: Ist diese scheinbar profane Behauptung nicht im Grunde doch eine theologische Aussage? Eigentlich müsste sie es sein, weil sie jene Theologie, die sich der Befreiung verpflichtet, auf Grund wissenschaftlicher Legitimation verurteilen will. Scheinbar empirische Wissenschaft legitimiert die Verurteilung. Dahinter verbirgt sich eine Argumentation, die hier nicht ausdrücklich erwähnt wird, die wir aber aus einer anderen Verurteilung ähnlichen Typs herleiten können.
Vor eine Reihe von Jahren haben ich diese Argumentation bereits analysiert, und zwar durch die Analyse einer Rede, die Michel Camdessus als Direktor des Weltwährungsfonds über die Befreiungstheologie gehalten hatte. Camdessus bestätigt einen der Kernpunkte der Befreiungstheologie, nämlich die Option für die Armen, fügt jedoch hinzu: Man müsse dabei realistisch bleiben. Wenn man die Option realistisch angeht, kommt man dazu, die Strukturanpassungsmaßnahmen des Weltwährungsfonds zu übernehmen; denn sie allein sind als Maßnahmen dazu dienlich, realistisch die Option für die Armen zu treffen.2
Für Camdessus und seine Leute steht dahinter das Argument, dass jegliche andere Politik den Armen nur noch mehr Schaden zufügt, selbst wenn sie es nicht beabsichtigt. Jede Politik, die in den Markt interveniert, schädigt die Wirtschaft in einer Weise, dass es den Armen schlechter geht als zuvor. Für Camdessus ist der Markt das Instrument für eine realistische Nächstenliebe. Um Nächstenliebe zu praktizieren, muss man sich ohne Vorbehalte auf den Markt einlassen und alles – den anderen Menschen sowohl wie die gesamte äußere Welt – dem Kalkül des Eigennutzes unterwerfen. Ein solcher Markt sagt den Armen, was Dante über dem Eingangstor zur Hölle geschrieben sieht: "Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren". Camdessus behauptet genau das Gleiche, aber stellt es zugleich so dar, als sei es die einzig wirksame Art Nächstenliebe zu üben. Camdessus und die Neoliberalen preisen den Armen sogar die Hölle als Ort der Nächstenliebe an. Nachdem Camdessus seinen Dienst als Direktor des Weltwährungsfonds beendet hatte, ernannte ihn der Vatikan in Rom zum Mitglied des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden. So effizient war seine Nächstenliebe.
Hier wird eine theologische Aussage einem anscheinend profanen Kriterium unterworfen und auf der Basis dieses profanen Arguments korrigiert.
Als in der großen Christenverfolgung der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sowohl der Erzbischof Romero als auch eine Gruppe von Jesuiten ermordet worden war, unterstützte ein signifikanter Teil der Kirche die Mörder. Der Vatikan selbst unterstrich, dass es sich hier nicht um eine religiöse Verfolgung, sondern um einen politischen Konflikt handele. Daher lehnte der Vatikan es ab, die Ermordeten als Märtyrer zu bezeichnen.
Dieses Argument jedoch fällt eindeutig in sich zusammen, wenn der Kapitalismus eine Religion ist, und zwar sogar, wie Walter Benjamin intuitiv erkannte, die in den Kapitalismus umgewandelte amtliche (orthodoxe) christliche Religion. In diesem Fall können die Argumente, die wir im Dokument von Santa Fé und bei Camdessus finden, durchaus zugleich profan und "religiös" sein.
Die zitierten Texte unterstellen, dass der Markt ein heiliger Ort ist. Darauf verweist auch die im heute vorherrschenden Wirtschaftsdenken verwendete Behauptung, der Markt sei eine Institution, die sich selbst reguliere, die aber dann eben auch die Bedeutung aller anderen Institutionen reguliert. Diese Selbstregulierung des Marktes findet sich recht weit verbreitet in der Formulierung von der "unsichtbaren Hand des Marktes". Wir können in das Zitat aus dem Dokument von Santa-Fé eine kleine Änderung einfügen, und erkennen dann sofort, was sich dahinter verbirgt:
"Bedauerlicherweise benutzen marxistisch-leninistische Kräfte die Kirche als politische Waffe gegen 'die unsichtbare Hand des Marktes', indem sie die gläubige Gemeinde mit Ideen infiltrieren, die eher kommunistisch als christlich sind."
Die Veränderung der Worte verändert nicht den Sinn des Satzes. Genau das Gleiche gilt für die Argumentation von Camdessus. Allerdings wird jetzt die religiöse Bedeutung des Gesagten sichtbar. Warum behauptet Camdessus, dass die Option für die Armen dann realistisch angewandt wird, wenn sie durch die Strukturanpassungsmaßnahmen geschieht, die der Währungsfonds in den 80er und 90er Jahren des XX. Jahrhunderts verordnete? Die Antwort ist klar: Weil er daran glaubt, dass die unsichtbare Hand mit Hilfe des Marktautomatismus den Markt auf das Allgemeinteresse hin orientiert. Wer auf solche Weise den Markt sakralisiert, sakralisiert zugleich auch Geld und Kapital. Sie werden zu Göttern gemacht.3
Die Selbstregulierung des Marktes und seine Sakralisierung.
Die These, dass der Markt das Allgemeininteresse der Gesellschaft dadurch verwirklicht, dass er der unsichtbaren Hand folgt, hat sich erst im Laufe der Entwicklung der Moderne durchgesetzt. Adam Smith behauptet sie im XVIII. Jahrhundert zum ersten Mal ausdrücklich mit diesen Worten, obwohl bereits seit dem XVI. Jahrhundert ähnliche Argumentationen zu finden sind (zum Beispiel bei Mandeville). Aber erst im XVIII. Jahrhundert wird diese These zu einer absoluten Wahrheit, zur einzigen absoluten Wahrheit, welche die moderne kapitalistische Gesellschaft anerkennt. Die Bezeichnung "unsichtbare Hand" stammt aus der stoischen Philosophie und bezieht sich auf die Bewegung der Sterne am Himmel. Newton übernimmt diesen Ausdruck und überträgt ihn auf die Bewegung der Planeten um die Sonne. Adam Smith folgt ihm mit der Übertragung auf den Wirtschaftskreislauf.
