Der italienische Philosoph Giorgio Agamben behauptete kürzlich in einem Interview. "Gott ist nicht tot! Gott mutierte zum Geld!"[1]. Diese These hat zuerst Karl Marx formuliert, als er sie in die Debatte über die politische Ökonomie seiner Zeit einbrachte. Marx zitierte Christoph Kolumbus mit den Worten:

"Gold ist ein wunderbares Ding! Wer dasselbe besitzt, ist Herr von allem, was er wünscht. Durch Gold kann man sogar Seelen in das Paradies gelangen lassen."[2]

 

Auch die Indígenas hatten während der Conquista erkannt: Das Gold ist der Gott der Christen! Und in der Tat, sie haben sich nicht getäuscht.[3]

 

Später übernahm Walter Benjamin in seinem Fragment "Kapitalismus als Religion"[4] diese Position und entfachte damit eine Debatte, an der sich auch Agamben mit dem anfangs zitierten Interview beteiligte. Die gleiche These lässt sich, wenn auch etwas distanzierter, bei Max Weber finden, wenn er behauptet: „Die alten Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern." Das Geld ist zweifellos eine der wichtigsten dieser unpersönlichen Mächte. Zuletzt war es Papst Franziskus, der vom Götzendienst des Geldes und der Vergöttlichung des Marktes gesprochen hat.

 

Die Religionskritik

Gegen die Fetischisierung, gegen die Sakralisierung des Marktes steht die Kritik auf. Den klassischen Text einer solchen Kritik finden wir bei Karl Marx, und zwar in seinem Artikel "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung"[5]:

 

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

 

Vorher bereits, in der Vorrede zu seiner Dissertation von 1841, hatte Marx gesagt, dass die “Philosophie”(hier schon als kritische Theorie zu verstehen) ihren “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter (setzt), die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen”.[6]

 

Hier wird das "menschliche Selbstbewusstsein" als "oberste Gottheit" bezeichnet, und zwar im Gegenüber zu allen "himmlischen und irdischen Göttern".

 

Im Deutschen bedeutet Bewusstsein "bewusstes Sein". Darauf besteht Marx viele Male. Zum Beispiel, wenn er sagt: “Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.”[7]

 

Selbstbewusstsein ist also zu verstehen als das Bewusstsein des Menschen von sich selbst, das er von sich im Lauf des realen Lebens gewinnt. Eben dieses Selbstbewusstsein wird nun zum Kriterium, mit dessen Hilfe man die Götter unterscheiden kann: Es formuliert das Urteil gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die nicht anerkennen, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist.

 

Mit diesem Urteil geht Marx über Feuerbach hinaus. Feuerbach kennt nur die himmlischen, aber keine irdischen Götter. Er lehnt die Existenz der himmlischen Götter ab. Marx akzeptiert diese Kritik, aber insistiert darauf, dass es in Wahrheit die irdischen Götter sind, mit denen man sich konfrontieren muss. Mit diesen Göttern machen wir konkrete Erfahrungen. Marx stimmt Feuerbach zu mit der These, dass wir alle durch den Feuer-Bach hindurchmüssen, aber nicht darin stecken bleiben dürfen, um uns nicht zu verbrennen. Denn die irdischen Götter sind keine Produkte der Phantasie, wie es die transzendenten Götter waren und sind, sondern existieren real, wirken sich in der irdischen Wirklichkeit aus, werden real von uns erfahren, üben Einfluss auf uns aus.

 

Weder der Markt, noch das Kapital, weder der Staat noch irgendeine andere Institution oder das Gesetz sind höchste Wesen für den Menschen. Der Mensch selbst ist allein das höchste Wesen für den Menschen. Folglich sind all jene falsche Götter, Idole, Fetische, die den Markt, das Kapital, den Staat, irgendeine Institution oder das Gesetz zum höchsten Wesen für den Menschen erklären. Nur jener Gott kann kein falscher Gott sein, für den das höchste Wesen für den Menschen der Mensch selbst ist. Das hat der Befreiungstheologe Juan Luis Segundo ausdrücklich festgestellt.

 

An die Stelle der Sakralisierung des Marktes oder des Gesetzes bzw. irgendeiner anderen Institution tritt die Sakralisierung des Menschen als Subjekt für jegliches Gesetz und jegliche Institution. Die Sakralisierung des Menschen führt zur Erklärung der unantastbaren Würde des Menschen, die heutzutage von den ihrer Würde Beraubten in aller Welt reklamiert wird. Die Erklärung der Menschenwürde macht es erforderlich, immer wieder und systematisch in den Markt, in den Bereich des Gesetzes und in die Institutionen einzugreifen, sobald die Würde des Menschen verletzt wird. Politik also hat die Pflicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu humanisieren und nicht zu kommerzialisieren. Das bezieht zugleich die Humanisierung der Natur mit ein und setzt folglich voraus, dass auch die Natur als Subjekt respektiert wird. In andiner Sprache würde man sagen: es geht um die Anerkennung der Natur als "Pachamama" - als "Mutter Erde".

 

Die Erklärung der Menschenwürde ist zugleich die Erklärung von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit aller Menschen. Marx denunzierte die Gegenposition spöttisch als fetischistisch bzw. idolatrisch: "Freiheit, Gleichheit, Eigenthum und Bentham"[8]. Bentham steht hier für den Kalkül des individuellen Nutzens bzw. den Verzicht auf jegliche Geschwisterlichkeit unter den Menschen zugunsten einer unsichtbaren Hand, die  - jeglicher realen Erfahrung widersprechend - zum Subjekt der Nächstenliebe und der Geschwisterlichkeit erklärt wird. Die menschliche Rationalität wird der Magie des Marktes ausgeliefert.

 

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte vor einigen Monaten, dass die Demokratie marktkonform zu sein habe. Für sie ist folglich der Markt das höchste Wesen für den Menschen. Eine solche Einstellung lässt sich ganz leicht auf andere Institutionen übertragen: Auch auf Geld und Kapital bzw. auf den Staat als Stütze für all diese Institutionen. In einem Leserbrief stellte jemand die Frage: Warum ist es nicht umgekehrt? Müsste nicht der Markt demokratiekonform sein? Darauf gab es keine Antwort. In der Tat leben wir in einer Welt, die den Markt als höchstes Wesen für den Menschen betrachtet. Wenn wir die oben angeführten Kriterien zur Anwendung bringen, müssen wir sagen, der Markt ist der falsche Gott unserer Gesellschaft. Aber die herrschende Meinung hält den Markt immer noch für das höchste Wesen für den Menschen.

 

Der Markt als höchstes Wesen für den Menschen macht aus der gesamten Ökonomie eine einzige Maschine zur Kapitalakkumulation, die nur dazu dient, das wirtschaftliche Wachstum zu maximieren. Der Markt spielt die entscheidende Rolle als höchstes Wesen für den Menschen und als Wertmaßstab für jede Lebensäußerung, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in sozialer und kultureller Hinsicht.

 

 

Das Kriterium zur Unterscheidung der Götter - der Mensch als höchstes Wesen für den Mensch - ist auch das Urteil, das von der Analyse der Realität aus über die Religionen gefällt wird. Während die Erklärung von Santa Fe fordert, dass jede Religion die Grenze zu respektieren hat,nichts "gegen das Privateigentum und den produktiven Kapitalismus" und folglich nichts gegen die Geltung der unsichtbaren Hand zu unternehmen, fordert dieses Kriterium zur Unterscheidung der Götter von eben diesen Religionen, dass sie dem Menschen als höchstes Wesen den Vorrang geben vor "dem Privateigentum und dem produktiven Kapitalismus" und damit vor der unsichtbaren Hand. Alles andere ist nach diesem Kriterium Idolatrie, Fetischismus. Die Erklärung von Santa Fe dagegen erklärt natürlich den Markt zum höchsten Wesen für den Menschen.

 

Daraus ergibt sich, dass eine säkulare Instanz von sich aus eine Art Religion, ja sogar eine Art Theologie und Metaphysik entwickelt, die auf keinerlei Offenbarung zurückzuführen und von jeglicher Kirche unabhängig sind. Aber es geht nicht nur um eine einzige Religion oder Theologie. Vielmehr ergeben sich zwei gegensätzliche Religionen und zwei gegensätzliche Theologien. Das bringt die Analyse der Realität selbst an den Tag. Im Namen des Realismus verlangt man den traditionellen Religionen ab, die entsprechende Analyse und die daraus abgeleiteten Folgerungen als Richtschnur für ihre eigene Theologie zu übernehmen, nämlich Privateigentum und produktiven Kapitalismus zu respektieren. Wenn man jedoch die Menschenwürde als oberstes Kriterium für die Realität und für die Religionen vertritt, dann lässt sich der Konflikt zwischen den beiden Positionen, jener der Sakralisierung von Institutionen bzw. Gesetzen und jener der Sakralisierung des Menschen, nicht leugnen.

 

Folglich wird nun erkennbar, dass die Moderne selbst eine säkulare, ja sogar profane Theologie hervorgebracht hat. Das ließ sich bereits im 18. Jahrhundert erahnen, als Rousseau die "Zivilreligion" ins Gespräch brachte. Diese hat mit den vorhergehenden traditionellen Theologien insofern zu tun, als es sich um deren Transformation in eine Theologie zur Sakralisierung des Marktes handelt.

 

Dieser Religion begegnet man auf der Straße. Marx sprach von ihr als der "Alltagsreligion". Sie verehrt falsche Götter, die aber keine transzendenten, sondern irdische Götter sind. Nahezu die gesamte Gesellschaft steht auf Seiten des Gottes Markt. Mit diesem und den anderen irdischen Göttern ist zu streiten um den Vorrang des Menschen. Alle, für die der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, bestreiten den göttlichen Nimbus der falschen irdischen Götter.

 

 

Seinerzeit hatte Max Weber diese irdischen Götter bereits bemerkt. In seinem Vortrag "Wissenschaft als Beruf" aus dem Jahre 1918 stellte er fest:

 

"Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." [9]

 

Ähnlich wie Marx und ihm folgend bemerkt Weber die irdischen Götter äußerst realistisch. Aber er kapituliert vor ihnen. Unüberprüft gibt er es auf, die Götter zu unterscheiden, und weicht auf Grund seines bekannten Fatalismus weiteren kritischen Fragen aus. Er sieht über den Menschen hinweg, für den der Mensch das höchste Wesen ist. Ja, er bringt ihn zugunsten einer falschen Wissenschaftlichkeit zum Verschwinden. Er engagiert sich für eine Wissenschaftlichkeit, die mit der Würde des Menschen unvereinbar ist.

 

Marx dagegen arbeitet - ausgehend von seiner These, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist - an einer Unterscheidung der Götter. Weber weicht scheinbar einer Festlegung aus, legt sich aber indirekt doch fest, und zwar indem er behauptet, die menschliche Vernunft könne zwischen den Göttern nicht unterscheiden. Indem er also der Vernunft die Möglichkeit abspricht, Alternativen zu denken geschweige denn zu postulieren, bestätigt er die existierende kapitalistische Gesellschaft. Was des einen Gott, ist des anderen Teufel und umgekehrt.

 

Der humane Denker ist Marx, nicht Weber.

 

Marx jedoch hält diese Götter für real existierend, und zwar in dem Sinne, dass man ihre Wirkmacht erfährt. Aber er fügt hinzu, dass diese Götter menschengemacht sind. Indem der Mensch Staat und Warenbeziehungen entwickelt, schafft er zugleich die Möglichkeit, dass daraus Götter werden. Diese verfügen zwar nicht über ein eigenständiges Leben, werden aber lebensfähig dadurch, dass sie den Menschen das Leben nehmen. Sie sind also in einem bestimmten Sinne "menschengemacht": Der Mensch produziert sie "hinter seinem Rücken", das heißt, er produziert sie, ohne es zu wollen, nicht intentional. Folglich haben die Menschen selbst jene Kräfte gemacht, die als irdische Götter bezeichnet und verehrt werden. In der Lage, in der die Menschen sich befinden, können sie es gar nicht vermeiden, solche Kräfte hervorzubringen. Bis zu einem gewissen Grade können sie sich zwar von Markt und Staat frei machen. Aber der Versuch des historischen Sozialismus, Markt und Staat zu beseitigen, ist auf der ganzen Linie gescheitert. Im Gegensatz zu den Erwartungen von Karl Marx befinden sich diese falschen irdischen Götter in einem ewigen Kampf gegen jenen Menschen, der den Menschen als das höchste Wesen für den Menschen anerkennt. Diese Götter kämpfen darum, den Menschen ihrer Wirkmacht derart zu unterwerfen, dass er sich effektiv nicht mehr daraus befreien kann. Zwar kann sich der Mensch immer mal wieder von ihnen frei machen, aber ebenso kann er seine Befreiung stets wieder verlieren. Dieser Vorgang hat etwas Diabolisches an sich, obwohl er nicht von einem diabolischen Wesen bewirkt wird.

 

Keine Gesellschaft kann sich organisieren, ohne zu definieren, wer oder was das höchste Wesen ist. Weil Max Weber also die kapitalistische Gesellschaft zum Non-plus-ultra der Menschheitsgeschichte erklärt, muss er folglich den Markt zum höchsten Wesen für den Menschen machen. Das verschleiert er jedoch hinter der These von der Neutralität der Wissenschaft, insbesondere der Sozial- und Wirtschaftswissenschaft. Das betreibt heutzutage der Neoliberalismus in einer bisher nicht bekannten extremen Form.  Er will sich alles, was dem Markt noch nicht unterworfen ist, einverleiben und reduziert den Menschen zum "Humankapital". Um das zu erreichen,  verwandelt er den Begriff vom höchsten Wesen in das bisher unbekannte magische Verständnis eines von einer unsichtbaren Hand selbst regulierten Marktes, der die elende Dialektik bürgerlichen Denkens generiert: Der Markt ist das höchste Wesen für den Menschen. Tag und Nacht wiederholen unsere Kommunikationsmedien und die weitaus größte Mehrheit unserer Wirtschaftswissenschaftler pausenlos diesen Unsinn. Indem sie den Menschen zum "Humankapital" erniedrigen, stellen sie ihre Menschenverachtung zur Schau. Das betreiben sie nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selbst. Sie universalisieren den Menschenhass: alle werden gleichermaßen geringgeachtet, Frauen und Männer, Schwarze und Weiße, und am Ende verachte ich mich, wie ich die anderen verachte. Die Menschen unterscheidet nur noch die Geldsumme, über die jeder einzelne verfügt. Das Ganze wird zu einer Art religiösem Ritus, der ausschließlich jenen die Macht verleiht, die den Götzen Geld allen anderen gegenüber repräsentieren.

 

Das Wahrheitskriterium gegenüber den irdischen Göttern

 

Jetzt können wir die Praxis des Menschen ins Zentrum der Analyse rücken, weil wir die Kritik an den falschen irdischen Göttern nicht auf irgendeinen Gott bauen, der kein falscher Gott und folglich der wahre Gott wäre Wir setzen also nicht auf einen angeblich wahren Gott, der gegen die falschen Götter in den Kampf zieht. Wir setzen vielmehr - zusammen mit Marx - auf den Menschen und die Menschenrechte. Die falschen Götter leugnen die Menschenwürde. Deshalb zielt die Kritik darauf, eine menschliche Praxis zu fordern, die befreiende und emanzipierende Wirkungen hat. Damit rückt der Mensch ins Zentrum der Gesellschaft und bemisst die gesamte Gesellschaft nach den Kriterien seiner eigenen Würde. Und insofern der Mensch ein Naturwesen ist, kann die Würde des Menschen nur gesichert werden, wenn zugleich die Würde der gesamten Natur, also der gesamten Welt, gesichert ist.

 

In dieser Kritik-Arbeit kann nur ein solcher Gott kein falscher Gott sein, dessen Wille darin besteht, dass der Mensch das Zentrum der Welt bildet. Jeglicher andere Gott wäre ein falscher Gott. Wir haben bereits den Satz zitiert, mit dem Karl Marx sagt, dass die “Philosophie” ihren “Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter (setzt), die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen”.[10]

 

Dieses Selbstbewusstsein nennt er später "den Menschen als das höchste Wesen für den Menschen". Das heißt, alle Götter, die den Menschen nicht als höchstes Wesen für den Menschen anerkennen, sind falsche Götter. Zu Göttern, die den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen anerkennen, äußert Marx sich nicht. Er lässt zwar einen Platz für sie durchblicken, aber lässt ihn leer.