Die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft behauptet, dass der Markt sich selbst reguliert, insofern er zu jedem Zeitpunkt das mögliche Optimum aller gegebenen Möglichkeiten realisiert. Diese These beruht auf einer Ableitung, die sofort den metaphysischen Charakter der These aufdeckt. Dies beginnt mit dem neoklassischen Denken etwa gegen Ende des XIX. Jahrhunderts.
Diese in den empirischen Wissenschaften implizit enthaltene Metaphysik hat mit der Metaphysik der griechischen Tradition wenig zu tun. Vielmehr ist sie eine Metaphysik von Transzendentalbegriffen, die sich auf eine Realität beziehen, die als Funktionsmechanismus zu bezeichnen ist. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von Idealtypen, häufig jedoch ohne zu präzisieren. Aber solche Bezeichnungen verschleiern das Faktum, dass es hier tatsächlich um Metaphysik geht, die alle empirische Wissenschaft durchzieht.4
Dem entspricht das Konzept, das die Wirtschaftswissenschaft als das "Modell des vollkommenen Wettbewerbs" bezeichnet. Es formuliert den transzendentalen Schlüsselbegriff für die neoklassischen und neoliberalen Markttheorien. Sein transzendentaler Charakter wird offensichtlich, wenn man die entsprechenden theoretischen Voraussetzungen berücksichtigt, insbesondere jene Voraussetzung, die besagt, dass alle Mitwirkenden auf dem Markt über eine vollkommene Kenntnis aller Vorgänge verfügen müssen. In diesem Sinne wird vorausgesetzt, dass alle Mitwirkenden am Markt metaphysische Götter sind nach der Art jenes Gottes, der die mittelalterliche Theologie beherrschte.
Mit Hilfe solcher Voraussetzungen werden Vorstellungen von Vollkommenheit konstruiert. In der Wirtschaftswissenschaft gehören dazu die Theorien der vollkommenen Planung und seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch jene des vollkommenen Unternehmens. In solchen Konzepten werden vollkommen unmögliche und unendlich ferne Realitäten erfasst. Aber dennoch handelt es sich keineswegs um sinnlose Konstruktionen. Vielmehr bieten solchen Konstruktionen die Gelegenheit, zwischen möglichen und unmöglichen Handlungsweisen zu unterscheiden. Sie eröffnen sozusagen eine breite Palette möglicher (und unmöglicher) Zielvorstellungen. Sobald jedoch unterstellt wird, dass der Inhalt solcher Konstruktionen realisierbar sei, sind die Folgen fatal. Vielmehr handelt es sich, wenn man so will, um Utopien, die ein Licht auf die Realität werfen, die aber einer unmittelbar empirischen Realisierung nicht zugänglich sind.
Das heute vorherrschende neoliberale Denken jedoch muss als ein Denktyp bezeichnet werden, der seine eigene Konstruktionen für realisierbar hält und deshalb so zerstörerisch wirkt.
Diese Konstruktionen sind jedoch zugleich sehr nützlich, um den religiösen Charakter des Kapitalismus zu entfalten. Das gelingt den Wirtschaftswissenschaftlern, indem sie die unendliche Distanz zwischen unserer Realität und den von ihnen konstruierten transzendentalen und in der gegebenen Form metaphysischen Konzepten verschleiern. Normalerweise betreiben sie diese Verschleierung, indem sie auf das mathematische Instrument der asymptotischen Annäherung zurückgreifen. Diese Krücke verhilft ihnen dazu, ihre Konstruktionen als relativ realisierbar darzustellen, das heißt als linear und quantitativ annähernd erreichbare Ziele. Man will sich also dem Unendlichen mit endlichen Schritten immer mehr annähern. Das widerspricht jeder Logik. Hegel hatte das Problem bereits erkannt und als "schlechte Unendlichkeit" bezeichnet.
Eine solche Konstruktion ist jedoch sehr nützlich, wenn man den religiösen Charakter des Kapitalismus herausstellen will. Jene Gesellschaft, die sich selbst sakralisieren will, macht sich sogar das Unendliche dienstbar und wird dadurch am Ende sakral. Ähnlich verfuhr der sowjetische Sozialismus. Er konstruierte das Konzept der vollkommenen Planung, das die Verheißung enthielt, dass man sich dem Planungsziel – nämlich der Verwirklichung des Kommunismus - mit Hilfe ökonomischer Wachstumsraten auf asymptotische Weise annähern könne. Aus der Perspektive des Konzepts der perfekten Planung wurde also auch der Plan auf ähnliche Weise sakralisiert. Wieder also hatte man es mit einem unendlich weit entfernten transzendentalen Konzept zu tun, das "realistische" Annäherung versprach, indem man sich ihm auf asymptotische Weise nähert. Selbst Zbigniew Brzezinski unterstellt, dass heute das kapitalistische System von einer ähnlichen Krise bedroht ist wie die, die das Ende der Sowjetunion herbeiführte. Sobald die Bevölkerung durchschaut, dass dieser Typ von Sakralisierung vollkommen leere Versprechen enthält, verliert das Ganze seinen Sinn, und alles Mögliche kann passieren.
Ein Funktionsmechanismus wie der Markt wird heute zu einer Instanz, die alle schuldig spricht. Eben darauf weist Walter Benjamin hin. . Der Stress zeigt sich als eines der schlimmsten Folge-Probleme dieser anhaltenden Erzeugung von Schuldgefühlen (Kulpabilisierung). Der Stress ist ein säkulares Schuldgefühl. Man muss immer mehr haben, immer stärker beschleunigen, immer mehr verdienen. Wer verliert, trägt selbst die Schuld an der Niederlage. Niemand kann sich beklagen. Der Funktionsmechanismus wird so zu einer riesigen Maschine, die die eigenen Leute verfolgt. Der Markt als sakrale Instanz wird zum Richter und Henker, er verurteilt zum Tod und richtet hin, nicht nur die Menschen sondern ebenfalls die Natur. Die Instanz, die so handelt, ist heilig. Und je mehr Menschen sie opfert, desto stärker bestätigt sich ihr sakraler Charakter. Der Moment der Wirtschaftskrisis ist der Moment von grossen Menschenopfern, die vielfach den Charakter von Völkermorden haben und die auf dem Markt als Altar dargebracht werden. Hier müsste man die Theorien von René Girard mit in Erwägung ziehen.
Dieser sakrale Charakter des Marktes ist zwar religiös, aber in völlig profaner Gestalt. Er kann sich atheistisch geben, aber ebenso die Gestalt irgendeiner Mystik bzw. irgendeiner der traditionellen Religionen annehmen. Immer geht es um das Gesamt einer Kultur (oder besser gesagt: um eine Anti-Kultur).
Die Kritik
Gegen diesen Riesen-Fetisch des sakralisierten Marktes tritt die Kritik an. Der klassische Text dieser Kritik stammt von Karl Marx, und zwar aus seinem Artikel "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung"5:
"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."
Vorher bereits, in der Vorrede zu seiner Dissertation von 1841, hatte Marx gesagt, dass die “Philosophie”(hier schon als kritische Theorie zu verstehen) ihren “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter (setzt), die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen”.6
Diese Erkenntnis gewinnt jetzt die Bedeutung eines Kriterium zur Unterscheidung der Götter: Sie formuliert das Urteil gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die nicht anerkennen, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.
Weder der Markt, noch das Kapital, auch nicht der Staat oder irgendeine andere Institution bzw. irgendein Gesetz ist das höchste Wesen für den Menschen. Der Mensch selbst ist das höchste Wesen für den Menschen. Nicht einmal Gott kann das höchste Wesen für den Menschen sein. Folglich sind alle Götter, die den Markt, das Kapital, den Staat oder irgendeine andere Institution bzw. irgendein Gesetz zum höchsten Wesen für den Menschen erklären, falsche Götter bzw. Götzen oder Fetische. Nur jener Gott, für den das höchste Wesen für den Menschen der Mensch selbst ist, kann kein falscher Gott sein. Diese These hat der Befreiungstheologe Juan Luis Segundo ausdrücklich vertreten.
Statt den Markt bzw. irgendeine Institution und folglich irgendein Gesetz zu sakralisieren, wird der Mensch geheiligt, und zwar als Subjekt vor jedem Gesetz und jeder Institution. Die Sakralisierung des Menschen geschieht, wo die Würde des Menschen proklamiert wird, zum Beispiel heute durch die "indignados", die Empörten, die “Entwürdigten” in aller Welt. Eine solche Proklamation muss zur Folge haben, dass zugunsten der Würde der Menschen systematisch und dauerhaft in den Markt, in die Institutionen, in das Gesetzesgefüge eingegriffen werden muss. Politisches Handeln muss sich folglich als Politik der Humanisierung statt der Kommerzialisierung begreifen. Ein solches Handeln bezieht die Humanisierung der Natur ein, die zur Voraussetzung hat, dass die Natur als Subjekt anerkannt wird. In der Sprache der Andenvölker geht es um die Anerkennung der Natur als "Pachamama" (Mutter Erde).
Nur auf solche Weise ereignet sich die Erklärung menschlicher Freiheit: Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Die gegenteilige fetischistische bzw. idolatrische Position denunziert Marx in "Das Kapital" als "Freiheit, Gleichheit und Bentham". Bentham bedeutet hier die Absage an jede Geschwisterlichkeit im Namen einer unsichtbaren Hand, die aller Erfahrung widersprechend zur realistischen Nächstenliebe bzw. Geschwisterlichkeit deklariert wird.
Dieses Kriterium zur Unterscheidung der Götter urteilt zugleich über die Religionen, und zwar auf der Basis der Analyse der Realität. Wo das Dokument von Santa Fe fordert, dass jede Religion die Grenze zu respektieren hat, die durch Aktivitäten "gegen das Privateigentum und den produktiven Kapitalismus" und folglich gegen die Geltung der unsichtbaren Hand gesetzt ist, fordert dieses Kriterium zur Unterscheidung der Götter von eben diesen Religionen, dass sie dem Menschen als höchstes Wesen den Vorrang geben vor "dem Privateigentum und dem produktiven Kapitalismus" und damit vor der unsichtbaren Hand. Alles andere ist nach diesem Kriterium Idolatrie, Fetischismus.
Aus unseren Überlegungen ergibt sich, dass wir es mit einer profanen Realität zu tun haben, die aus ihrem eigenen Inneren eine Religion und sogar eine Theologie bzw. Metaphysik entwickelt. Solche Religion und Theologie haben ihren Grund nicht in irgendeiner Offenbarung durch irgendjemanden. Aber es handelt sich auch nicht nur um eine Religion bzw. um eine Theologie. Vielmehr werden zwei gegensätzliche Religionen und zwei gegensätzliche Theologien sichtbar. Die Analyse der Realität selbst bringt es an den Tag. Im Namen des Realismus werden die sogenannten traditionellen Religionen damit konfroniert, diese Analyse mit ihren Ergebnissen als Leitfaden für ihre eigene Theologie zu akzeptieren. Dabei ist der Konflikt zu beachten, der zwischen den beiden immer noch wirksamen Positionen besteht, nämlich zwischen der Sakralisierung von Institutionen bzw. Gesetzen einerseits und der Sakralisierung des Menschen, im Sinne der Ehrfurcht vor der Würde des Menschen als oberstem Kriterium für die Realität und für alle Religionen andererseits.
Damit wird eine weltliche, ja sogar profane Theologie erkennbar. Sie ist das Produkt der Moderne selbst. Sie machte sich bereits im XVIII. Jahrhundert bemerkbar, als Rousseau von der Zivilreligion zu sprechen begann. Sie hat zwar mit den vorangehenden Theologien zu tun, aber nur in dem Sinne, dass sie die christliche Orthodoxie umwandelt in eine Theologie zur Sakralisierung des Marktes.
Die Umwandlung des Christentums in Kapitalismus und Moderne
Walter Benjamin wird sich - wenn auch eher intuitiv - des Faktums inne, dass der Kapitalismus selbst eine Religion ist.
In seinem Fragment Kapitalismus als Religion schreibt er:
"Der Kapitalismus hat sich - wie nicht allein am Calvinismus, sondern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu erweisen sein muß - auf dem Christentum parasitär im Abendland entwickelt, dergestalt, daß zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die seines Parasiten, des Kapitalismus ist."
und
"Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt."
Einerseits spricht er von der christlichen Orthodoxie, die sich in den Kapitalismus umgewandelt hat. Andererseits spricht er einfach vom Christentum, das sich in den Kapitalismus umgewandelt hat. Die Formulierung weist darauf hin, dass er einige Zweifel hegt.