 

Es ist folgerichtig, dass er diese Stelle – diesen leeren Platz - offen lässt. Wir wissen nicht, ob Marx sich über diesen Punkt im Klaren war. Selbst wenn es so gewesen sein sollte, hat es ihn offenkundig nicht interessiert, selbst diese mögliche Folgerung aus seiner eigenen Religionskritik zu ziehen. Aber Marx hat diese Grundstruktur seiner Religionskritik, die wir als eine profane Theologie interpretieren können, nie aufgekündigt. Kein Theologe hat diese profane Theologie entworfen. Sie ergibt sich vielmehr als kritische Folgerung aus den Gesellschaftswissenschaften, sobald sie die Religionskritik ernst nehmen.

 

Marx entwickelt den Kerngedanken seiner profanen Theologie in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Nachdem er den Kerngedanken formuliert hatte, erweitert er das Feld seiner Kritik und konzentriert sich immer stärker auf das, was er als Kritik der politischen Ökonomie bezeichnet. Das war notwendig, um eine Praxis entwerfen zu können, die dem in der Grundstruktur bereits beschriebenen Humanismus entsprach. Er kündigt jedoch niemals diese Struktur profaner Theologie auf, sondern fügt sie in das Feld der Sozialwissenschaften ein. Das erlaubt ihm, ein theoretisches Instrumentarium für eine transformative Praxis zu entwickeln.  Richtungweisend formuliert er, was er als kategorischen Imperativ bezeichnet: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[11] Ihm ist klar, dass diese Praxis die Fortsetzung der Religionskritik an den irdischen Göttern der kapitalistischen Gesellschaft verlangt und dass ohne diese Religionskritik diese Praxis nicht möglich ist. Die Religionskritik ist deshalb nicht an ihr Ende gekommen, weil die kritisierte Religion, nämlich der Kapitalismus als Religion, wie Walter Benjamin es später formulieren wird, nicht überwunden ist.

 

Die falschen Götter, in deren Namen Menschen erniedrigt, geknechtet, verlassen und verachtet werden, sind immer noch wirkmächtig. Diese Götter generieren die kapitalistische Gesellschaft. Sie diktieren ethische Normen, deren höchste Norm darin besteht, den anderen nach allen Regeln der Kunst auszubeuten, aber natürlich im Namen und mit Hilfe der Mechanismen und der Ethik des Marktes. Diese profane Theologie hat auch ihre Heiligtümer, in denen sich der Kult für die Götter des Marktes konzentriert: Banken, multinationale Konzerne, viele Kirchenräume. Aber überall pflegt man die gleichen Rituale, weil die Götter des Marktes sie diktieren. Hier pflegt man auch Schulung für die Marktethik: Kanzler Helmut Schmidt hielt immer wieder Vorträge über die Tugenden und Laster des Marktes. Sie wurden zu besonders wichtigen Referenzpunkten für die Ethik. Die Schulung verfügt sogar über eine ausformulierte Theologie, die Theologie der unsichtbaren Hand des Marktes. Den Markttheoretikern zufolge handelt es sich dabei um eine magische Kraft, die das perfekte Funktionieren des Marktes dadurch sichert, dass sie die Selbstkorrektur und Selbstregulierung des Marktes steuert. Dieser magische Vorgang wiederum sichere die besten Resultate, die keine Intervention in die Märkte je erreichen, geschweige denn übertreffen könnte. Der Markt selbst wird zur magischen Instanz.

 

Sobald Marx sich jedoch der Kritik der politischen Ökonomie widmet, führt er neue Begriffe für die Pole seiner profanen Theologie ein. Er spricht nicht mehr von falschen irdischen Göttern, sondern von Fetischen und bezeichnet den entsprechenden Kult als Fetischismus. Fetischismus ist also die aktive religiöse Verehrung von Fetischen. Auch die Formel für das Kriterium zur Beurteilung des fetischistischen Charakters und folglich des idolatrischen Charakters des Fetischismus formuliert er neu. Die Formel ist nun nicht mehr "der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen". Vielmehr wird die angestrebte Gesellschaft als Formel für das Kriterium verwendet: Es solle um eine Gesellschaft gehen, "worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist."[12] Man erkennt unmittelbar, dass die beiden Pole beibehalten werden, einerseits die falschen Götter, andererseits der Mensch und seine Humanisierung. Es geht um das Kriterium der Gleichheit unter den Menschen.

 

Marx hat die Formel nicht inhaltlich, sondern nur verbal verändert. Immer noch führt die Negierung des Menschen dazu, die Mechanismen von Märkten, Geld und Kapital zu Fetischen zu machen, also zu falschen Göttern. Immer noch bleibt der Mensch das höchste Wesen für den Menschen. Aber jetzt wird der Mensch Teil einer gesamtgesellschaftlichen Konzeption. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, eine gesellschaftliche Praxis zu entwerfen, ohne schon eine Art Regierungsprogramm zu beabsichtigen.

 

Später wählt Marx für dieses humane Prinzip, das seiner Kritik zu Grunde liegt, eine weitere Formel. Er fasst sie folgendermaßen zusammen: „Und gegenüber der alten Seekönigin erhebt sich drohend und drohender die junge Riesenrepublik. Acerba fata Romanos agunt / Scelusque fraternae necis.“ (Horaz – Ein schweres Geschick verfolgt die Römer, nämlich das Verbrechen des Brudermords.)[13]

 

Was Marx hier über das britische Imperium sagt - "die alte Seekönigin" -, lässt er auch für Rom gelten. Deshalb kann er das Urteil des Horaz, des römischen Dichters am Ende des I. Jahrhunderts n. Chr., über Rom zitieren,  um es unmittelbar auf das britische Imperium seiner eigenen Epoche anzuwenden. Heute ließe es sich auf die neue, alte Seekönigin übertragen, auf die USA.

 

Das Verdammungs-Urteil spricht sich die alte Seekönigin selbst. Ein Fluch lastet auf ihr, die Folge des Brudermords, der ihrer Macht zugrunde liegt. Und dieser Fluch verurteilt sie zu einem harten Schicksal. Solche Gedanken wecken andere Assoziationen wie die des Leviathan, des aus dem Meer aufsteigenden Monsters. Marx sieht, wie sich gegen die brudermörderische Macht "die junge Riesenrepublik" erhebt, jene Republik, die von unten aus der Zivilgesellschaft hervorgeht, sobald sich in ihr die Demokratie durchgesetzt hat.

 

Diese Erkenntnis stellt uns zugleich unsere Aufgabe heute vor Augen, wenn wir uns in der Bewegung gegen die heutige Globalisierungsstrategie engagieren. Es geht darum, die Demokratie zu reklamieren, die freie Meinungsäußerung zu reklamieren, die Kontrollmöglichkeiten zu reklamieren, mit Hilfe derer die Staatsbürger die Privatbürokratien der Transnationalen Konzerne unter ihre Kontrolle bringen, um die Wirtschaft wieder in den Dienst am Leben der Menschen und der gesamten Natur zurückzubringen. Es geht um die konkrete Realisierung des Gemeinwohls.

 

Durch sein Horaz-Zitat erinnert Marx uns daran, dass sich hinter dem Fetischismus ein Mord verbirgt, der Brudermord, der die Logik von Markt, Geld und Kapital durchzieht. Damit gliedert Marx sich in die alte jüdische Tradition ein, in der Kain seinen Bruder Abel erschlägt. Bereits in dieser Tradition ist Kain der Städtegründer und als solcher Brudermörder. Marx zitiert zwar Horaz, aber lässt zwischen den Zeilen durchblicken, dass er sich auf die Ermordung Abels durch Kain bezieht. In dieser alten jüdischen Tradition glaubt man, dass die Zivilisation - Kain ist Städtegründer - auf dem Brudermord gegründet ist. Dieses Verständnis bringt Marx gegen das britische Imperium zur Geltung. Heute würde er es auf die USA anwenden. Auf diese Weise findet er zu einer Konzeption, die sich auf eine grundlegende Transformation gründen muss, nämlich auf eine Zivilisation, die nicht auf dem Brudermord basiert. In diesem Zusammenhang besteht der Brudermord nicht allein in einem direkten Gewaltakt gegen einen Mitmenschen, sondern auch in der passiven oder billigenden Inkaufnahme des Sterbenlassens. In einem früheren Text hat Marx auch diese Art des Arrangements als Mord qualifiziert, wenn er Shakespeare`s "Kaufmann von Venedig" mit dem Satz zitiert: " Ihr nehmt mein Leben, wenn ihr die Mittel nehmt, wodurch ich lebe!"[14]

 

Marx gibt dem Horaz-Zitat einen hervorgehobenen Platz im "Kapital", und zwar am Ende des 13. Kapitels. Danach folgt nur noch das 14. Kapitel, das man eigentlich als Anhang zum "Kapital" bezeichnen muss. Marx beendet also mit dem Zitat als einer Art Synthese das gesamte Buch. Er hält den Brudermord für einen Fluch, der auf allen Imperien lastet.

 

Der jüdischen Tradition folgend denkt Marx die Menschheitsgeschichte von einem ersten Mord aus, und zwar vom Brudermord. Anders als Sigmund Freud, für den die Menschheitsgeschichte ebenfalls mit einem Mord beginnt. Aber für Freud ist es der Vatermord. Marx dagegen denkt die neue Gesellschaft, um die es ihm geht, als eine Gesellschaft, die nicht auf dem Brudermord beruht. So entwickelt er seine Idee von einem messianischen Reich, das er als Reich der Freiheit bezeichnet.  Diese Idee lebt heute fort in dem Aufruf: Eine andere Welt ist möglich. Freud denkt nicht in solchen Begriffen. Er imaginiert keine Gesellschaft, die eine Erlösung für die Menschen sein könnte, zumindest thematisiert er sie nicht. Wenn er sich in seinem Buch "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" mit der Analyse der jüdischen Tradition befasst, sucht er nach einem Vatermord, findet aber keinen. Er bezweifelt jedoch nicht seine Überzeugungen, sondern erfindet einfach einen Vatermord, indem er behauptet, das Volk habe Moses ermordet und dann den Mord verheimlicht. In den Psalmen und in den Propheten erkennt er einen Reflex des Vatermordes, der nicht anerkannt werde und deshalb auf diese Weise wiederkehre. Wenn Marx vom Brudermord ausgeht, gelangt er schließlich zu dem Schluss, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Für Freud ist das höchste Wesen der Vater, nicht der Mensch. In der jüdischen Tradition gibt es einen anderen Vater, den Abraham, der seinen Sohn Isaak nicht umbringt. Weil der Vater ihn nicht opfert, bringt auch Isaak den Vater nicht um. Einen solchen Vater kann Freud nicht akzeptieren[15] Wenn Freud demnach das Christentum analysiert, interpretiert er es als Religion des Sohnes, der vom Vater umgebracht wurde. Das kann er behaupten, solange er sich auf die amtliche Theologie beruft, der entsprechend Gott Vater seinen Sohn dazu sendet, sich zu opfern, indem er sich von Menschen umbringen lässt. Metaphorisch folgt daraus, dass der Sohn nach der Auferstehung den Vater umbringt und das Christentum als Religion des Sohnes begründet.

 

Auf diese Weise wird deutlich, dass Marx sein ganzes Leben hindurch den Humanismus weiter entfaltet, den er in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entworfen hatte. Marx ist Humanist und als Humanist ein Mensch der Praxis. Er forciert einen Humanismus der Praxis gegen einen Humanismus bloß schöner Worte, der in unserer Gesellschaft hoch im Kurs steht. Den angeblichen Bruch zwischen dem jungen Marx des Humanismus aus den 40er Jahren und dem späteren reifen Marx des strukturellen Denkens, den inbesondere Althusser konstruiert, gibt es gar nicht. Schon der junge Marx war ziemlich reif. Althusser geht sogar so weit, ausdrücklich zu behaupten, dass der Marxismus kein Humanismus sei. Aber die Veränderungen, die man bei Marx feststellt, haben nur damit zu tun, dass er die Praxis seines Humanismus weiter entwickelt. Dafür hatte er die Kritik der politischen Ökonomie zu erarbeiten. Aus eben diesem Grunde enthielt bereits der Humanismus der 40er Jahre in sich die Herausforderung, ihn als Humanismus der Praxis weiter zu entwickeln. Und dessen Analyse versucht aufzuzeigen, wie es auf Grund der Strukturen des Kapitalismus zum Brudermord kommt.

 

Die Religionskritik, die Marx betreibt, durchzieht also sein gesamtes Leben und Werk. Sie ist immer wieder Idolatriekritik und bezieht sich auf die falschen Götter, die der Kapitalismus schafft und stützt: nämlich auf den Fetischismus des Marktes, des Geldes und des Kapitals. Später, also im 20. Jahrhundert hätte Marx gewiss die Fetischismuskritik auf die Fetische von Staat und Wirtschaftswachstum erweitert. Diesen Fetischismus kann man im Kapitalismus wie im sowjetischen Sozialismus in vergleichbarer Gestalt vorfinden. Der sowjetische Sozialismus machte das Wirtschaftswachstum gar zum ökonomisch-eschatologischen Fetischismus[16]. Diesen eschatologischen Charakter hat jetzt auch der Kapitalismus angenommen, insofern er die Magie der unsichtbaren Hand einsetzt, um die empirische Realität so darzustellen, dass sie für ein grenzenloses, unendliches Wachstum bestimmt sei.

 

Daran erweist sich, dass Marx keineswegs ein dogmatischer Atheist ist.

Sein Grundproblem hat nichts zu tun mit dem Streit zwischen Atheismus und Theismus. Sein Grundproblem sind die falschen Götter, die mit dem Menschen in Konflikt stehen, der das höchste Wesen für den Menschen ist. Marx erkennt den entscheidenden Konflikt zwischen den falschen irdischen Göttern und der Würde des Menschen. Solcherart Religionskritik schließt jeden dogmatischen Atheismus aus. Ob man sich einen Gott vorstellen kann, für den der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, ist nicht sein Problem. Diese Frage lässt er offen. Damit lässt er zugleich den Platz dafür offen, dass irgendwann von irgendwem diese Frage behandelt wird. Aber hieran erkennt man klar, dass die Religionskritik von Marx einen erheblich Unterschied aufweist zu der Religionskritik, die Feuerbach formuliert, ja mehr noch: weit über diese hinausgeht. Bei Feuerbach werden die Götter zum Verschwinden gebracht, wenn man sich vorstellt, dass es sie nicht gibt. Feuerbachs Götter sind transzendent, gehören nicht zur konkreten Erfahrungswelt. Die Götter dagegen, die Marx kritisiert, sind irdische Götter; sie wirken in der irdischen Realität, selbst wenn man nicht an sie glaubt. Sie existieren weiter, selbst wenn Marx sie als falsche Götter, als Fetische entlarvt. Sie gehören zur konkreten Erfahrungswelt der Menschen. Solche Götter kennt Feuerbach nicht. Für Marx aber sind sie die einzigen Götter, die ihn überhaupt interessieren.

 

Deshalb ist für Marx die Frage völlig irrelevant, ob jemand Atheist ist oder nicht. Die Antwort auf diese Frage ist Privatsache. Die Frage aber, ob es irdische Götter gibt und ob sich der Mensch gegen sie definiert und ihnen Widerstand leistet, ist nach Marxens Überzeugung für die Menschheit eine Frage von Leben und Tod. Dass die Menschheit überleben kann, darf nicht zu einem technischen Problem reduziert werden. Die Lösung dieses Problems hängt davon ab, dass das Menschliche im Menschen den Vorrang gewinnt, "emanzipiert wird" und den falschen Göttern eine Niederlage bereitet.