Der Text stammt aus dem Jahr 1920. In seinem Text über den "Begriff der Geschichte" aus dem Jahr 1940 verwendet er nicht mehr beide Formulierungen, sondern nur jene, die den Kapitalismus als Umwandlung der christlichen Orthodoxie begreift. Jetzt ist nicht mehr nur der Kapitalismus das Produkt der Umwandlung des Christentums (in Gestalt der christlichen Orthodoxie), sondern auch das kritische Denken. Benjamin begreift nun das kritische Denken ebenfalls als das Ergebnis einer Umwandlung des Christentums (jedoch jenes Christentums, das der Formulierung des Christentums als Orthodoxie voranging und das wir im III. und IV. Jahrhundert antreffen; er entdeckt insbesondere die positive Beziehung zwischen Paulus und dem heutigen kritischen Denken). Daraus ergibt sich, dass die gesamte Moderne sich als Umwandlung des Christentums erweist. Es geht nicht einfach um Säkularisierung. Es geht vielmehr um eine Neuschöpfung auf der Basis einer säkular/profan gewordenen Welt.
Wir können jetzt danach fragen, auf welche Analyse man die Wahrnehmung von Benjamin, die in der Tat mehr den Charakter einer Intuition hat, gründen kann. Verschiedene Arbeiten behandeln dieses Problem der Umwandlung des Christentums.
Herrschaft und Herrlichkeit.
Am Beginn dieses Abschnitts möchte ich auf eine Arbeit verweisen, die Giorgio Agamben im Jahr 2008 publiziert hat, und zwar auf sein Buch "Herrschaft und Herrlichkeit - Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung" - Edition Suhrkamp Nr. 2520, Berlin 2010
Agamben behandelt zwar nicht ausdrücklich das Problem der Umwandlung des (amtlichen/orthodoxen) Christentums in Kapitalismus, von dem Walter Benjamin spricht. Aber Agamben erarbeitet in seinem Buch einige Schlüsselelemente, die verstehen helfen, was Walter Benjamin in seiner Wahrnehmung von der Umwandlung der christlichen Orthodoxie in Kapitalismus implizierte. Das wird bereits daran deutlich, dass Agamben seine Analyse mit einem Text von Paulus beginnt. Er verwendet in der Tat ein Konzept des Paulus, und zwar das der Verwaltung der Geheimnisse:
"So rechne jeder mit uns: als Dienstmann des Messias und als Hausverwalter (oikonómous) der Geheimnisse Gottes" 1 Kor 4,17
Diesen Bezug wiederholt Paulus später im Brief an die Epheser:
"[…] und ans Licht zu bringen, was die Hausordnung (oikonomía) des Geheimnisses ist, das seit Weltzeiten her in Gott […] verborgen gehalten ist." Eph 3,9
Die Geheimnisse Gottes müssen verwaltet werden, d. h. sie müssen durch eine Tätigkeit der "Verwalter" präsent gemacht werden.
Dann entdeckt Agamben, dass ab dem Ende des II. Jahrhunderts dieser Bezug unterschlagen und der Text ins Gegenteil verkehrt wird. Von Hippólyt und Tertullian an ersetzt man die Verwaltung des Geheimnisses Gottes durch das Geheimnis der Verwaltung. Es geht also nicht mehr darum, aktiv die Geheimnisse Gottes in der Welt präsent zu machen, sondern das Geheimnis der Verwaltung der Macht Gottes zu akzeptieren, folglich also die Macht der Mächtigen in der Welt zu akzeptieren. Herrschaft wird jetzt zur Ausübung von Macht. Und Herrlichkeit ist die Herrlichkeit jener, welche die Macht ausüben. Bei Paulus gab es eine Ökonomie des Geheimnisses Gottes, während es jetzt ein Geheimnis der Ökonomie Gottes gibt und überhaupt all jener, die Macht ausüben. Paulus entwickelt das Konzept von einem Subjekt gegenüber der Macht, während man jetzt den Menschen denkt als Untertan der Macht, die ihrerseits Macht von Gottes Gnaden ist.
Es lohnt, der Frage nachzugehen, worin das Geheimnis Gottes besteht. Agamben stellt diese Frage nicht. Wenn er sich darauf bezieht, verwendet er nur Gemeinplätze über das Geheimnis der Erlösung insgesamt.
Jedoch der Bezug auf die Verwaltung der Geheimnisse Gottes gerade im ersten Brief an die Korinther gestattet uns, das Geheimnis in ziemlich eindeutigen Termini zu verstehen. Dabei handelt es sich um das, was Paulus in den ersten Kapiteln des Korintherbriefes über die Weisheit Gottes gesagt hat. Von ihr sagt er: "Wir reden von Gottes verborgen gehaltener Weisheit voll Geheimnis, die Gott vorher bestimmt hat - zu unserer Verherrlichung". 1 Kor 2,7
Bemerkenswert ist, dass Paulus sich hier weder auf die Verherrlichung Gottes noch auf die Verherrlichung der Mächtigen bezieht. Vielmehr geht es um "unsere Verherrlichung" , das heisst, um die Verherrlichung aller, also um die Menschenwürde.
Im vorangegangenen Kapitel hatte er die Weisheit Gottes ausdrücklich so definiert:
"...und das Schwache der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Das Niedriggeborene (das Plebeische) und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu nichts zu machen" 1 Kor 1,27/28 ("zu nichts zu machen" hat hier die Bedeutung von "unwirksam zu machen")
Darin besteht die Weisheit Gottes. Das ist in der Tat ein kategorialer Rahmen, um die Welt kritisch betrachten zu können. Er gilt auch heute noch als kategorialer Rahmen für kritisches Denken. Die Umkehrung, die Agamben denunziert, verdrängt dieses Verständnis der Weisheit Gottes und ersetzt es durch das Geheimnis der Regierungstätigkeit, von der Regierung Gottes bis zu jener der menschlichen Behörden. Hier ereignet sich der Thermidor des Christentums.8 Um das Imperium christianisieren zu können, muss sich das Christentum imperialisieren.
Agamben zeigt die Entwicklung des Geheimnisses der Verwaltung und der Ökonomie bis zur endgültigen Entstehung des Kapitalismus im XVIII. Jahrhundert mustergültig auf. Er kann nachweisen, dass diese Geschichte zur Konzeption von der unsichtbaren Hand des Marktes und zur Durchsetzung des Marktes als eines selbstregulierten Systems führt. Das Christentum wird zum Kapitalismus, indem es seinen Thermidor durchläuft und dann die Gestalt einer christlichen Orthodoxie annimmt. Und eben diese führt zum Kapitalismus, also zu jener Religion, die jetzt sogar selbst das Christentum in der Gestalt der traditionellen Kirche kontrolliert.
Stammt alle staatliche Gewalt von Gott?
Seit vielen Jahren treffe ich mich für eine Woche mit einer Gruppe von Theologinnen und Theologen aus der Schweiz, um Themen zu diskutieren, die mit der Entwicklung des theologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens unserer Zeit zu tun haben. In den letzten Jahren widmeten wir uns der Lektüre der Paulusbriefe. Insbesondere beschäftigten uns der Römerbrief und der erste Korintherbrief. Diese Texte haben wir stets in der Perspektive der von ihnen formulierten Gesetzeskritik diskutiert.
In diesen Diskussionen stießen wir stets aufs neue darauf, dass ein Schlüsseltext des Römerbriefes sich als ein Fremdkörper im Argumentationsduktus des Paulus erwies. Der Text-Abschnitt Röm 13,1-7 legt nahe, dass Paulus behauptet, jede staatliche Gewalt stamme von Gott, und wer sich ihr widersetze, rebelliere gegen die göttliche Ordnung. Der Gesamttext des Römer-Briefes aber stellt eine Rebellion gegen die Autorität des Kaisers dar. Deshalb war es für uns schwer vorstellbar, dass Paulus in diesem Textabschnitt eine generelle Unterwerfung unter die staatlichen Autoritäten formuliert haben könnte.
Daher vereinbarten wir, näher zu untersuchen, ob dieser Text als spätere Einfügung oder möglicherweise als schlechte Übersetzung zu verstehen wäre. Einer der Diskussionsteilnehmer, Ivo Zurkinden, der die griechische Sprache gut beherrscht, präsentierte eine ausführliche Analyse und Kritik der Übersetzung. Er legte eine andere Übersetzung vor und rechtfertigte die neue Übersetzung mit folgenden Argumenten:
"In den Evangelien ist die exousía immer die Vollmacht Jesu, (die Macht des durch Gott Ermächtigten), die er auch seinen NachfolgerInnen übertragen kann: 'Da waren sie bestürzt ob seiner Lehre. Denn: Er lehrte sie als einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten' (Mk 1,22). Die JüngerInnen haben beispielsweise Vollmacht, die bösen Geister auszutreiben (Mt 10,1 u.a.), und über die JüngerInnen hinaus haben alle diejenigen Vollmacht, ...'die ihn angenommen, ihnen hat er Vollmacht gegeben, Nachkommen Gottes zu werden, denen, die seinem Namen die Treue halten' (Joh 1,12). Mk 1,22 macht auch klar: Die Vollmacht, mit der Jesus auftritt, ist von ganz anderer Art als diejenige, die die Herrschaften dieser Welt beanspruchen, mehr noch: Markus spricht den Letzteren sinngemäß den Anspruch auf diese exousía überhaupt ab: nicht wie die Schriftgelehrten. Vom selben spricht Paulus in Röm 13,1: Die exousía hat nichts mit dem zu tun, was Machthaber dieser Welt beanspruchen. Paulus spricht sie dagegen den im Römerbrief Angesprochenen genauso zu wie andernorts den Titel Söhne/Töchter Gottes. War der Titel Sohn Gottes bereits eine Provokation gegenüber dem Kaiser, so die zugesprochene exousía eine Provokation gegenüber allen möglichen Herrschaften. Diese zweite Provokation ist aber nur konsequent, da Paulus dem Messias (und sich), wie wir wiederum annehmen dürfen, treu bleibt."9
Mit einer solchen Deutung verändert sich die Welt. Jene, die aus Gott stammen, sind nicht (politische oder andere) Autoritäten, sondern jene, die durch die Botschaft des erlösenden und befreienden Messias ermächtigt werden. Die Autoritäten sind vielmehr gerade jene, die gegen die göttliche Ordnung rebellieren. Denn die Perspektive der göttlichen Ordnung ist das Reich Gottes auf der Erde.
Die von Gott und vom Messias Ermächtigten sind jene, die von Gott stammen. Natürlich gehört Paulus von Tarsus zu diesen Ermächtigten. Wenn wir an unsere Gegenwart denken, fallen uns Menschen ein wie Gandhi, Martin Luther King, Romero, Rosa Luxemburg und Rosa Parks. Aber dazu gehören noch viele andere, selbst wenn wir sie nicht mit Namen nennen können, weil wir sie häufig nicht einmal kennen.
Nach der Zeit des Paulus von Tarsus ereignete sich ein radikaler Bruch hin zum imperialisierten Christentum des IV. Jahrhunderts, symbolisch am besten vertreten durch Augustinus. Dieser Bruch wird erkennbar an der Übersetzung der christlichen Dokumente aus dem 1. Jahrhundert, die, ursprünglich griechisch verfasst, ins Lateinische übersetzt wurden, bei der Herausgabe der sogenannten Vulgata Ende des IV. Jahrhunderts.
Wieder einmal sind wir mit dem Thermidor des Christentums konfrontiert: Von den durch die Befreiungsbotschaft Bevollmächtigten zur Autorität politischer Macht und später in der Renaissance mehr und mehr zum Privateigentümer als der Macht auf der Basis des geheiligten Privateigentums. Die politische Macht wird immer mehr zur Repräsentation ökonomischer Macht, und zwar im Namen des sakralisierten Privateigentums und natürlich des Geheimnisses der Verwaltung, nämlich der unsichtbaren Hand des Marktes. Nächstenliebe ereignet sich durch den Markt selbst; sie hat im Markt ihr Realitätskriterium.
Das Christentum ist zur Religion des Systems, zur Religion des Marktes geworden. Doch es ist die christliche Orthodoxie, wie sie sich im Thermidor des Christentums im III. und IV. Jahrhundert gebildet hatte, die sich in die Religion des Systems verwandelt. Ihre Theologie sind die empirischen Wissenschaften, insbesondere die Wirtschaftswissenschaft. Je positivistischer sie sich geben, desto theologisch gehaltvoller sind sie. Ihr Gott verbirgt sich so sehr, dass er sogar für tot erklärt werden kann. Aber er ist nicht tot, sondern lebt vielmehr durch die Bewegungen der unsichtbaren Hand in der Selbstregulierung des Marktes. Die Metaphysik der modernen Wissenschaften hält ihn am Leben. Er ist sogar der Gott der Atheisten, unter der Bedingung, dass sie ihm durch Taten zustimmen.