 

Marx und Kant

 

Marx leitet aus seiner Erkenntnis, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, eine Forderung bzw. einen Imperativ her, den er als kategorischen Imperativ bezeichnet. Eindeutig spielt er damit auf Kant an, der als erster von einem kategorischen Imperativ gesprochen hatte. Aber der kategorische Imperativ von Karl Marx hat mit dem von Kant wenig gemein, stellt vielmehr eine Reaktion auf die Formel von Kant dar und steht sogar im Gegensatz zu ihr.

 

Die bekannteste Formulierung des kategorischen Imperativs bei Kant lautet:

 

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

 

Demnach bestimmen universale Normen den Kern der kantischen Ethik. Deshalb bezeichnet er sie als kategorischen Imperativ. Diese Normen sind in jeder Lage zu erfüllen, unabhängig von der Situation, in der sie Anwendung finden.

 

Marx jedoch deckt das Unrecht dieses Universalgesetzes auf, wenn man es als ein Gesetz versteht, das rigoros erfüllt werden muss. Ein solches Gesetz beherrscht unsere Märkte.  Diese verurteilen in Erfüllung des Gesetzes zum Tode und richten hin. Die Universalgesetze, die Kant herleitet, bilden nahezu insgesamt das, was Max Weber als Ethik des Marktes bezeichnet. Im Rahmen dieser Gesetze findet ein Kampf auf Leben und Tod statt, in dem die Verlierer tatsächlich ums Leben gebracht werden. So etwas erleben wir heute in Griechenland. Man treibt Schulden ein, auch wenn es menschliches Leben kostet. Eine solche Politik grenzt an Völkermord. Aber diese Art von Völkermord verletzt kein einziges Gesetz. Polizei und Gerichte kollaborieren beim Völkermord. Die öffentliche Meinung billigt bzw. verschweigt ihn. Marx entdeckt diese Art von Mord an nahezu allem, was er als Ausbeutung bezeichnet. Selbst wenn die Ausbeutung den Tod nach sich zieht, verletzt die Ausbeutung des anderen nahezu niemals ein Gesetz. Die Mörder erfüllen das Gesetz, die Ermordeten verletzen das Gesetz, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen. Die Mörder haben ein völlig ruhiges Gewissen und respektieren das Gesetz, weil sie ja nur tun, was das Gesetz befiehlt.

 

Marx reagiert auf diese Situation nicht mit dem, was Nietzsche als "Moralin" bezeichnet, sondern formuliert ein Argument, das Nietzsche ebenfalls verachten würde. Wie wir bereits feststellten, erklärt Marx in diesem Zusammenhang, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Er verurteilt die Verbrechen, die im Namen abstrakter Gesetze und von solchen Institutionen begangen werden, die sich auf diese Gesetze berufen. Das ist seine Reaktion auf die konkrete Lage. Marx reagiert auf die falschen Götter, die Fetische, die verlangen, dass menschliches Leben geopfert wird. Für Marx sind solche Institutionen, insbesondere aber der Markt, die dargestellt werden, als seien sie die höchsten Wesen für den Menschen, falsche Götter. Es kann keine Institution geben, die das höchste Wesen für den Menschen ist. Erst später bezeichnet Marx die falschen Götter als Fetische und analysiert sie in seinen verschiedenen Fetischismus-Theorien.

 

Aus der Erkenntnis, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, leitet Marx das her, was er - im Gegensatz zur kantischen Formel - als seinen kategorischen Imperativ postuliert. Nachdem er erklärt hat, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, endet diese Lehre "also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."[17]

 

Eine solche Aussage führt notwendig zum Konflikt mit jeder Form von Ausbeutung und Verachtung des Menschen. Heute beziehen wir hier eindeutig auch die äußere Natur des Menschen mit ein.

 

Zweifellos hält Marx die kantische Ethik für unvereinbar mit der Ethik der Humanisierung des Menschen, die jeglicher Politik der Transformation zugrunde liegen muss. Deshalb verdammt er die Ethik Kants nicht, sondern rückt sie an die zweite Stelle. Sobald die Ethik Kants mit der Humanisierung des Menschen in Konflikt gerät, muss sie außer Kraft gesetzt oder durch eine Art von Dekreten ergänzt werden, die die universale Gültigkeit der von Kant hergeleiteten Normen eingrenzen. Auf diese Weise kann man einen Raum schaffen, in dem sich die Vorrangstellung der Bedürfnisse des Menschen als eines körperlichen Wesens gegenüber dem Gesetz mit der Anwendung des Gesetzes im Sinne Kants miteinander vereinbaren lassen.

 

Mit solchen Überlegungen fügt sich Marx in die Tradition einer Gesetzeskritik ein, die in gewissem Grade im Laufe des Mittelalters entwickelt wurde. Zwei Formeln machen darauf aufmerksam:

 

“Fiat iustitia, pereat mundus” und  “Summa lex, maxima iniustitia”.

Hier gibt sich ein gewisses - noch unreflektiertes – Problembewusstsein zu erkennen.

 

Eindeutiger ist die Gesetzeskritik, die der Jesus der Evangelien in der Analyse der Schuldenbeziehungen praktiziert. Noch präziser finden wir sie bei Paulus von Tarsus. Aber erst Marx erkennt ihre Bedeutung für die Veränderung unserer Gesellschaft durch menschliche Praxis.

 

 

Idolatriekritik nach Papst Franziskus

 

Um das breite Spektrum heutiger Idolatriekritik darzulegen, möchte ich einen Typ analysieren, der von einer bestimmten Strömung der Befreiungstheologie vertreten wird, in die auch Kardinal Bergoglio in gewisser Weise einbezogen war. Ich will die Position des Papstes Franziskus auf dem Gebiet der Sozialethik darstellen und sie zu den Positionen von Marx in Beziehung setzen, die wir oben resümiert haben.

Soweit ich sehe, legt Franziskus seine eigenen Positionen in zwei unterschiedlichen Texten dar. Zum einen in einer Rede vor vier neuen Vatikan-Botschaftern, die er am 16. Mai 2013 hielt. Zum anderen in seinem Apostolischen Lehrschreiben Evangelii Gaudium vom 24. November 2013, insbesondere in den Abschnitten Nr. 51 - 60[18]. Zwischen beiden Texten gibt es eine weitgehende Übereinstimmung, jedoch mit einigen wichtigen Unterschieden. Einer dieser Unterschiede bezieht sich auf die Einführung, die Franziskus in der Nr. 53 von Evangelii Gaudium formuliert.

 

Die Ausgangslage

 

Die Einführung denunziert mit aller Entschiedenheit das gegenwärtige Wirtschaftssystem als mörderisch:

 

Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist un­glaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerie­ren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich al­les nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Mas­sen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg.
(Nr. 53)

 

Diese Art des Tötens wird in der jüdisch-christlichen Tradition in einem bestimmten Sinn als Mord bezeichnet. Auf diesen Gedanken stoßen wir bereits im alttestamentlichen Buch Jesus Sirach (34,26.27):

Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt, Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält. 

 

Im 16. Jahrhundert bekehrt sich Bartolomé de Las Casas vom Konquistador zum Unterstützer der Indígenas in Amerika, als er diesen Text liest und meditiert. Es geht ihm auf, dass Jesus Sirach das meint, was die Konquistadoren mit den Indígenas treiben. Deshalb verurteilt er sie als Mörder, als Brudermörder.

 

Ende des 16. Jahrhunderts greift Shakespeare diese Anklage auf und legt sie in seinem Drama "Der Kaufmann von Venedig" Shylock in den Mund, wenn er ihn sagen lässt:

 

"Ihr nehmt mein Leben, wenn ihr die Mittel nehmt, wodurch ich lebe"[19]

 

Marx zitiert diesen Text im "Kapital" und folgt damit der Tradition, jenes Handeln als Mord zu denunzieren, das passiv oder billigend in Kauf nimmt, dass Menschen durch das Wirtschaftssystem zu Tode kommen. Marx hält das für Brudermord.

 

Franziskus weiter:

 

Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht ge­kauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert.
(Nr. 54)

 

Franziskus erkennt hier eine simple Gleichgültigkeit, die zulässt, dass die schlimmsten Verbrechen und sogar Völkermord verübt werden, ohne dass auch nur die mindeste Reaktion spürbar wird.