Das kritische Denken
Das Christentum hat zur Moderne eine besondere Beziehung, und zwar in all ihren Ausformungen. In der Tat verwandelte das Christentum sich nicht nur in die Religion des Kapitalismus. Es verwandelte sich auch in das kritische Denken, das ebenfalls die gesamte Moderne durchzog. Die Kritik am Kapitalismus und der Versuch, ihn zu überschreiten, haben also die gleiche Wurzel wie der Kapitalismus selbst. Eben deshalb ist es so wesentlich, den Thermidor des Christentums zu analysieren.
Stets gab es ebenfalls ein Christentum, das der christlichen Orthodoxie die Stirn bot, selbst wenn es dabei dem Verdacht der Häresie ausgesetzt war. In der Liste der Häresieverdächtigen hatte Paulus von Tarsus stets einen Ehrenplatz. Diese Rolle hat das kritische Denken im Verlauf der gesamten Geschichte des Christentums gespielt, aber es hat keinen vergleichbaren Thermidor erlitten wie die christliche Orthodoxie.
Das Herzstück des kritischen Denkens bei Paulus haben wir in dem entdeckt, was er die Weisheit Gottes nennt. Paulus definiert die Weisheit Gottes besonders durch folgende drei Punkte:
In der Schwachheit liegt die Kraft.
Die Auserwählten Gottes sind die Plebejer und Verachteten.
Was nicht ist, bedrängt das, was ist, und macht es unwirksam. Für Paulus ist das, was nicht ist, das Reich Gottes. (Im profanen Sprachgebrauch könnte man formulieren: "Eine andere mögliche Welt bedrängt die scheinbar alternativlose reale Welt")
Wie bereits gesehen geht es um die Wahrnehmung der Welt aus der Perspektive der Beherrschten und Ausgebeuteten. Diese Weltsicht verschwindet nicht einfach, wenn sich das Christentum in den Kapitalismus umwandelt, der Religion ist. Diese Wahrnehmung der Welt gewinnt im Gegenteil an Stärke, weil die aus der Umwandlung hervorgehende Gesellschaft zu einem so aggressiven und ausbeuterischen Wirtschafts- und Sozialsystem wird, wie es die Menschheitsgeschichte zuvor nicht gekannt hat. Das Herzstück des kritischen Denkens jedoch wandelt sich auch um, wenn auch in einem anderen Sinne, als es mit der Umwandlung der christlichen Orthodoxie geschieht.
Wenn wir hier von Umwandlung sprechen, haben wir dafür andere Gründe. Den Begriff, den Paulus sich von seiner Weltwahrnehmung macht und folglich von dem, was er unter "Verwaltung der Geheimnisse Gottes" (bzw. des Geheimnisses Gottes) zu verstehen scheint, können wir als aktive Erwartung des zweiten Kommens des Messias beschreiben, das heißt: das zweite Kommen Jesu bewirkt, dass alle Dinge in der Welt neu geschaffen und das Reich Gottes errichtet wird. Die Erwartung ist in dem Sinne aktiv, dass sie für ein Leben bereit macht, in dem die Armen das Kriterium sind; das heisst: die Armen entscheiden darüber, welcher Art die zwischenmenschlichen Beziehungen tatsächlich sind. Diese aktive Vorbereitung geschieht, indem innerhalb der Kirchen die Christen ihre gesellschaftlichen und familiären Beziehungen neu ordnen. Die Rebellion, die sich hier ereignet, wird nicht als Neuordnung der gesamten Gesellschaft gedacht. Diese umfassende Neuordnung wird vielmehr erst erwartet, und zwar beim zweiten Kommen des Messias. Paulus erwartet eine neue Erde. Aber eben diese Erwartung der Wiederkunft des Messias und die Art und Weise, wie die Menschen sie durch ihre Art des Lebens vorbereiten, bezeichnet Paulus als "die Verwaltung der Geheimnisse Gottes" und folglich als "Weisheit Gottes". Die Hoffnung des Paulus richtet sich aus auf die umfassende Umwandlung in die neue Erde, die er als diese Erde ohne den Tod erhofft. Eine solche Vorstellung kann er nicht als ein Programm entwerfen, das die Umwandlung der Welt durch das Handeln der Menschen bewirken soll. Deshalb überlässt er die endgültige Umwandlung den Händen des Messias.
Die Umwandlung des paulinischen kritischen Denkens ereignet sich im XIX. Jahrhundert, insbesondere durch das Denken von Karl Marx. Marx formuliert sie als das Denken der Praxis. Als Praxis gilt für ihn nicht jede Art von Aktivität. Vielmehr versteht er darunter, eine Art und Weise zu handeln, die emanzipatorisch auf die kapitalistische Gesellschaft einwirkt und zwar mit dem Ziel, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu humanisieren. Eben diese Humanisierung versteht er als Praxis. Sie bezieht sich sowohl auf das Gesamt der Gesellschaft als auch auf jeden ihrer Teilbereiche. In diesem Sinne wandelt sich bei Marx das Herzstück des Kritischen Denkens um in die Vision einer menschlichen Praxis. Sie wird zur emanzipatorischen Praxis, wenn sie dem folgt, was Marx seinen kategorischen Imperativ nennt: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Auf diesen Imperativ stößt Marx jedoch nicht, weil er Paulus gelesen hat, sondern weil er die Realität aus einer Perspektive betrachtet, die der des Paulus ähnlich ist und die Paulus "Weisheit Gottes" nennt. Diese Perspektive bestimmt die gesamte Linke, und Bertolt Brecht bearbeitet sie in seinem gesamten poetischen Werk.
Aber auch das kritische Denken hat seine Geschichte und seine Probleme. Es entstand als Praxis zur Abschaffung des Kapitalismus in all seinen Dimensionen, um eine Welt zu schaffen, die sich von allen vorhergehenden Welten unterscheidet. Es entwickelte so das Verlangen nach einer vollständig und endgültig befreiten Welt. Just dieses Verlangen bewirkte schließlich, dass der daraus entstandene Sozialismus so beklagenswert scheiterte. Was er selbst zuvor an anderen kritisiert hatte, rief er selbst hervor: tiefreichende Deformationen des Menschlichen. Und als er sich des Scheiterns bewusst wurde, kehrte er zum Kapitalismus zurück. Die Sozialisten waren den Untaten verfallen, die sie am Kapitalismus kritisiert hatten, und sahen deshalb auch keinen Grund mehr, die Vision der neuen Gesellschaft aufrecht zu erhalten, die sie errichten wollten.
Aus diesem Prozess ging eine völlig andere Konzeption von einer alternativen Gesellschaft hervor. Sie wird nicht mehr als eine Gesellschaft ohne Markt und Staat entworfen, sondern als eine Gesellschaft, die fähig ist, den Markt so zu lenken, dass die Zerstörung der Menschenwelt aufgehalten und vermieden wird. Die Alternative besteht also jetzt in der Qualifikation, immer wieder systematisch in den Markt einzugreifen. Solche Interventionen werden durch eine Demokratie legitimiert, in der alle über das freie Wahlrecht verfügen. Aber deshalb verlieren die Vorstellungen von einer völlig anderen Welt keineswegs ihre Bedeutung. Sie werden jedoch als transzendentale Vorstellungen verstanden, die den Weg weisen und es möglich machen, die Verwirklichungsbedingungen kritisch zu beurteilen. So entsteht der Weg im Gehen.
Durch diese Vorstellung von einer emanzipatorischen Praxis, die sich auf die gesamte Gesellschaft bezieht, konnte nach dem II. Weltkrieg die Befreiungstheologie zuerst in Lateinamerika entstehen.
Schlussfolgerung
Aus unserem Reflexionsgang ergibt sich, dass selbst das Denken einer profanen Welt notwendigerweise eine Theologie hervorbringt, auch wenn es sich dessen nicht bewusst ist und dergleichen auch nicht intendiert. Dieses Denken schafft eine konfliktive Theologie. Das System entwickelt eine vollständig idolatrische Theologie, deren einziger Zweck darin besteht, den Markt, und folglich auch das Geld und das Kapital zu sakralisieren. Im Gegensatz dazu entsteht die Kritik dieser Idolatrie; sie geht ebenfalls von der profanen Welt aus. Das Faktum der profanen Welt gehört zu den bedeutsamen Entdeckungen der Moderne von Anfang an.
Durch diese Theologie werden die Theologien der traditionellen Religionen ständig herausgefordert. Wir haben unsere Überlegungen mit einem Zitat aus dem ersten Dokument von Santa Fe begonnen, das auf der Basis dieser profanen Theologie bestimmt, was die christliche Theologie sagen darf, damit seine Orthodoxie vom System und seinen weltlichen Repräsentanten nicht in Frage gestellt wird.
Wenn die christliche Theologie jedoch dieses vom System erlassene inquisitorische Kriterium akzeptiert, erhebt sich die Idolatrie- und die Fetischismuskritik. Auch sie fällt ihr Urteil auf der Basis der profanen Welt und erklärt den gesamten Glauben, der sich der Beurteilung durch das System unterwirft, sei er nun der Glaube des Systems oder der der christlichen Theologie, für eine einzige Idolatrie. Die Hauptthese der Idolatrie- und Fetischismuskritik lautet stets: Das höchste Wesen für den Menschen ist der Mensch. Für dieses Menschenbild in einer profanen Welt gilt immer die Überzeugung: Gott ist Mensch geworden. Einen anderen Humanismus gibt es nicht. Daran erkennt man, dass diese Theologie der profanen Welt sich nicht um die Frage dreht, ob Gott existiert oder nicht. Eine solche Theologie ist gültig, unabhängig von der Antwort, die wir auf diese Frage geben. Das bedeutet auch: unabhängig von dieser Antwort hat das Leben Sinn. Der Sinn des Lebens besteht darin, es mit anderen Menschen und anderen Lebewesen zu leben.
Einer solchen theologischen Debatte innerhalb der säkularen, profanen Welt kann man nicht aus dem Weg gehen. Selbst bei dem Versuch, ihr auszuweichen, bleibt man ihr verhaftet, wenn auch auf unangemessene Weise.
Das bisher Gesagte führt uns zur Analyse einer Ethik des Zusammenlebens. Ich fand im “Tao Te King” des Lao Tse folgende Feststellung:
“Eine gut geschlossene Tür ist nicht jene, die viele Schlösser hat, sondern es ist eine Tür, die man nicht öffnen kann.”10
Lao Tse formuliert hier ein Paradox. Eine Tür, die man nicht öffnen kann, ist keine Tür mehr. Diese Feststellung kann man erweitern: Um ein sicheres Haus zu haben, genügt es nicht, viele Schlösser zu besitzen. Ständig werden neue Schlösser entwickelt, aber diejenigen, die sie entwickeln, verwandeln sich in Diebe, die wissen, wie man auch die raffiniertesten Schlösser öffnen kann. Daher gilt: Ein sicheres Haus ist ein Haus, das weder Türen noch Fenster hat. Hat das Haus aber weder Türen noch Fenster, ist das Haus zwar sicher, aber es ist kein Haus mehr.
Wir könnten Lao Tse fragen: Gibt es also kein sicheres Haus? Aus den anderen Weisheiten von Lao Tse und Tsuan Tsu, dem grossen taoistischen Philosophen, der wahrscheinlich rund 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung lebte, könnten wir schließen, dass Laotse uns antworten würde: Doch, es gibt ein sicheres Haus. Das sichere Haus hat Fenster und Türen, aber es braucht nicht einmal Schlösser. Es ist sicher, weil seine Bewohner mit den Bewohnern der benachbarten Häuser harmonisch zusammenleben. Um diese Ethik des Zusammenlebens geht es.
Ohne diese Ethik des Zusammenlebens ist nichts sicher. Nicht einmal die Türme von New York waren sicher. Aber die Rationalität unserer Gesellschaft ist - um im Bild zu bleiben - darauf angelegt, stets wieder neu durch den Einbau von immer sichereren Schlössern zu reagieren, also realpolitisch gesprochen: durch antiterroristische Kriege und Eroberungsfeldzüge. Die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen wollen stets diejenigen vernichten, die unsere Welt unsicher machen; sie merken nicht einmal mehr , dass sie selbst es sind, die die Welt besonders unsicher machen. Ihnen fällt nicht einmal ein, an eine Ethik des Zusammenlebens zu denken. Sie erkennen diesen Mangel nicht, weil sie nur das kalkulierbar Nützliche sehen können (das Nützliche gemäß ihrem Nutzenkriterium). Das Unverzichtbare aber nutzlos.