 

In dieser Wirtschaft, die tötet, gibt es ein Element, das man hervorheben muss. Selbst wenn man einen wirtschaftlich-sozialen Völkermord herbeiführt, wird niemals der Vorwurf laut, hier habe man das Gesetz verletzt. Nicht einmal der Völkermord verletzt das Gesetz. Vom Standpunkt des Gesetzes aus handelt es sich nicht um Völkermord. Aber Paulus benennt genau diesen Punkt, wenn er in 1 Kor 15,56 schreibt:

 

Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde ist das Gesetz!

 

Wenn das Gesetz bestimmte Verbrechen in Schutz nimmt, dann wird es für Paulus zur Kraft auch für andere und noch schlimmere Verbrechen. Wir sind nicht darin geübt, dieses Problem überhaupt zu erkennen. Im Mittelalter aber war man bereits sensibel für dieses Problem, wenn man behauptete: Summa lex, maxima iniustitia. Ich will jedoch versuchen, das Problem mit Hilfe eines Satzes von Bertolt Brecht zu beleuchten. Er sagt in der Dreigroschenoper:

 

Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?[20]

 

Der Einbruch in eine Bank ist ein simpler Gesetzesbruch. Davor schützt das Gesetz. Die Gründung von Banken jedoch verleiht eine Macht, die möglicherweise schwere Verbrechen, ja sogar Völkermord begehen kann. Sogar Joseph Stieglitz, der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, sprach in diesem Zusammenhang von "finanziellen Massenvernichtungswaffen". Schlimmster Völkermord kann verübt werden und wird verübt, ohne dass auch nur ein Jota eines Gesetzes verletzt wurde. Der Rechtsstaat selbst verwandelt sich immer wieder einen Staat, der solche Verbrechen durch legale Mittel unterstützt. Er schützt uns nicht vor solchen Verbrechen.

 

Darauf macht Brecht aufmerksam. Und Brecht weiß, dass diese Überzeugung des Paulus auch mit der von Marx übereinstimmt. Marx gibt Paulus die Hand. Aber weder Christentum noch Marxismus entwickeln diese Problematik weiter. Im "Kapital" deutet Marx das Problem unter der Bezeichnung "Charaktermaske" an. Es ist aber in allen seinen Analysen gegenwärtig.

 

Die Aussage des Paulus über das Gesetz gilt selbstverständlich für jede Art von Gesetz. Paulus bezieht sich hier jedoch insbesondere sowohl auf das jüdische wie auf das römische Gesetz seiner Zeit. Paulus argumentiert mit dem Dekalog, und zwar vor allem mit dem zweiten Teil, vom 6. bis 10. Gebot. Wenn er im Römerbrief das Gesetz und seine Normen zitiert, erwähnt er stets diese und keine anderen Gebote. Aber in Römer 2,14-16 bezieht er sich auf ein Gesetz, das nicht nur im Dekalog, sondern auch in den Gesetzbüchern anderer Völker anzutreffen ist. Im hier erwähnten Fall geht es ihm um Gesetze, die auch im Römischen Gesetz zu finden sind. Die hier gemeinten Gesetze regeln den Austausch von Gütern und Menschen. In jedem Fall gilt, was Paulus feststellt: Das Gesetz ist die Kraft des Verbrechens. Das gilt heute wahrscheinlich noch mehr und weitaus schlimmer als zu Zeiten des Paulus.

 

Die wirtschaftlich-sozialen Verbrechen begeht man mit solcher Leichtigkeit, weil die entscheidenden Machtideologien diese Verbrechen hinter "unausweichlichen" Spardiktaten verstecken. Anerkannte Menschen wie Politiker verüben diese Verbrechen, fühlen sich aber schuldlos, weil sie legal sind. Sie lassen Köpfe rollen, aber ihre weißen Handschuhe sind nicht mit dem kleinsten Flecken Blut beschmutzt. Sie sind so sauber wie der Weltwährungsfonds, die Weltbank, die Europäische Zentralbank, oder wie die europäischen und besonders die amerikanischen Politiker. Mit ihren Entscheidungen fällen sie Urteile über Leben und Tod. Sie verurteilen Menschen zum Tode und richten die Verurteilten hin. Es geht hier nicht ums Sparen, sondern ums Töten. Hier werden ständig Verbrechen begangen, zum Beispiel heute in den Ländern Südeuropas - Griechenland, Italien, Spanien u.a. - wie in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in ganz Lateinamerika als Folge der damaligen Schuldenkrise. Aber diese Verbrechen werden nicht geahndet, weil sie kein Gesetz verletzen. Vielmehr gibt das Gesetz die Kraft, um diese Verbrechen begehen zu können. Als Hauptargument wird stets die Magie des Marktes zitiert, der sie die Bezeichnung "unsichtbare Hand" bzw. "Selbstregulierungskräfte des Marktes" geben. Das gesamte Argument ist Bestandteil der Idolatrie des Marktes ohne jegliche wissenschaftliche Seriosität.

 

Das Gesetz ist insofern die Kraft des Verbrechens, weil es erklärt, dass kein Verbrechen ist, was das Gesetz nicht als solches verurteilt. Deshalb sind Menschen mit einem sehr feinen moralischen Gewissen fähig, unglaubliche Verbrechen zu begehen, ohne überhaupt Gewissensprobleme zu verspüren. Sie verwenden vielmehr eine entsprechend lügnerische Sprache. Sie reden heute von Reformen, die nötig sind: Reformen des Gesundheitssystems, Reformen der Arbeitsgesetzgebung, Reformen des Bildungssystems, Reformen des Staates. Ein Großteil der früheren Reformen, die dem System durch Gewerkschafts- und Massenbewegungen aus dem einfachen Volk abgetrotzt worden waren, werden wieder abgeschafft. Diese Abschaffung bezeichnet man zynisch jetzt auch als Reform. Die Worte lösen das Problem. Man stellt sich nicht einmal mehr die einfachsten Fragen: Kann man ein öffentliches Gesundheitssystem teilweise oder ganz abschaffen, ohne viele Leute umzubringen? Nicht einmal wir selbst stellen uns diese Frage. In vielen anderen Bereichen wiederholt sich dasselbe Problem. Sie wissen nicht, was sie tun! Sie wollen es ja auch gar nicht wissen, damit sie weitermachen können, ohne mit ihrem moralischen Gewissen in Konflikt zu geraten. Das alte Testament bezeichnete diese Haltung als "Herzenshärte". Das neue Testament nennt sie die Sünde wider den heiligen Geist.

 

In Deutschland bezeichnen sich jene Parteien, die für diese Verbrechen, deren Kraft aus dem Gesetz stammt, die größte Verantwortung tragen, selbst als christlich. Ihr Christentum ist eine Gotteslästerung.

 

 

Die Idolatriekritik des Franziskus

 

Einerseits haben wir bis hierher die Situationsanalyse von Franziskus resümiert und andererseits unsere eigenen Reflexionen zur Lage daran angehängt. Von diesem Ausgangspunkt geht Papst Franziskus weiter zur Analyse der Gründe, die ihm wichtig erscheinen.

 

Er hebt hervor, dass die Leugnung des Primats des Menschen die Schaffung neuer Idole nach sich zieht.

 

Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vor­herrschaft über uns und über unsere Gesellschaf­ten. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Göt­zen geschaffen. Die Anbetung des antiken gol­denen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschli­ches Ziel.  (Nr. 55)

 

Die Götzen, die Franziskus hervorhebt, sind Markt und Geld. Weil sie erst ins Spiel kommen, nachdem man den Primat des Menschen geleugnet hat, sind sie Götzen. Sie wurden zu Fetischen, in deren Namen eine Wirtschaft ohne Gesicht durchgesetzt wird. Die Leugnung des Primats des Menschen macht Markt und Geld zu Götzen eines erbarmungslosen Fetischismus, der aus der Gesellschaft eine Wirtschaftsdiktatur macht, die ihr (menschliches) Antlitz verloren hat. Diese Diktatur ist inhuman:

 

Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden. (Nr. 56)

 

In diesem Götzendienst wird die Macht vergöttlicht, sie wird zur absoluten Regel. Alles Menschliche, auch die Natur ist ihr wehrlos ausgeliefert. Man beraubt den Menschen seiner Würde und liefert ihn den Mechanismen aus, die ihn ausbeuten und demütigen. Das führt wiederum dazu, dass diese Mechanismen göttlichen Rang gewinnen und der Vorrang des Menschen ruiniert wird. In der Nr. 56 spricht er sogar von einer "unsichtbaren Tyrannei", die aus der Wirtschaftsdiktatur ohne Gesicht hervorgeht.