Auch die Vorstellung eines vollkommenen Zusammenlebens ist eine transzendentale Vorstellung und daher etwas, das nicht durch lineare Annäherung zu verwirklichen ist. Aber sie ist keine instrumentale Perfektionsvorstellung nach Art der metaphysischen Konstruktionen von idealen Funktionsmechanismen. Die transzendentale Vorstellung des vollkommenen Zusammenlebens ist vielmehr notwendig, um diesen metaphysischen Konstruktionen entgegenzutreten und sie in ihre eigenen Schranken zu verweisen, ihnen also eine sekundäre Bedeutung zu geben. Die transzendentale Vorstellung eines vollkommenen Zusammenlebens orientiert die Wirklichkeitserkenntnis, aber determiniert sie nicht. Die metaphysischen Konstruktionen hingegen konstituieren Hilfswissenschaften für die Wirklichkeitserkenntnis, erkennen jedoch die Wirklichkeit selbst nicht, sondern nur Empirie.
Vorstellungen vom gelingenden Zusammenleben scheint es in allen menschlichen Kulturen zu geben. In unserer westlichen Kultur sind es Vorstellungen wie das messianische Reich, das Reich Gottes, die Anarchie oder der Kommunismus.
Übersetzung aus dem Spanischen: Norbert Arntz
1Originaltitel des mir vorliegenden Manuskripts: "Capitalism as religion and religious pluralism: an approach from Liberation Theology"
2Franz J. Hinkelammert: La teología de la liberación en el contexto económico-social de América Latina: economía y teología o la irracionalidad de lo racionalizado. Publicado en la Revista Pasos Nro.: 57-Segunda Época 1995: Enero - Febrero
dt. Fassung: Franz J Hinkelammert. Über den Markt zum Reich Gottes. In: Orientierung, 60. Jg., 1996, Nr. 9 u. 10
3Benjamin sagt in seinem Fragment: "Kapitalismus als Religion": “Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos, das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, dass ihr Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird vor einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife." ( W. Benjamin: Kairos. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Nr. 1842, S. 111) Hier verweist Benjamin auf die Sakralisierung von Markt, Geld und Kapital.
4 Einstein und Infeld synthetisieren dies mit Hilfe eines Beispiels aus der klassischen Physik: Galilei kommt zu seinen Schlussfolgerungen in der Physik "allerdings nur, wenn man von einem Idealversuch ausgeht, der sich jedoch niemals tatsächlich durchführen lässt, da es eben in der Praxis unmöglich ist, alle äusseren Einflüsse auszuschalten. Dieses idealisierte Experiment liefert den Anhaltspunkt, der die Grundlage für die Mechanik der Bewegung, die Dynamik bilden sollte.” (Albert instein und Leopold Infeld, Die Evolution der Physik. C.A. Koch’s Verlag Nachf., Berlin o.J., S. 17,18 (Hervorhebungen von uns).
Die korrekte Schlussfolgerung Galileis formulierte eine Generation später Newton, unter der Bezeichnung des Trägheitsgesetzes...
|“Soeben haben wir erkannt, dass das Trägheitsgesetz nicht unmittelbar aus der Erfahrung abgeleitet werden kann, sondern nur vermittelt durch eine Spekulation des Denkens, die mit der Beobachtung übereinstimmt. Das ideale Experiment lässt sich niemals durchführen, aber es führt uns zu einem vertieften Verständnis der realen Experimente". S. 14/15 Faktisch kommt Einstein zu dem Ergebnis, dass es ohne diese Metaphysik der perfekten Funktionsmechanismen keine moderne empirische Wissenschaft geben kann.
Das ideale Experiment ist der Kern dieser Metaphysik und wie in der Physik gewinnt es auch Bedeutung in der Wirtschaftstheorie. Aber die empirischen Wissenschaften haben nahezu keine Überlegungen darüber angestellt, wie sie ihre Metaphysik produzieren. siehe auch Hinkelammert, Franz: Kritik der utopischen Vernunft - Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschaftstheorie. Exodus-Grünewald 1994 s. ebenfals: Albert Einstein: Bemerkungen zu Bertand Russells Erkenntnistheorie, in: Schilpp P. A. (org.), The Philosophy of Bertrand Russell, La Salle III, 4a. ed,1971, p. 278-290.
6 Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie.Vorrede. Marx Engels Werke. Ergänzungsband. Erster Band. S. 262
8 Die Bezugnahme auf den Thermidor hat mit der französischen Revolution zu tun. Marx sprach vom Thermidor, als er sich auf die Machtübernahme zunächst des Direktoriums und dann des Kaisers Napoleon bezog. Für Marx symbolisiert der Begriff den Umbruch der französischen Revolution in ihr Gegenteil, d. h. die Revolution des Volkes wird zu einer ausschließlich bürgerlichen Revolution. Trotzki sprach in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts davon, dass Stalin der Thermidor der russischen Revolution sei; wieder einmal wurde aus einer Revolution des Volkes eine Revolution der Bürokratie gemacht. Zur gleichen Zeit publiziert Crane Brinton ein Buch, in dem er den Begriff Thermidor auf verschiedene Revolutionen im Okzident anwendet, auf die englische, die französische bis zur russischen Revolution (Brinton, Crane - The anatomy of revolution. Vintage Books, New York 1965 letzte Edition) Ich verwende diesen Begriff in einem noch umfassenderen Sinn, indem ich vom Thermidor des Christentums spreche, den ich zwischen dem ursprünglichen Christentum, also dem des I. Jahrhunderts, und seiner Verwandlung in das imperiale Christentums des III. und IV. Jahrhunderts ansiedle. Das erstgenannte ist das rebellische Christentums des einfachen Volkes, das andere ein Christentum, das sich mehr und mehr der Logik des Imperiums unterwirft, zunächst der des römischen Imperiums, später der des mittelalterlichen Imperiums; aber auch in der Moderne behält es viele Charakterzüge dieser Logik bei. Zwischen den Thermidoren der Moderne und dem Thermidor des Christentums lassen sich viele Ähnlichkeiten, ja sogar Verwandtschaftsbeziehungen feststellen.
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