 

Die Götzen, die den Menschen versklaven, müssen den Primat des Menschen wieder ins Recht setzen, dann erst werden sie keine Götzen mehr sein. Das stellt Franziskus kategorisch fest. Damit begibt er sich jedoch zugleich im Widerspruch zur Enzyklika Lumen fidei, die Ratzinger formuliert hat, auch wenn sie die Unterschrift von Franziskus tragen muss, um den Rang einer Enzyklika einzunehmen. Diese Unterschrift ist ein Akt der Höflichkeit. Die Enzyklika Lumen fidei behauptet:

 

Der Glaube ist, insofern er an die Umkehr gebunden ist, das Gegenteil des Götzendienstes und heißt, sich von den Götzen loszusagen, um zum lebendigen Gott zurückzukehren durch eine persönliche Begegnung.
(Nr. 13)

 

In Evangelii Gaudium dagegen sagt Franziskus, das Gegenteil des Götzendienstes ist nicht der lebendige Gott und auch nicht irgendein wahrer Gott im Gegensatz zu den falschen Göttern, sondern der Mensch. Der Mensch hat den Primat gegenüber den von Menschen gemachten und vergöttlichten (fetischisierten) Werken wie Markt, Geld und Kapital. Dieser Unterschied ist wesentlich. Die Enzyklika Lumen fidei behauptet, dass es um einen religiösen Konflikt zwischen falschen Göttern und dem wahren Gott geht. Dies war schon die Meinung derer, die als Eroberer Amerikas iom 16. Jahrhundert einen grossen Teil der einheimischen Bevölkerung ermordeten, um ihnen diesen wahren Gott zu bringen. Was sie hätten bringen müssen, ist gerade, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Das hätte diesen Völkermord sehr schwierig gemacht. In Evangelii Gaudium dagegen - ebenso wie bei Karl Marx - geht es um einen Konflikt zwischen den falschen Göttern und dem Primat des Menschen durch gerechte Beziehungen.

 

Vom Primat des Menschen aus arbeitet Franziskus an einem Humanismus der Praxis:

 

Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei (Nr. 56)

 

Franziskus erkennt die Problematik als eine Infragestellung des Gemeinwohls. Deshalb führt er zusammen mit dem Hinweis auf das Gemeinwohl an dieser Stelle seiner Analyse den Staat ein. Der Staat ist dazu beauftragt, im Markt und im Bereich des Geldes über das Gemeinwohl zu wachen. Franziskus lässt keinen Zweifel daran, dass das Gemeinwohl nicht geschützt werden kann, wenn der Staat nicht über ein System von Marktinterventionen verfügt, die Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen schaffen helfen und sichern. Ohne diese Ordnungsmacht und ohne Einhegung der Märkte lässt sich das Gerechtigkeitsproblem nicht lösen.

 

Franziskus analysiert das Gemeinwohl anders, als es für die katholische Soziallehre üblich ist. Die katholische Soziallehre beruft sich stets auf die aristotelisch-thomistische Tradition und leitet die Gesetze aus dem Naturrecht her. Diese Gesetze richten sich in erster Linie an die Autoritäten, weil sie es sind, die sie anzuwenden haben. Franziskus lässt diese Tradition jetzt beiseite und konzipiert das Gemeinwohl auf der Linie des Denkens, das die Emanzipationsbewegungen seit der Französischen Revolution im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute entwickelt haben. Hier geht es um die Rechte des menschlichen Subjekts, das auch zum Widerstand gegen Autoritäten legitimiert sein kann. Es geht um demokratische Rechte. Diese Form ist jetzt höchst wichtig, selbst wenn die Inhalte häufig dem entsprechen können, was das vormalige Naturrecht oder ähnliche Normen festlegten. Im 19. Jahrhundert ging es vornehmlich um die Emanzipation der Sklaven, der Frauen und der Arbeiter. Im 20. Jahrhundert setzt sich die Emanzipation als jene vom Kolonialismus fort, die darüber hinaus auf die Emanzipation der natürlichen Umwelt des Menschen ausgeweitet wurde.

 

Bei Franziskus jedoch geht es um die Konstitution der Ethik. Er sagt:

 

Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. (Nr. 57)

 

Der Gott, den Franziskus wahrnimmt, ruft den Menschen zur Befreiung von jeder Art Sklaverei. Damit ruft er zur Emanzipation auf. Aber er proklamiert kein Gesetz zur Emanzipation und verfasst auch keine gesetzliche Verpflichtung zu dieser Emanzipation. Im Gegenteil. Dieser Gott ruft den Menschen selbst zu seiner vollen Verwirklichung auf und in diesem Sinne zur Selbstverwirklichung. Es handelt sich nicht mehr um eine heteronome Ethik, sondern um eine autonome Ethik. Es geht auch nicht um eine Selbstverwirklichung, wie Nietzsche sie proklamierte, sondern ganz im Gegenteil. Die hier gemeinte Selbstverwirklichung ereignet sich, wo alle Menschen von jeder Art Sklaverei frei werden. Dazu ruft Gott auf. Er ordnet sie nicht an. Er will wachrütteln. Diese Selbstverwirklichung ergibt sich aus einem Emanzipationsprozess. Der Sklavenbesitzer emanzipiert sich selbst, wenn er die Sklaven in die Freiheit entlässt. Möglicherweise werden die Sklavenbesitzer die Befreiung der Sklaven nicht als Selbstverwirklichung interpretieren. Höchstwahrscheinlich möchten sie ihre Selbstverwirklichung im Willen zur Macht, wie Nietzsche ihn proklamierte, zu realisieren suchen. Dann aber würde die Selbstverwirklichung, die Franziskus vorschwebt, dazu auffordern, den Konflikt zu wagen. Hier wird der Gott sichtbar, der den Primat des Menschen sichert.

 

Franziskus orientiert sich auf seine Weise an der modernen Emanzipationsidee des Menschen. Er ersetzt den Gott, der wie ein Despot mit absoluter Legitimation die Durchsetzung seines eigenen Willens erzwingt, durch einen Gott, der den Menschen selbst dazu aufruft, einen behutsamen Primat für das Universum wahrzunehmen. Hier haben wir es mit einem schwachen Gott zu tun, dessen Schwäche aber - wie Paulus sagt (1 Kor 1,25) - stärker ist als die Menschen.

 

Franziskus beendet seine Reflexion mit höchst eindrucksvollen Bemerkungen über Krieg und Frieden, weil der Friede am wirksamsten das Gemeinwohl zur Geltung bringen kann:

 

Heute wird von vielen Seiten eine größere Sicherheit gefordert. Doch solange die Ausschließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. (Nr. 59)

 

Hier bringt Franziskus seine Überzeugung zur Sprache, dass das System sich selbst demontiert und dem Tod verfällt, wenn es sich nicht erneuert:

 

Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleichheit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes Böses immer ein Potenzial der Auflösung und des Todes. (Nr. 59)

 

An dieser fundamental notwendigen Konstruktion mitzuwirken, hält Franziskus für einen unverzichtbaren Ausgangspunkt dessen, was er als sein Hauptanliegen bezeichnet: Die Evangelisierung. Die Evangelisierung steht zwar in engster Verbindung zur Verheißung des Reiches Gottes. Aber Franziskus behauptet nicht, dass menschliches Handeln selbst das Reich Gottes herbeiführen könne. Worauf er hofft, das beschreibt er mit folgenden Worten:

 

Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig machen. (Nr. 176)

 

Es geht ihm darum, die allumfassende Verheißung des Reiches Gottes präsent zu halten, nicht als eine Wirklichkeit, die durch eigene Anstrengung des Menschen realisiert wird, sondern vielmehr als regulative Idee, die präsent gehalten wirksam werden kann.

 

Ich halte es für erforderlich, dass auch das marxsche Denken sich einer solchen Reflexion stellt. Marx arbeitet mit einem Zielbegriff, den er anfangs als Kommunismus bezeichnet, später aber eher als "das Reich der Freiheit" bezeichnet. Hier gilt das Gleiche wie beim Reich Gottes. Beide Vorstellungen haben Ziele vor Augen, die nicht realisierbar sind. Für Marx gilt, dass das Reich der Freiheit nur verwirklicht werden kann, wenn Warenbeziehungen und Staat abgeschafft worden sind. Die irdischen Götter sind dann beseitigt, wenn Markt und Geld abgeschafft sind. Die Geschichte des historischen Sozialismus hat jedoch bewiesen, dass diese Abschaffung unmöglich ist. Eine Gesellschaft ohne Markt und Geld ist denkbar, aber nicht realisierbar. Folglich ist der Mensch ständig mit dem Problem konfrontiert, die irdischen Götter - in der Sprache von Karl Marx: die Fetische - durch seinen Widerstand in die Schranken zu weisen. Definitiv abschaffen lassen sie sich nicht. Also müsste auch das Reich der Freiheit, wie Marx es verstand, als regulative Idee betrachtet und behandelt werden[21].

 

Die Vorstellung der "regulativen Idee" stammt von Kant, hat bei ihm jedoch eine andere Bedeutung als in unserem Zusammenhang. Bei Kant bezieht sie sich auf Inhalte der Sprache. In unserem Zusammenhang geht es jedoch um eine Leitidee fürs Handeln. Für Kant hätte eine solche Bedeutung keinen Sinn, da sich für Kant alle Ethik nur auf abstrakte Normen beschränkt. In unserem Zusammenhang jedoch geht es gerade darum, die formale Ethik Kantscher Art zu "regulieren". Dieses Problem tauchte zuerst bei Paulus auf und wurde im 19. Jahrhundert von Marx wieder betont.

 

 

 

Der Standpunkt der Analyse

 

Wir haben hier überraschende Parallelen zwischen der Idolatrie- bzw. Fetischismus-Kritik von Karl Marx und der von Papst Franziskus bemerkt. Darüber hinaus gibt es aber auch grundsätzliche Differenzen. Jedoch sind diese Differenzen nicht notwendig als Gegensätze zu verstehen, sondern eben als Unterschiede, wie das Wort sagt.

 

Damit kann ich ein Marx-Zitat wieder aufgreifen, das ich bereits zu Beginn kommentiert habe. Marx sagt dort, dass die “Philosophie” ihren

“Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter (setzt), die das menschliche Selbstbewußtsein  nicht als die oberste Gottheit (später: den Menschen als höchstes Wesen für den Menschen) anerkennen ”.[22]

 

Der Logik seiner Argumentation folgend muss Marx die Geltung des Spruchs beschränken. Der Spruch wird nicht unterschiedslos über alle Götter gefällt, sondern nur über jene Götter, die den Menschen nicht als höchstes Wesen für den Menschen anerkennen. Damit lässt er einen Raum offen, den andere besetzen können, ohne daran von Marx gehindert zu werden.

 

Papst Franziskus stellt sich den Gott vor, der diesen Platz besetzt. Er entwirft ein Bild von dem Gott, der den Menschen dazu aufruft, sich selbst zu verwirklichen, indem er sich von allen realen menschlichen Versklavungen befreit und den Konflikt mit ihnen wagt. Franziskus entwirft ein solches Bild, wenn er den Primat des Menschen reklamiert und folglich beteuert, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Er setzt den Gott ab, der als legitimer Despot das gesamte Mittelalter beherrscht hatte. An dessen Stelle tritt Gott als Mitarbeiter, als compañero, der unterstützt und sogar wirkt wie ein Komplize, aber ebenso der Gott des kategorischen Imperativs von Marx.

 

Nun müsste man danach fragen, welches die Gründe für diese Übereinstimmungen und Parallelismen sind. Das hat zu tun mit der Art und Weise, wie man sich der Realität stellt. Der Umgang mit der Realität bestimmt und prägt auch die Ergebnisse der Analyse. Weil jeweils die Analyse vom Standpunkt der Verachteten und Erniedrigten in der Gesellschaft aus vorgenommen wird, führt sie zu ähnlichen Ergebnissen. Wenn man einen solchen Standpunkt einnimmt, wird man zur Analyse der Idolatrie von Markt, Geld und Kapital geführt, und zwar unabhängig von der Herkunft des Analytikers, ob Marx oder Papst Franziskus. Beide nehmen den Standpunkt des Menschen als "eines erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlichen Wesens" ein. Wer aus diesem Blickwinkel die Realität anschaut, kommt zu ähnlichen Resultaten.

 

Franziskus selbst spricht auf folgende Weise darüber:

 

Das Wort „Solidarität“ hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.  (Nr. 188)

 

 Übersetzung: Norbert Arntz

 



[1] Agamben Interview mit Ragusa-News 16.8.2012: http://partidopirata.com.ar/2012/09/10/dios-no-murio-se-transformo-en-dinero-entrevista-a-giorgio-agamben/ http://www.ragusanews.com/articolo/28021/giorgio-agamben-intervista-a-peppe-sava-amo-scicli-e-guccione /

[2] Columbus, im Brief aus Jamaica, 1503. - Karl Marx, Das Kapital Bd. I. MEW, Band 23, Berlin 1968,S. 145

[3] "Es geschah, dass ein Häuptling alle seine Leute zusammenrief. jeder sollte an Gold mitbringen, was er hatte, und alles sollte dann zusammengelegt werden. Und er sagte zu seinen Indianern: Kommt, Freunde, das ist der Gott der Christen. Wir wollen also etwas vor ihm tanzen, dann fahrt auf das Meer da und werft es hinein. Wenn sie dann erfahren, dass wir ihren Gott nicht mehr haben, werden sie uns in Ruhe lassen." - zitiert in: G. Gutierrez, Gott oder das Gold. Freiburg 1990. S. 197

[4] Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Auflage, 1991, Bd. VI, S. 100 – 102.

[5] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, I, 385.

[6] Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie.Vorrede. Marx Engels Werke.  Ergänzungsband. Erster Band. S. 262

[7] MEW, 3. Bd, Berlin 1968, S.26

[8] Marx, Karl: Das Kapital, Bd. I, Zweiter Abschnitt,, MEW, Band 23, Berlin 1968, S. 189

[9] Weber, Max: Schriften 1894 – 1922. Hrsg. Dirk Kaesler, Stuttgart 2002 (Kröners Taschenbuchausgabe; Band 233, S. 502

[10] siehe oben FN 6 liberación/Exodus. Freiburg (Schweiz)/Münster 1985

[11] Karl Mark, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 385

[12] Kommunistisches Manifest, MEW, Band 4, 6. Auflage 1972, Berlin/DDR. S. 482

[13] Marx, Karl, Das Kapital, Bd. I, S, S. 740, MEW Bd. 23 Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968

[14] Kapitel 19 - Vierter Aufzug. Erste Szene

[15] Vgl. Hinkelammert, Franz J.: Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens. Münster 1989

[16] Hinkelammert, Franz J.:  "Die Wachstumsrate als Rationalitätskriterium", in Osteuropawirtschaft, 1963, Heft l.

[17] s.o. FN 11

[18] Papst Franziskus: Ansprache an die neuen Botschafter vom 16. Mai 2013, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2013/may/documents/papa-francesco_20130516_nuovi-ambasciatori.html;
Papst Franziskus: Nachsynodales Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium vom 24.
Nov. 2013; http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html

[19] s.o. FN 14

[20] Die Dreigroschenoper (Druckfassung 1931), III, 9 (Mac). In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Erster Band: Stücke 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997. S. 267[

[21] s. Hinkelammert, Franz J.: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus, edition liberación/Exodus. Freiburg (Schweiz)/Münster 1985

[22] Marx, Karl: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie.Vorrede. Marx Engels Werke.  Ergänzungsband. Erster Band. S. 262

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